Treffsicherheit

CN: Blut, Transfeindlichkeit von der übelsten Sorte, misgendern, Sex - erwähnt, reden über ein Massaker, Gaslighting ?, Vor Leute spucken - erwogen, Fäkalien, Ekel.

Mazedoge war eine schon vom Weiten beeindruckende Insel. Sie war wahrscheinlich ähnlich groß, wenn nicht größer als Angelsoge. Sie war außerdem gebirgig. Von weitem erkennbare Prunkbauten wie Torbögen ragten aus den bewaldeteten Hängen. Die Hauptstadt zog sich um eine Bucht, von dort ins Landesinnere hinein bis tief in die Berge darum herum hinauf.

Sie steuerten den Sitz der Monarchie an und segelten dazu an der Hauptstadt vorbei. Sie hatten beschlossen, die Jagd nach dem Igeldings erst nach der Sitzung wieder aufzunehmen. Unter anderem auch, weil es ja möglich wäre, dass sich beides in einem machen ließe. Schließlich, wie Lilið kürzlich von den anderen erfahren hatte, gehörte das Igeldings quasi auch zum Schatz der Monarchie und könnte an Königin Stern oder andere königliche Leute bei so einer passenden Gelegenheit wie dieser Versammlung abgegeben worden sein. Oder bald abgegeben werden.

Es mangelte auch dem Hof der Monarchie, ehemals Sitz von König Sper, nicht an Größe und Prunk. Er mochte mit der Ausdehnung einer kleinen Hafenstadt mithalten, wenn auch die Gebäude größere Abstände zueinander hatten und weniger auf Zweckdienlichkeit ausgelegt waren als sie es vielleicht in einer Stadt sein mochten. Die Häuser auf dem mit bunten Pflanzen übersähten Gelände wirkten allesamt so edel – höchstens etwas kleiner – wie das Gebäude, in dem der Angelsoger Adelsball stattgefunden hatte. Der Komplex war von einer gelben Mauer eingefasst, die sich zum Hafen hin öffnete. Der Hafen bestand aus einem größeren Teil, in dem schon ein paar Kagutten lagen, und einem kleineren, der für Yachten und Jollen gedacht war. Beide Hafenteile waren bewacht. Drude informierte sie, dass die Anzahl der Wachen im Vergleich zu sonst bei ähnlichen Veranstaltungen ganz schön dezimiert war. Den Uniformen nach zu urteilen gehörten nicht alle zum Königreich Sper. Marusch, Heelem und Lajana erkannten einige, die zu ihrer Königsfamilie gehörten, und Drude meinte einige Uniformen Königreich Dornrose zuordnen zu können. Jene anders uniformierten Wachen standen allerdings alle an der Einfahrt zum größeren Hafen, aufgereiht nebeneinander mit breitem Stand und die Hände in den Hosen- und Rocktaschen, wie es ein selbstbewusstes Auftreten nach aktueller Etikette verlangte.

Sie wurden an der Einfahrt zum kleinen Hafen von zwei Wachen in mazedoger Uniform aufgehalten. Lilið fühlte eine leichte Taubheit in sich, die sie von ihrer Gefangenschaft in der Zentral-Sakrale ausgelöst durch Wache Luanda kannte. Sie war nicht gefaltet. Niemand von ihnen wandte Magie an, aber eine der Wachen, das spürte Lilið, wäre im Stande gewesen, dagegen anzugehen, und testete gerade, ob es nötig wäre.

“Grund der Anreise?”, fragte die kleinere der beiden Personen.

“Versammlung der Orakel und der Monarchie.”, sprach Heelem. Er war der Kapitän, also war es seine Aufgabe. “Und Vorabtreffen mit Königin Stern.”

Die Wache nickte. “Wir müssen eure Identitäten prüfen. Wer seid ihr? Sind alle von euch an Deck oder befinden sich noch Personen unter Deck?”

Wenn die Wache so gut war wie Drude, wusste sie, dass sie alle an Deck waren, dachte Lilið.

“Wir sind alle an Deck.”, teilte Heelem mit.

Eine Windböe griff in das noch nicht geborgene Segeltuch, sodass es schlug. Drude stabilisierte die Teeseufel im Wasser, indem dey die Wellen darum herum sortierte. Vielleicht tat dey es unauffällig genug, dass es den Wachen nicht auffiel. Sie taten jedenfalls nichts dagegen.

Heelem sprach weiter, als es wieder leiser war. “Die Prinzessinnen Stern, namentlich Prinzessin Lajana und Prinzessin Marusch. Lilið von Lord Lurch, Nautika, auch bekannt als der Blutige Master M. Drude aus Belloge, freie Wache, Informantika und Transmagika. Und meine Wenigkeit: Heelem, Nautika, ehemals im Dienst der Garde von Königin Stern.”

Heelem stellte sie eigentlich relativ gelassen vor, aber es war für Lilið trotzdem ein unbeschreiblich mächtiges Gefühl, hier in dieser Konstellation vorgestellt zu werden. Besonders, dass sie auch als Nautika vorgestellt worden war, fühlte sich ermächtigend an.

Die Wache stutzte. Ihr Blick wanderte über die Besatzung und blieb an Drude hängen. “Prinzessin Marusch?”, fragte sie.

Heelem seufzte und deutete mit nach oben geöffneter Hand auf Marusch. “Das ist sie. Du kennst sie vielleicht unter einem anderen Namen. Den alten Namen solltest du tunlichst vergessen.”

Die Wache nickte und musterte nun Marusch. Hatte sie vorher für am wahrscheinlichsten gehalten, dass Drude Marusch wäre, weil dey so groß und stabil gebaut war? Lilið fiel ein, dass der Wache vermutlich nur Drudes und Maruschs Gesicht unbekannt waren. Sie wirkte hilflos. Wieder schlug das Segel einige Male hin und her.

“Ihr seid nicht darauf vorbereitet, dass das passiert?”, fragte Heelem, als es wieder leiser wurde.

“Doch natürlich.”, behauptete die Wache, aber die andere schüttelte den Kopf. Sie blickten sich kurz an, dann sprach die andere: “Wir haben den Auftrag, eure Identitäten zu überprüfen, weil viele Gerüchte über Betrügende im Umlauf sind, die die Identitäten von Personen übernehmen, um in deren Namen Verbrechen zu begehen. Aber wenn ihr seid, wer ihr behauptet, wäret ihr in der Übermacht und könntet die verlangte Überprüfung ausschlagen. Das macht die Lage für uns schwierig.”

Marusch nickte. “Es gehört sich auch nicht, wenn keine komplexere Situation vorliegt, Königliche zu kontrollieren.”

Die zweite Wache nickte. “Genau. Das bringt uns in eine Konfliktsituation.”

“Warum erzählst du das alles?”, raunte die erste Wache der zweiten zu.

“Ich habe den Eindruck, Offenheit führt uns in dieser Situation am weitesten.”, murmelte die andere zurück.

Marusch lächelte. “Führt gern die Identitätsprüfung durch. Wir haben uns im Vorfeld darüber unterhalten, dass der Fall eintreten kann, und gemeinsam entschieden, euch die Situation nicht zu erschweren.”

Auf einen einladenden Wink Heelems hin schwang sich die zweite Wache an Bord, um ihr Blut gegen Seiten in einem Buch gegenzuprüfen, dass sie mit sich führte. Die Einschnitte waren so papierdünn, dass sie sich wieder schlossen, noch bevor die Wache Heilmagie ausführte.

Es ging relativ zügig. Trotzdem bemerkte Lilið, wie Lajana auf ihrem Platz zusammensank, sich dann aber, als die Reihe an ihr war, zusammenriss und sich besonders aufrichtete. Der lange Zopf der Wache flog um sie herum, als sie wieder von Bord sprang. “Willkommen auf Mazedoge. Ihr könnt einfahren. Der erste Liegeplatz am Hauptsteg ist euer.”

Heelem verlor keine Zeit, das Zeichen zu geben, dass Lilið das Segel dicht holen möge. Mit einem Geräusch wie Papier, das in eine Form schlägt, nur lauter, füllte es sich mit Wind und sie segelten in den Hafen. Es war nicht viel Segelfläche und trotzdem waren sie für ein Anlegemanöver ziemlich schnell. Lilið benötigte alle Konzentration, um im rechten Moment die vorbereiteten Palsteks über die Pfeiler zu werfen. Der erste Liegeplatz war luxuriös am Rand des Hafenbeckens gelegen. Sie knoteten Fender aus weichem Material außen an die Reling, damit der Rumpf nicht an der Kaimauer scheuern würde. Anschließend konnten sie einfach zur Seite aussteigen. Ein gepflasterter Weg aus gelben, abgerundeteten Steinen führte vom Hafen einen Wiesenhang hinauf zu einem großen Besuchshaus für Höherranginge, das sie anstrebten. Lajana schritt voraus, Marusch dicht hinter ihr. Sie alle, außer Lajana, trugen Matrosinnenkleider, die sie ab nun Seefahrtskleider nennen wollten. Lilið erinnerte sich mit einem Schmunzeln daran zurück, wie die Einigung auf ihre Kleidung verlaufen war. Marusch hatte beschlossen, ein solches Kleid zu tragen, weil sie es antiautoritär fand, als Prinzessin im Seefahrtskleid zu kommen. Drude hatte mitgezogen, und Lilið und Heelem hatten etwa zeitgleich mit den Schultern gezuckt und gesagt ‘Okay, ich mache mit’. Nur Lajana trug ein langes, lavendelfarbenes Kleid. Marusch und Heelem hatten weitsichtig für den Fall, dass sich öffentliche Auftritte ergäben, eine kleine Garderobe für sie in der Teeseufel untergebracht.

Wieder fühlte Lilið diese Mächtigkeit, diese epische Unbeugsamkeit ihrer Gruppe, wie sie gemeinsam dem Besuchshaus entgegen schritten und davor stehen blieben, als aus dem Eingang einige hochrangige Personen hervortraten. Niemand von ihnen beugte das Haupt.

Eine bedienstete Person trat vor und stellte sie alle trocken einander vor. Sie fing mit ihrer Fünfergruppe an, verwendete dafür Heelems Worte und benutzte für Marusch sogar ihren Namen. Lilið entging dabei das Stirnrunzeln auf Königin Sterns Gesicht nicht. Sie kannte ihr Gesicht von Zeichnungen aus Zeitungen und Aushängen, aber in Echt wirkte es gestresster. Damit hatte Lilið gerechnet. Wer sich freiwillig in Zeitungen abbilden ließ, wirkte auf entsprechenden Bildern immer entspannter als in Echt.

Die Person neben Königin Stern wurde ihnen als Königin Dornrose vorgestellt. Hinter ihnen stand der ehemalige König Stern und die Verlobte von Königin Dornrose. Etwas abseits stand eine Sakralet. Sie bekamen in diesem Rahmen alle mit Namen vorgestellt, aber Lilið konnte sie sich nicht so schnell merken. Anschließend wurden sie durch einen mit Ranken verhangenen Torbogen in einen Garten hinter dem Haus geführt, wo sie an einer großen Tafel platznahmen. Es gab Obst zum Essen. Eine vollständige Mahlzeit würde es in ein paar Stunden geben. Königin Stern informierte sie darüber, was es für Obst gab, woher es kam und welche Qualität es hatte. Es strengte Lilið jetzt schon an, ihr zuzuhören, weil ihr die meisten Informationen reichlich redundant vorkamen. Sie konnte selbst sehen, welches Obst es gab. Sie versuchte, nicht so hart zu sein. Sie wusste, dass sie Königin Stern gegenüber inzwischen voreingenommen war. Es war auch nichts Schlimmes, über unwichtige Dinge zu reden.

Königin Dornrose wirkte, als würde sie dieses Gespräch eine Weile aus Höflichkeit mitführen, aber als sich die erst beste Gelegenheit ergab, das Thema zu wechseln, tat sie es. “Ich finde es eine spannende Entwicklung, euch als Gruppe zusammen kommen zu sehen. Wie kam es dazu? Woher kennt ihr euch?”

Lilið lächelte, goss sich Saft ein und verdünnte ihn mit Wasser. Sie fand die Frage sehr gut und berechtigt und beabsichtigte das Antworten andere übernehmen zu lassen.

“König Sper hat mich entführt, und die sind alle gekommen, um mich zu retten.”, berichtete Lajana. “Dabei haben sie sich kennen gelernt. Manche schon vorher.”

“Meine Kleine, es ist lieb, dass du antwortest, aber Ðinda möchte sicher vor allem etwas über dieses Vorher erfahren.”, erklärte Königin Stern. “Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich dich immer noch ‘Kleine’ nenne.”

“Nein.” Lajanas Gesicht versteinerte.

“Ich meine das nicht im Altersinne. Marusch ist einfach größer als du.”, verteidigte sich Königin Stern. Es sollte vielleicht beruhigend klingen. Aber Lilið machte es eher wütend.

“Sie hat jedenfalls recht.” Königin Dornrose, die Königin Stern gerade Ðinda genannt hatte, lächelte Lajana freundlich an. “Wer von euch kannte sich schon zuvor?”

“Heelem ist mit Marusch und mir großgeworden.”, sagte Lajana.

Das, vermutete Lilið, war auch nicht die richtige Antwort.

“Lilið und ich haben uns bei ihr im Haus kennen gelernt, als ich dort aus Gründen, die ich nicht weiter ausführen werde, eingebrochen bin.”, berichtete Marusch. “Wir sind wenig später im Rahmen ihrer Ausbildung zum Nautika zwei Wochen gemeinsam auf einer Jolle gereist. Die zwei Wochen endeten damit, dass wir von Lajanas Entführung erfahren haben. Beim ersten Versuch, Lajana zu retten, geriet leider nur Lilið auf die Kagutte der Entführenden.”

“Zum Glück!”, korrigierte Königin Stern. “Dir hätte sonst etwas passieren können!” Leiser fügte sie hinzu: “Es wäre von Vorteil, wenn du nicht von deinen moralischen Eskapaden wie Einbrüchen bei bekannten Adelsfamilien oder Sex in der Öffentlichkeit erzählst. Auch ein ordentlicher Aufzug wäre eine gute Idee gewesen, angesichts der Tatsache, dass immer noch eine Möglichkeit besteht, dass du zusammen mit Lajana eine Regierung des Königreichs Stern bilden kannst. Ich weiß, du möchtest nur nichts unter den Tisch kehren, aber deine Darlegungen über dein unmoralisches Verhalten können von Menschen, die dich nicht gut kennen, in einer Weise missinterpretiert werden, dass du immer noch stolz auf dein Verhalten von damals wärest.”

Richtig: Lilið erinnerte sich daran, dass Marusch zu ihrer Krönung beim Sex in der Öffentlichkeit erwischt worden war. Sie grinste, weil sie es heute ganz anders einrordnete. Vielleicht, wenn Marusch sie heute fragen würde, ob sie am Tag ihrer Krönung als Akt eines größtmöglichen Statements von Ungehorsam mit ihr Sex in der Öffentlichkeit haben würde, würde sie nicht nein sagen.

Marusch hatte die Finger, mit denen sie gerade ein klebriges Stück Obst gegessen hatte, zu ihrem Kragen bewegt, vielleicht, um sie dort abzuwischen, aber senkte die Hände unverrichteter Dinge wieder. “Mit Lajana regieren.”, wiederholte sie. “Das ist neu.”

“Du liebst deine Schwester, nicht wahr?”, fragte Königin Dornrose.

Marusch hob eine Augenbraue. “Offenkundig.”, sagte sie. “Warum hört sich das wie eine Drohung an, oder zumindest wie eine Vorbereitung auf eine?”

“Das muss falsch rübergekommen sein.”, versicherte Königin Dornrose rasch. Sie sprach sehr sanft und deutlich. “Wir kennen uns kaum, und schon stehen Verständnisschwierigkeiten zwischen uns. Ich habe, zugegeben, nicht das beste Bild von dir und du vielleicht auch nicht von mir. Aber ich gehöre zu den Leuten, bei denen der erste Eindruck überschrieben werden kann. Ich würde dich gern besser kennen lernen. Die Öffentlichkeit zeichnet das Bild eines Jungspundes und Luftikusses von dir, der seine Pflichten nicht ernst nimmt und sein königliches Prestige dazu ausnutzt, Frauen aufzureißen und unbehelligt kriminelle Akte zum Spaß auszuüben. Wettrennen, Lustvergnügen, bloß nicht Verantwortung fürs eigene Handeln übernehmen. Und doch bist du hier. Das bereits widerspricht diesem Bild der Öffentlichkeit. Sobald es um deine Schwester geht, nimmst du eine geradere Haltung ein. Dein Blick wird offener. Kann es bedeuten, dass dein ganzes Verhalten bisher ein seltsamer und undurchschaubarer Versuch war, deiner Schwester den Rücken zu stärken?”

“Das habe ich dir doch die vergangenen zwei Tage versucht zu erklären!” Königin Stern wirkte ungeduldig.

“Das hast du, und ich möchte nun von deinem Kind hören, ob du ihm Worte in den Mund gelegt hast, oder ob sie dahinter steht.” Königin Dornrose hatte kurz gezögert, bevor sie das Pronomen ‘sie’ betont ausgesprochen hatte.

“‘Sie’ ist richtig.”, sagte Marusch.

Maruschs Einwand brachte Lilið dazu, ihre erste Interpretation, dass es sich um eine Form von Abwertung gehandelt hätte, neu zu überdenken. Vielleicht war die Betonung ein Zeichen von Königin Dornroses Unsicherheit gewesen.

“Kind!”, ermahnte Königin Stern. “Wir können das in unserer Familie machen. Aber du kannst die Welt nicht verändern, nur weil du dich weiblich fühlst oder so etwas. Es verunsichert Menschen und fühlt sich für sie unbehaglich an. Du kannst nicht erwarten, dass eine Königin eines anderen Landes bei der Sache mitmacht. Ich stehe hinter dir, das weißt du. Aber hier geht es um Politik und die Zukunft unserer Inseln. Das ist kein Raum, wo du deine Sexualität an die große Glocke hängen kannst, das hat mit Regierung nichts zu tun.”

“Doch, sie kann das erwarten.”, widersprach Königin Dornroses Verlobte. “Wir benutzen ‘sie’. Das ist eine Selbstverständlichkeit.”

Königin Dornrose machte eine Geste zu ihrer Verlobten und nickte. “Mach dir keine Sorge, Jelenika. Das macht uns keine Umstände.”

Während Liliðs Inneres gerade noch vor Wut gebrannt hatte (von wegen ‘Ich stehe hinter dir, das weißt du.’), fühlte sie nun jähe Hoffnung, dass Allil mit ihrer Einschätzung unrecht gehabt haben könnte und Königin Dornrose Marusch anerkannte als was sie war.

“Ich mache mir keine Sorgen.”, versicherte Königin Stern. “Ich wollte in dieser Runde so Persönliches außenvor lassen. Sexualität geht niemanden etwas an.”

Je eine Hand von Königin Dornrose und ihrer Verlobten wanderten wie beiläufig auf den Tisch, wo sich ihre Finger ineinander verschlangen. “Niemand muss, alle dürfen.”, murmelte die Verlobte. Und noch leiser raunte sie: “Sexualität ist was anderes.”

“Jedenfalls!”, sagte Königin Dornrose und es war deutlich, dass sie damit einem weiteren Verteidigungsversuch Königin Sterns zuvorkam. “Ich wüsste gern von Marusch, was sie von einer Doppelregentschaft hält, bei der ihre Schwester Königin ist und Marusch sie berät, sowie die Garde koordiniert.”

“Die Garde?”, fragte Marusch.

“Ja.” Es war das erste Mal, dass sich die Sakralet zu Wort meldete. Ihre Stimme war dünn. “Die Orakel haben damals über Marusch bestimmt, dass ihr als Königsperson ein großes Inselreich zugeordnet werden würde. Ich lasse das gerade so vage, weil die Prognosen darüber, wie viel sinnig wäre, derzeit auseinandergehen und von bestimmten Informationen abhängen, die wir derzeit noch nicht haben. Die Zuordnung baut, wie stets, auf Hochrechnungen der Gewinnchancen in Kriegen auf. Wenn wir also von dem Prinzip abweichen, dass die Person, die selbst die größte Schlagkraft hat, das Land regiert und ein Zweiergespann in unseren Hochrechnungen zulassen, dann wäre es nur allzu sinnvoll, die Person mit dem hohen Skorem im Team auch die Garde organisieren und befehligen zu lassen. Das Bundesorakel bespricht diese neue Möglichkeit derzeit.”

“Und wenn all deine Eskapaden eigentlich nur eine verschlüsselte Botschaft waren, dass du deine Schwester liebst und unterstützen möchtest, kann das eine Regierungsform werden, auf die ich mich einlassen würde.”, fügte Königin Dornrose hinzu. Sie klang wohlwollend.

“Du wolltest ein ehrliches Gespräch, Ðinda, und mir liegt daran, einmal die unausgesprochenen Gedanken offen auf den Tisch zu legen, die eine Rolle für dein Zugeständnis spielen.”, mischte sich Heelem ins Gespräch ein.

Königin Dornrose lächelte. “Von dir hätte ich nichts anderes erwartet.”, sagte sie. “Und du hast recht, dass ich mich in alter Manier diplomatisch ausgedrückt habe. Natürlich weiß ich, was es für mich bedeutet hätte, wäre Marusch vor zwei Jahren gekrönt worden. Und natürlich weiß ich, dass meine Darstellung, dass es meinerseits ein großzügigegs Zugeständnis an Marusch und ihre Schwester wäre, sie als Team regieren zu lassen, geschönt rüberkommen mag.”

Lilið fragte sich, ob sie verstand, worum es ging, und runzelte die Stirn. Aber etwas anderes fing ihr zunehmend mehr an, unangenehm zu sein: Über Lajana wurde geredet, als wäre sie gar nicht dabei.

“Ich möchte es gern der Klarheit halber aussprechen.”, sagte Heelem. “Wenn Marusch vor zwei Jahren einer Krönung zugestimmt hätte, wäre dein Inselreich nun viel kleiner, weil Marusch davon mindestens die Randinseln zugesprochen worden wären, wenn nicht mehr. Wenn das Bundesorakel für Marusch und Lajana vorherbestimmt, dass Marusch quasi die Garde regieren würde, dann wäre ein Nichtzustimmen eurerseits ein möglicher Kriegsgrund eines Krieges, bei dem ihr schlechte Karten hättet. Deine Entscheidung, Marusch und Lajana irgendetwas zuzugestehen, fußt nicht auf bloßem Wohlwollen, sondern auch auf dem Wissen, dass ihr mehr auf Augenhöhe regieren würdet, als du es gerade darzulegen versuchst.”

“Natürlich. Das tut mir leid.”, bestätigte Königin Dornrose. “Ich würde sehr gern auf Augenhöhe mit Marusch und ihrer Schwester regieren, sofern ich bei diesem Treffen herausfinde, dass Marusch durchaus eine Person ist, die politische Verantwortung übernehmen kann und die zukünftige sternsche Regierung einen feministischen Einschlag erleben wird. Mir ist sehr wohl bewusst, wo auch sonst mein Platz im Machtgefälle wäre, aber mir fällt andernfalls schwer, euch zu respektieren.”

Heelem lächelte. “Das ist eine Direktheit, die mir zusagt.”

Ein kurzweiliges Schweigen trat ein, in dem Lilið das Spektakel der Spantunken besonders wahrnahm, die in einem flachen Wasserbecken im Blumenbeet neben ihnen herumplanschten und aufgeregt durcheinanderfaselten, – in ihrer zwitschernden Sprache. Sie hatten sich zunächst von der Abe vertreiben lassen, die sich zur Abkühlung zu ihnen ins Becken gelegt hatte, aber nun, als Lil ruhig dalag, als würde sie zuhören, waren die kleinen, braungrauen Drachen zurückgekehrt. Lilið hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, ihren hibbeligen Lärm während des Gesprächs so restlos auszublenden.

“Ich soll also Befehlshaberin der Garde werden.”, fasste Marusch zusammen. Sie runzelte die Stirn ziemlich arg.

“Ja, das würde ermöglichen, was du immer wolltest: dass deine Schwester Königin wird.”, erklärte Königin Stern.

Marusch wandte sich Lajana zu und diese blickte skeptisch zurück. Sie wirkte, als würde sie nicht viel verstehen.

Marusch seufzte und richtete sich an die Versammlung. “Erstens, nein, das würde nicht ermöglichen, dass meine Schwester regiert. Es wäre nicht ihre Regierung. Darum geht es dir gar nicht, Muddern. Und dem Rest hier auch nicht. Sonst würde irgendwer hier mal wenigstens versuchen, mit ihr auch nur zu reden.”, sagte sie. Ihre Mutter wollte etwas einwenden, aber Marusch ließ sie nicht zu Wort kommen. “Und zweitens: Was an ‘Ich bin antiautoritär’ hast du nicht verstanden? Ich, eine Institution befehligen, die dazu da ist, eine Obrigkeit mit Gewalt zu verteidigen. Kennst du mich auch nur ein bisschen?”

“Nein, Kind, ich habe eigentlich schon lange das Gefühl, dass du dich total verändert hast und ich dich gar nicht mehr kenne. Aber bitte hör wenigstens zu Ende zu.” Königin Stern hob beschwichtigend eine Hand.

Die Worte, dass sie ihr Kind nicht kenne, taten Lilið überraschend weh. Sie wusste nicht warum. Sie entsprachen so offensichtlich der Wahrheit. Oder vielleicht auch nur fast: Vielleicht hatte Marusch sich nicht verändert, sondern war nun bloß offener darüber, wie sie wirklich war.

Marusch nahm einen Fuß mit auf die Sitzfläche und machte es sich auf dem Stuhl legerer gemütlich. “Gut.”

Vielleicht, überlegte Lilið, tat es so weh, weil es eigentlich nicht um die Frage ging, wie sehr Königin Stern Marusch wirklich kannte, sondern wie sehr sie sie kennen wollte, wie sehr sie Marusch in ihrer Vorstellungswelt zulassen würde, wie sie war.

“Wir haben nicht mehr viele Möglichkeiten und doch haben wir eine Chance, die es zuvor nie gegeben hat.”, erklärte Königin Stern. “Es war schon immer klar, dass Lajana nicht im Stande sein wird, zu regieren. So sehr es euer Wunsch war, hätte ihre Krönung bedeutet, Königreich Stern aufzugeben.”

Heelem hob eine Hand und unterbrach sie knallhart. “Wir haben in Wirklichkeit keine Ahnung, was möglich gewesen wäre, wenn wir es gewagt hätten, Änderung zuzulassen.”, sagte er. “Das, was jetzt als Möglichkeit in Aussicht steht, hättest du doch nie selbst erwogen, auch nur in den Raum zu stellen.”

“Nicht ohne Not, nein.”, bestätigte Königin Stern. “Politik und Diplomatie ist schwieriger, als ihr es euch vorstellt. Ich habe stets versucht, es allen Recht zu machen und möglichst so zu regieren, dass es keinen Anlass für Kriege gibt. Oder wollt ihr Krieg?”

Marusch runzelte die Stirn abermals. “Und nun wäre aus deiner Sicht irgendwie nicht mehr die beste Strategie gegen Krieg, dass ich gekrönt würde, sondern stattdessen, dass ich die Garde anführte?”

“Dazu wollte ich gerade kommen.”, setzte Königin Stern wieder ein. “Ich weiß nicht, was in der Zentral-Sakrale passiert ist und wer dabei war. Es ist bekannt, dass die Blutige Mistress M, also du,”, sie deutete auf Lilið, “zum Zeitpunkt des Massakers in der Zentral-Sakrale gefangen gehalten worden ist. Ihr traut die Bevölkerung eine solche Tat zu.”

Lilið schnaubte grinsend. Das tat die Bevölkerung auch nur wegen zuvor passend gestreuter Falschinformationen über sie. Es war so absurd, dass sie sich nicht einmal über das zugewiesene ‘Mistress’ aufregte.

“Es gibt Gerüchte, dass du, mein Kind, in der Zentral-Sakrale erwartet worden bist.”, fuhr Königin Stern fort, ohne auf Lilið einzugehen. “Und allein, dass das ehemals spersche Volk für möglich hält, dass du dahinter stecken könntest, führt dazu, dass es ein Frieden sicherndes Zugeständnis wäre, nicht dich zu krönen. Damit du in einer so hohen Position wie als Führung der Garde akzeptiert wirst, muss natürlich trotzdem offiziell widerlegt sein, dass du das Massaker verübt hättest.”

“Also möchtest du hier entscheiden, dass ich das Massaker verübt hätte?”, fragte Lilið.

“Das hätte politisch für die Stabilität der Monarchie Vorteile.”, hielt Königin Stern fest. “Und das sage ich nicht, weil ich meine Familie nicht entmachtet sehen möchte. Das ist natürlich auch der Fall. Aber stellt euch die Alternative mal vor: Nur noch zwei Königsfamilien, die regieren, und die über Vasallschaften die viele Arbeit koordinieren. Das bedeutet auf der einen Seite mehr Machtmonopol und auf der anderen eine destabilisierende Systemumstellung, weil völlig unerfahrenen Personen für sie zunächst zu große Aufgaben zugeordnet werden. Die Instabilität ist keine, die unseren Inseln gut tun wird.”

So sehr sich Liliðs Inneres gegen ihre Worte wehrte, sie konnte Königin Sterns Argumente nicht völlig von der Hand weisen. “Ihr wollt mir den Hammer also gleich mit in den Schuh schieben.”, murmelte sie.

Marusch lachte schallend auf. “Ich liebe dich für diesen Spruch!”

Drude schnaubte und selbst Königin Dornrose und ihre Verlobte lächelten milde amüsiert.

“Übrigens wäre diese Vertuschung ein Spielzug, den ich nicht schätze, aber akzeptieren würde.”, hielt Königin Dornrose fest. “Ich bin allerdings persönlich nicht davon überzeugt, dass die Systemumstellung so ungute Folgen hätte. Natürlich hat Königin Stern Recht damit, dass ihr alle unerfahren seid.” Königin Dornrose deutete mit elegant ausgestreckter Hand auf Lilið und Drude. “Aber auf der anderen Seite seid ihr Frauen und habt Erfahrungen, die wir dringend in Führungspositionen brauchen. Kurz runtergebrochen. Ich halte darüber gern einen längeren Vortrag.”

“Ich bin keine Frau.”, informierte Lilið. “Ich fände auch gut, nicht blutige Mistress M genannt zu werden. Master oder Mastress oder so etwas wäre mir lieber.”

“Du kannst natürlich auch als Nicht-Frau die Regierungsaufgabe bekommen, aber der einfachheithalber würde ich trotzdem von Frauen in Führungspositionen reden und dich mitmeinen.” Königin Dornrose lächelte freundlich.

Lilið schüttelte den Kopf. “Das halte ich nicht für zu Ende gedachten Feminismus.”

“Ich verstehe.”, sagte Königin Dornrose. “Aber das Volk wird das nicht verstehen. Wir werden einen Schritt nach dem anderen gehen müssen. Und am Ende ist es ja auch einfach so, dass du wegen dem, was dir bei Geburt zugewiesen worden ist, als Nicht-Mann benachteiligt bist. Und wenn du ein Mann wärest, wärest du wieder bevorteilt. Wenn du dir Marusch zum Beispiel ansiehst, hätte sie gekrönt werden können, obwohl sie jünger ist als Lajana, und ist Frauen gegenüber also im Vorteil, die von Anfang an für welche gehalten wurden. Und wärest du ein Mann, so würdest du die Schwierigkeiten, die Frauen im Leben haben, nicht richtig verstehen können, selbst wenn du für eine gehalten würdest. Das ist einfach so.”

“Wir werden nicht übereinkommen.”, sagte Lilið. “Ich bekomme gerade den Eindruck, du hast keine Ahnung, wie unser Leben aussieht, weil wir nicht einfach sind, was Leute glauben, was wir sind. Ich habe das Gefühl, du denkst dir mal eben Argumente möglichst zu deinen Gunsten aus, ohne den Sachverhalt wirklich untersuchen zu wollen.” Lilið hätte damit gerechnet, sich ängstlich zu fühlen, einer Königin etwas so streng entgegenzusetzen, aber das war nicht der Fall. Sie fühlte sich überraschend selbstsicher.

“Vielleicht.” Königin Dornrose wirkte einen Moment aufgebracht, aber kurz darauf wieder gelassen und nachdenklich. “Ehrlich gesagt habe ich auch nicht die Kraft, mir darüber Gedanken zu machen und ich sehe es auch nicht ein. Es gibt nicht so viele Menschen wie euch. Wenn du nicht im Interesse von Frauen kämpfen und die Position von vornherein ausschlagen möchtest, die ich dir vielleicht anbiete, je nachdem, ob wir irgendwie zusammenkämen, ist das schade und zeigt direkt deine Prioritäten. Warum sollte ich Interesse an deinen besonderen Problemen zeigen, wenn du dich nicht mit dem grundlegenden Sexismus-Problem befassen möchtest?”

Lilið riss sich zusammen, weil sich ihr der Gedanke ans Spucken wieder aufdrängte. Allil hatte doch recht gehabt. “Bevor ich hier streite, – und es gäbe eine Menge zu verstreiten –, würde ich noch gern wissen, was eigentlich mit mir passieren würde, würde mir der Hammer gleich mit in den Schuh geschoben, sprich, würde ich verantwortlich für das Massaker gemacht werden.”

“Da wir vermitteln können, dass dein Anliegen gewesen wäre, meine Tochter zu retten, ließe sich aushandeln, dass du lediglich entmachtet wirst.”, antwortete Königin Stern. “Aber meines Wissens möchtest du ohnehin Nautika sein und kämst ohne Grund und Adelstitel gut aus.”

Marusch schnaubte. “Ich finde nicht, dass Lilið für irgendetwas aus politischen Gründen herhalten müssen sollte.”, sagte sie. “Aus diesem Grund: Ich bekenne mich hiermit dazu, für das Massaker verantwortlich zu sein.”

Königin Dornrose nickte. “Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet. Du hast eine unbeschreibliche Macht.”

“Niemand sollte eine solche Macht haben.”, wiederholte Marusch, was sie kürzlich schon einmal gesagt hatte. “Ich denke nicht, dass ich Teil einer Regierung sein sollte. Ich bin nicht wegen Gechlechterdingen privilegiert, sondern wegen meines Skorems. Und ein System, das darauf aufbaut, ist von vornherein ein Unterdrückungssystem. Wenn wir hier über systematische Machtungleichgewichte wie Sexismus reden wollen, dann sollten wir vielleicht auch über Behinderungen reden und uns die Frage stellen, warum, nachdem ich meine Krönung abgelehnt habe, wir nicht Lajana ermöglichen konnten, Königin zu sein. Königin und nicht nur ein Werkzeug, das nur auf dem Papier Königin heißt, wofür sie dann auch noch dankbar sein soll.”

“Aber mit deinem Bekenntnis verbaust du auch deiner Schwester den Weg.” Königin Stern schüttelte resigniert den Kopf. “Du bist manchmal so kurzsichtig, mein Junge.”

“Mein Kind. Nicht Junge.”, korrigierte Marusch.

“Es tut mir leid.”, entschuldigte sich Königin Stern. “Diesbezüglich komme ich aus einer anderen Generation als ihr alle. Ich bin alt. Ich strenge mich an, aber es fällt mir so schwer. Das sind alles Gewohnheiten, weißt du? Fast mein ganzes Leben warst du mein Junge. Das kriege ich nicht so einfach raus.”

Es reichte. Lilið sprang auf und warf dabei ihren Stuhl nach hinten um. Sie trat nach, als er sich doch wieder aufrichten wollte. Die Spantunken im Beet stoben erschreckt auseinander und flohen in eine Hecke. Ihr Schweigen unterstrich Liliðs donnernde Stimme nur noch. “Du sollst die Klappe halten, habe ich gesagt! Oh, das habe ich noch nicht gesagt. Zentrier dich hier nicht selbst und halt’s Maul!”

“Ich mag deine Freundin nicht.”, richtete sich Königin Stern leise an Marusch. “Dein Umfeld hat sich auch so sehr geändert. Deine Freundin hat keinen guten Einfluss auf dich.”

“Du meinst Lajana mit Freundin?”, fragte Lilið. “Denn mich meinst du sicher nicht. Das würde der Behauptung, du strengtest dich an, ziemlich widersprechen, wenn du direkt, nachdem es ums Thema ging, nicht einen Moment zusammenzuckst, bevor du mir ein Femininum verpasst.”

Nun stand auch Königin Stern auf, auf viel edlere Weise. “Für meinen Jungen, ich meine, mein Kind würde ich das tun. Ich sehe nicht ein, warum ich mich für dich anstrengen soll. Du schiebst dich in unsere Familienangelegenheiten, die dich nichts angehen, und bringst durch deine Existenz und dein Leben das ganze System ins Wanken.”

Lilið zog eine Schnute und fühlte sich überraschend selbstbewusst. Es war eigentlich immer beschissen, wenn die eigene Existenz als etwas Schlechtes dargestellt wurde. Aber dass ihr persönlich die Macht zugeschrieben wurde, das System durch ihre Existenz ins Wanken zu bringen, gefiel ihr. “Ich hätte gut Lust, euch hier auf den Tisch zu kacken. Zum Beispiel auf deinen Teller.” Sie lächelte Königin Stern unfreundlich an. “Ich weiß, dass das nicht so der Höflichkeitsstandard ist, aber ich habe nicht so sehr Lust, für dich höflich zu sein. Ich weiß nicht, warum ich mich für dich anstrengen soll.”

Lajana kicherte und es klang zugleich verheult. Wahrscheinlich hatte sie angefangen zu weinen, als es lauter geworden war.

“Raus.” Königin Stern sprach nicht laut, aber sofort setzte sich eine Wache in Bewegung, um sich Lilið zu nähern.

Lajana schüttelte den Kopf. “Ich möchte, dass sie bleibt.”, sagte sie. “Ich verstehe das alles hier nicht. Aber du kannst sie nur rausschmeißen, wenn ich das zulasse. Das hast du mal gesagt.”

Die Wache stellte sich wieder in den Hintergrund zu den anderen.

“Das, was diese Person sich hier leistet, reicht für eine Hinrichtung.”, stellte Königin Stern klar. Sie setzte sich wieder. “Ich fühle mich durch sie bedroht.”

“Du solltest dich lieber durch mich bedroht fühlen.” Marusch sprach mit einem Lächeln im Gesicht, als redete sie über gutes Essen. Passend dazu steckte sie sich noch eine Traube in den Mund.

“Du bedrohst mich?”, fragte Königin Stern entgeistert.

“Wenn du Menschen drohst, die mir die Welt bedeuten, dann werde ich sie verteidigen.”, antwortete Marusch um die Traube herum. “Auch gegen dich, wenn es sein muss.”

“Ich will das alles nicht.”, flüsterte Lajana. “Ich habe Angst! Ich will das alles nicht.”

“Du machst deiner Schwester Angst. Und du verletzt auch meine Gefühle, aber das ist dir wahrscheinlich egal.” Zu allem Überdruss kamen nun auch Königin Stern die Tränen. “Mach dir doch mal Gedanken, bevor du etwas sagst, wie sich andere dabei fühlen müssen!”

Einen Moment blieb es sehr still. Wut stand im Raum. Lilið wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass Marusch es wieder täte. Alles, was störte, zu Staub zerfallen zu lassen. Aber Marusch würde es nicht tun, wenn Lajana dabei wäre. Sollte Lilið mit Lajana gehen? Und… war sie, Lilið, wirklich so weit, dass sie diesen Menschen hier den Tod wünschte? Eigentlich nicht. Es war ihr bloß alles egal. Sie wollte existieren dürfen. Sie bekam keine Luft. Sie bekam keinen Halt zu sich selbst, sie hatte keinen Raum, wurde psychisch zerquetscht. Es gab auf der Welt keinen Ort, wo sie sein durfte. Noch weniger einen, wo Lajana sein durfte. Selbst die Abe, die unauffällig zu ihnen auf den Tisch gehopst war, sich nun zurückhaltend weiches Obst aus den Schalen aussuchte und mit mehr Manieren verspeiste als Marusch, wurde von Königin Stern herabwertend beäugt, weil sie hier in ihren Augen nicht hingehörte. Lilið hatte emotional keine Bindung zu Menschen, die eine Welt etablierten und konzipierten, in der sie einfach nicht mitgedacht wurde. Vielleicht war sie böse. Vielleicht war sie innerlich diese Furie, von der Marusch geschrieben hatte. Interessanterweise war der erste Gedanke, der dazu führte, sich zu wünschen, dass Marusch es nicht täte, dass Marusch dann auch damit noch leben müsste. Wenn sie sich diese Zerstörung wünschte, dann sollte sie sie selbst verursachen.

Unvermittelt sprang Lajana auf. “Es reicht!”, schrie sie. “Ich hätte gern regiert. Ich wollte Gutes tun. Aber auch wenn ich nicht kapiere, wo ihr drüber redet, sehe ich, dass ihr einfach so meine Schwester verletzt und Lilið und mich. Und auch Drude, weil Drude nicht adelig ist und ihr nur Adel mögt. Und dann tut ihr so, als wären wir selbst schuld. Und als hätten wir irgendeine Chance gegen euch.” Sie holte Luft. “Wisst ihr was? Ich hatte nie eine! Nie! Ich wurde bis jetzt immer ignoriert und nun würdet ihr mich vielleicht als Werkzeug benutzen und ich soll mich dafür dankbar und respektiert fühlen. Ich mag wenig verstehen, aber das verstehe ich. Und mir reicht’s. Ich möchte Königin sein, aber ich glaube, ich habe keine Chance und beim Versuch werdet ihr auf Dauer die umbringen, die ich lieb habe. Weil ich mich bei ihnen nicht so wertlos fühle. Der Versuch ist es nicht mehr wert. Macht euch ohne mich fertig. Es reicht mir!”

“Meine Kleine, das Problem ist, dass in der Politik Kompromisse geschlossen werden müssen.”, sagte Königin Stern. Ihre Stimmung klang nach erzwungener Geduld. “Ich finde schade, dass du nun auch den Weg der Kompromisslosigkeit einschlägst, den dein Bruder dir vorgibt.”

“Meine Schwester!” Lajana stampfte mit dem Fuß auf. “Das, was ihr versucht, sind keine Kompromisse, sondern Unterdrückung mit Schleifen dran.” Sie blickte Marusch an. “Willst du hier noch was?”

Marusch schüttelte den Kopf und stand auf. “Wir können gern gehen.”

Heelem und Drude standen ebenfalls auf. Heelem rückte die Stühle an den Tisch, auch den, den Lilið umgetreten hatte. “Für das Kacken auf Teller haben wir leider keine Zeit mehr. Aber vielleicht ergibt sich in Zukunft dafür noch eine Gelegenheit.”, sagte er trocken.

Lajana kicherte. Sie hielt für alle anderen den Vorhang aus Ranken am Torbogen zurück, und bevor sie zuletzt den Garten verließ, hielt sie die freie Hand mit erhobenen Mittelfinger der verbliebenden Monarchei als Abschied entgegen.