Die Luftpiratin und die Herrin der Fledermäuse
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Diese Geschichte ist eine Fanfiction zu der Kurzgeschichte “Nebelsilber” von Julia Winthertal aus der Anthologie “Das Dampfbein Schwingen” vom ohneohren-Verlag. Sie lässt sich auch ohne Vorkenntnisse über das Original lesen, ist unabhängig davon ein wenig verwirrend. Sie ist im Rahmen eines Wichtelns entstanden. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, mich in die Tiefen der Geschichte hineinzudenken, manche offene Frage darin anzugehen, und manche neue offene Frage hinzuzufügen.
Positive Tags
- Achtsamer Umgang zwischen den Figuren.
- Kuscheln aber kein Sex.
- Nebel-Stimmung.
Content Notes
- Amputierte Gliedmaßen (mehrfach erwähnt)
- Seuche
- OP
- Flucht
- Krieg
- Piraterie
- Mord
- Meuterei
- Fallen aus Höhen
- Body-Horror
- Fledermäuse
Die Geschichte
Feine Nebelschwaden krochen zwischen den Bergen hervor und sammelten sich dicht über dem schneebedeckten Boden, wo sie die Nacht verbringen wollten. In einem gut isolierten Doppelschlafsack, der besonders um ihre Gesichter herum ein wenig Wärme abstrahlte. Es war trotzdem kalt, aber Luna mochte es kalt und die Alchimistin hatte sich für eine Nacht darauf eingelassen. Vielleicht hatte sie auch einen Schluck eines Gebräus zu sich genommen, dass ihren Körper etwas mehr aufheizte, und sie schämte sich ein bisschen, das nicht zuzugeben. Sie schämte sich wegen noch so einiger Dinge, an die mit dem Nebel Erinnerungen in ihr Bewusstsein gequollen waren, und die sie zu verdrängen versuchte.
“Kennst du eine gruselige Geschichte mit einer zentralen lesbischen Beziehung? Am besten mit einem trans Charakter?” Luna schmiegte deren Kopf enger unter das Kinn derer Freundin.
Die Alchimistin hatte schon einige Jährchen auf, nun, nicht dem Buckel. Sie hatte einen äußerst geraden Rücken. Aber das schmälerte nicht die Ausbeute an Geschichten, für die sie in ihrem Leben Zeit gehabt hatte, sie zu lesen. “Einige.” Sie legte den Arm enger um Luna.
“Aus dem Kopf?”, fragte Luna. “Kannst du mir eine erzählen?”
Darüber musste die Alchimistin länger nachdenken. Sie durchwühlte ihr Gehirn, aber ihre Gedanken snappten wie ein Magnet an Eisen, immer wieder zu der einen Geschichte. “Eine”, sagte ihr Mundwerk schneller, als sie es davon abhalten konnte.
Nicht diese Geschichte.
“Erzählst du sie mir?”, bat Luna.
“Ich weiß nicht”, sagte die Alchimistin. Sie versuchte sich rauszureden, – oder möglichen Enttäuschungen vorzubeugen: “Die Trans-Repräsentation ist nicht sehr klar. Es gibt Leute, die sagen, es wäre doch klar, dass der eine Charakter trans wäre, aber andere reden davon, dass sie nur ein gewisses Publikum anlocken soll, aber gar nicht wirklich trans Personen zeigte.”
Luna sagte erst gar nichts, und dann: “Dir ist die Geschichte unangenehm.” Ein wenig Nebel kam demm dabei aus dem warmen Mund.
Die Alchimistin seufzte. “Sie heißt: Die Luftpiratin und die Herrin der Fledermäuse.”
“Ein schöner Titel”, kommentierte Luna.
“Ich möchte sie erzählen”, beschloss die Alchimistin. Ja, es war ihr unangenehm. Aber vielleicht war es auch einfach Zeit. Sie wohnte nun hier, in dieser Welt, in die Kiendra eigentlich gehört hätte. Zwischen tiefblauen Seen, schneebedeckten Weiten, weit und breit kein Meer, zwischen Windrädern und Wasserrädern, die nicht qualmten oder dampften. Der Nebel war weiß, klebte nicht und würde am nächsten Morgen verfliegen. Es war nicht die Art Nebel, in dem die Alchimistin Kiendra verloren hatte.
Und so begann Tianna zu erzählen. Oder versuchte es. Nur wo anfangen. In ihrem Kopf dröhnte nun ein weiteres Wort so widergespenstig, dass sie es aussprechen musste: “Obsidian.”
Mit dem Obsidian fing alles an. Die ganze Crew war infiziert, außer Tianna. Alle anderen waren irgendwann mit einer Verletzung an das glühende Material gekommen, dass das Wolkenschiff zum Fliegen brachte. Es sammelte sich unter der Haut, ernährte sich von den Energiereserven der Körper und breitete sich an den Adern entlang aus. Am Anfang hatte es noch wenig Nebenwirkungen, aber mit der Zeit wurden die betroffenen Gliedmaßen müder, schmerzten. Tianna hatte panische Angst davor gehabt und sehr auf sich aufgepasst. Sie hatte es zuletzt erwischt. Kiendra hatte es sofort gemerkt – und irgendwoher gewusst, dass in den ersten Stunden noch etwas dagegen getan werden konnte. Der Disput zwischen der mutigen, langen Kiendra und des Kapitäns darüber, dass sie Tianna doch schnellstmöglich zu einer medizinischen Fachperson bringen müssten, mündete im Fall des Kapitäns, in die unendlichen Tiefen, aus denen er nie zurückkehren würde. Niemand wusste so genau, wie es dazu gekommen war. Vielleicht “wusste” es auch nur niemand, weil sie Kiendra nicht des Meuterns bezichtigen wollten. Die erschöpfte Crew war so desillusioniert, dass sie nicht einmal versuchten, etwas dagegen zu unternehmen, dass Kiendra zu Ende meuterte.
Kapitänin Kiendra war sicher eine großartige Heldin, aber der bald darauf folgende Tag, an dem sie Tianna im Krankenhaus in Haevling, einer Stadt außerhalb der Union, ablieferte, war ihr letzter gemeinsamer gewesen. Haevling lag eine Tagesreise der Heimat von Kiendras Großmutter entfernt. Der Ort, nach dem sich Kiendra heimlich gesehnt hatte. Sie hatte selten davon erzählt, aber manchmal hatte sie eine Bemerkung gemacht. Und nachts im Schlaf hatte sie davon gesprochen.
Und nun war Tianna hier, ohne Obsidian in den Fingerspitzen, und Kiendra war irgendwo da draußen, wenn das Obsidian sie noch nicht verschlungen hatte. Und Tianna kannte nur die Legenden über sie.
Haevling war ein Fluchthafen. Ein Ort, an dem diejenigen anlangten, die es schafften, aus den Fängen der Union zu entfliehen. Aber Kiendra war nicht genug, sich selbst zu retten. Sie hatte sich entschieden, als Piratin die Lüfte unsicher zu machen, die Nebelwelt der Inseln vom Einfluss der Union zu befreien, und hatte Tianna einfach im Krankenhaus zurückgelassen. Als Tianna aus ihrer OP aufgewacht war, war ihre neue Kapitänin schon weg gewesen. Vielleicht war es besser so, vielleicht hätte Tianna, die sich immer versucht hatte, von jeder Gefahr so gut es ging, fernzuhalten, auch nur allem im Weg gestanden. Aber Kiendra, – Kenna, wie sie sich selbst abkürzte –, hätte es schon verdient, mit einem Herzwesen im Arm im Land ihrer Träume im Schnee zu liegen und ihre Geschichten selbst zu erzählen.
Der eisige Wind wehte feine Flöckchen längst gefallenen Schnees vom Boden auf über das Deck. Kenna wollte nicht lange hier ausharren, sonst würde sie sich vielleicht nicht mehr lösen können. Aber sie rechnete sich Chancen aus, den Luft- und Wolkenraum zu erobern. Es waren immer noch sehr fremde Gedanken.
Irgendein Teil in ihr war angewidert von den Schneeflocken. Sie verstand ihn nicht. Morgen früh in aller Frühe wäre Aufbruch.
Sie zog sich in die Kapitänskajüte zurück. Auch das fühlte sich immer noch fremd an. Nicht, als dürfte sie das wirklich haben. Es hatte sich einfach niemand gewehrt. Und irgendwie war die Crew ihr dankbar, freute sich, dass sie noch Kraft hatte, und fügte sich ihrem Kommando. Alles war surreal. Aber war es diese Welt nicht ohnehin? Vor allem der Schnee?
Unter ihr waren die teergeschwärzten Holzdielen des Wolkenschiffs, aus denen der Geruch, den der Kapitän hinterlassen hatte, nur recht unfreiwillig verdampfte. Kenna war auch erschöpft. Die Möglichkeit, die Alchimistin zu retten, hatte ihr Kraft gegeben, aber das war nun erledigt und das innere Lodern versiegte allmählich. Kenna fürchtete den Moment, in dem es ganz verlöschen könnte. Vielleicht mitten in einer Luftschlacht. Ihr graute außerdem vor Luftschlachten. Aber ein Teil von ihr meinte, dass es realistisch wäre, dass sie kaum anders aussehen würden, als ihre Meuterei. Die ganze Wolkenmarine war erschöpft. Das Obsidian.
Es klopfte an der Tür. Kenna stand ächzend auf und öffnete. Sie hätte mit irgendeinem Crewmitglied gerechnet, das sich über irgendetwas versichern wollte. Vielleicht sogar eines, dass doch hier aussteigen wollte. Kenna war überrascht gewesen, als sie allen eröffnet hatte, dass sie hier gern von Bord gehen dürften, dass niemand, wirklich niemand gezögert hatte, stattdessen mit ihr den Himmel zurück zu erobern. Müde. Müde, wie sie es alle waren.
Aber es war die Ärztin. Sie umhüllte eine blasse, kräuterige Duftwolke. Sie hatte festes, langes Haar, eigentlich dunkelbraun, aber es schimmerte leicht pink von einer Farbe, die sie wohl hineinfärbte. Sie war groß, kräftig, hatte eine tiefe Stimme wie Seide, die etwas mit Kenna machte, weil sie ein so großes Spektrum an Klangfarbe hinüberbringen konnte. Mehr Farbe, als Kenna sich erinnern konnte, je gesehen zu haben.
“Abhacken ist nicht die einzige Lösung.”, sagte die Ärztin trocken.
Kenna hob eine Augenbraue. “Du hast uns belauscht.” Kenna hatte mit Tianna kurz gesprochen, bevor diese in den OP-Saal verlegt worden war, und dabei den Ausdruck verwendet. Sie trug ihren Unterarm immer bekleidet, hatte nicht gewollt, dass die Ärztin ihn sah.
“Lauschen ist mehr ein Begriff dafür, leisen Stimmen zuzuhören. Eure waren nicht leise.” Die Ärztin lächelte. “Ich bin Finn.”
“Die Herrin der Fledermäuse.”, murmelte Kenna sofort. Die Ärztin hatte sich vorhin nicht mit diesem Namen vorgestellt, daran hätte sich Kenna erinnert. An den, mit dem sie sich vorgestellt hatte, erinnerte sich Kenna nicht. Ihr Namensgedächtnis war nicht das beste.
“Ja, der Titel wurde mir verpasst. Wenn es nach mir ginge, nicht ‘Herrin’.”, sagte Finn.
“Eher ‘Herr’, oder etwas neutrales? ‘Herschendes’ vielleicht?”, fragte Kenna.
Finn rümpfte die Lippen – ja, das konnte sie, und schüttelte den Kopf. “Femininum ist schon richtig. Nur habe ich keine Macht über die Fledermäuse. Ich bin nicht ihre Herrin. Ich habe sie nur erschaffen.”
“Und du möchtest aus mir auch eine machen?”, fragte Kenna voll Unbehagen.
Die Ärztin schloss die Kajütentür und trat einen Schritt näher. “Wenn du willst?”, fragte sie mit dieser seidigen Stimme, die nun den weichsten aller Töne angenommen hatte.
“Überhaupt nicht unheimlich.” Kenna schnaubte.
Die Ärztin schwang einen Hocker zwischen ihre Beine und setzte sich, blickte sich um. “Es wäre halt die Alternative zu abhacken.”, sagte sie. “Das ist, was die meisten lockt. Dabei ist es einfach nur Angst und Abneigung vor Fremdem und Veränderung, die dazu führt, dass Leute die eigentlichen Vorteile erst verstehen, wenn die Sache längst vollendet ist.”
Das allerdings weckte Kennas Trotz, der nun gegen ihr Unbehagen ankämpfte. Es war Unfug, was diese Ärztin da vorschlug. Solange Kenna nur Schwäche und Schmerz in diesem einen Arm spürte, ergab es keinen Sinn, viel zu ändern. Jede Änderung würde ihr Leben umkrempeln.
Und dann wiederum: Krempelte sie ihr Leben schon selber um. Immer wieder. Als sie von Helvig weggegangen war und auf einem der Wolkenschiffe angeheuert hatte. Als sie Yarik wiedergetroffen hatte und wieder angefangen hatte, zu fühlen, Wünsche zu haben. Und nun, als sie gemeutert hatte. Unbeabsichtigt. Aber alles waren jeweils gute Veränderungen gewesen.
Sie wollte schon zu den besonderen Leuten gehören, die die Vorteile sahen, bevor die Notwendigkeit zu unmittelbaren, drastischen Maßnahmen bestand. Wie abhacken. “Verstehe ich das richtig? Du machst Leute zu Fledermäusen, die Obsidian im Körper haben, das nicht mehr anderweitig entfernt werden kann?”, fragte sie. “Wie läuft das ab? Was stünde mir bevor?”
“Das Obsidian ist fest in deinem Körper, es wird sich nach- und weiterbilden, weil es bereits fest mit deiner MRK – kurz für Multi-Ribozyten-Katalysator – verknüpft ist”, leitete Finn ein. “Der Tuff, der auch mit dem Obsidian in deinen Körper gelangt ist, allerdings nicht. In einer komplexen OP, die ich durchführen kann, kann ich die Tuff-Partikel vom Obsidian trennen. Um genau zu sein, und dem einen besonders creepingen Touch zu geben, machen dass die Aschemäuse. Ich erzähle das nicht jeder Person. Aber du magst es etwas creepy, richtig?”
Kenna kniff die Augen ein wenig zusammen, aber nickte dann. “Aschemäuse?”
“Eine sehr kleine Fledermausart. Die Viecher sind nicht größer als ein Daumennagel. Sie kommen in Schwärmen, wenn eine Person in Not wirkt, und helfen, indem sie die Tuffteilchen aussortieren. Wie in Aschenbrödel.”, fuhr die Ärztin fort.
Kenna runzelte die Stirn und schnaubte. “Das erinnert dich an Aschenbrödel?” Es war eines der wenigen Märchen, die bekannt genug waren, dass Kenna sogar mal ein Theater davon gesehen hatte. Ein Kindertheater. Yarik hatte die Hauptrolle gespielt. Das war eine Insel aus Hoffnung in nebeldunklen, schwadendurchtränkten Zeiten.
Finn nickte. “Das dann reine Obsidian setzt sich schneller im Körper fort.”
“Klingt nicht sehr erbaulich.”, warf Kenna ein.
“Doch, doch, das ist es. Genau das. Es tut nicht mehr weh, und zieht keine Energie mehr. Aber es breitet sich in deinem Körper aus und verändert deine MRK.”, berichtete Finn. “Es baut dich auf, oder neu zusammen. Wie du willst.”
“Und dann wachsen mir Fledermausflügel oder was?”, fragte Kenna.
“Und ein Fell auf Brust und Rücken, und etwas darüber hinaus. Gesicht und Hände bleiben meistens frei. Könntest du abrasieren, natürlich.”, sagte Finn trocken.
Kenna lachte auf. Sie konnte nicht anders. Und dann fühlte sie den Gedanken an Freiheit. An Fliegen, daran, wie wenig Gefahr ihr drohen würde, wenn über Bord werfen nicht tödlich enden würde. Was für ein alberner Gedanke. Dann würden sie anders töten. Oder nicht?
“Ich würde mich dir zeigen, wenn du willst.”, sagte die Ärztin. “Aber ich möchte mich auch nicht aufdrängen. Ich habe das Gefühl, das tue ich schon viel zu sehr.”
Als Kenna nach Jahren an dieses Gespräch zurückdachte, fühlte sie nur wenig Wehmut. Sie hatte Tianna zurückgelassen. Sie vermisste sie nicht. Nicht mehr.
Sie hatte den Luft- und Wolkenraum erobert. Es war nun ihr neues Zuhause. Hier oben schwebten die Schiffe, die durch ihre neue Autonomie nie wieder landen mussten, und auf diese Art der Union nicht mehr unterlegen waren. Sie hatten ein Lazarett-Schiff, und einige Schiffe, auf denen sie Lebensmittel anbauten. Kenna plante die Ortswechsel, damit sie schlechter angegriffen werden könnten. Und die Union verlor von Tag zu Tag an Macht.
Kenna strich Finn über die Flügel, sortierte das nach dem Waschen feuchte Fell. Finn hatte das gern. Finn war die erste Fledermaus gewesen. Sie hatte es freiwillig an sich selbst ausprobiert, nachdem sie darüber lange geforscht hatte und sicher gewesen war, dass es keine gesundheitlichen Nachteile hatte. Nur eine Fortentwicklung. Menschen mochten so etwas eigentlich nicht. Aber Finn fühlte sich richtig in diesem Körper. Sie sagte, es fühlte sich an, als habe ihr zuvor etwas gefehlt. Als habe eigentlich die Natur gewollt, dass das passiert, und Leute hätten von ihr erwartet, dass sie sich dagegen sträubte, aber das hatte sie eben nicht getan.
Kenna nahm sie sanft von hinten in den Arm. “Ich habe dich sehr gern, weißt du das?”
Weit unter ihnen, in der Hafenstadt Helvig, fing der Nebel sich an zu lichten und bahnte sich still und silbrig seinen Weg an einen anderen Ort.