Skoremetrikae im Wohnzimmer

CN: Misgendern - ziemlich penetrant, Mysogynie und Sexismus, sexuelle Übergriffigkeit

Fremde Personen im Wohnzimmer waren an sich nichts Ungewöhnliches im Hause Lurch. Diese zwei bereiteten Lilið allerdings von Anfang an Unbehagen. Die eine Person war zu, hm, gediegen? Lilið erkannte sie eigentlich als ihre ehemalige Bastellehrerin aus der Erstschule, nur dass sie nun so viel unnahbarer wirkte, dass Lilið für nicht ausgeschlossen hielt, dass es sich womöglich um einen Zwilling handelte. Ihr Rücken war besonders gerade, die Bewegungen stellten einen Kontrast zu allem dar, was auch nur ansatzweise an Hektik erinnern könnte. Sie trug Hellblautöne und Seide. Hinweise darauf, dass sie gesellschaftlich etwas aufgestiegen wäre, wenn sie einst besagte Erstschullehrerin gewesen war. Und Hinweise darauf, dass sie eine Frau wäre, aber darauf gab Lilið aus Gründen nicht viel. Sie war kein Fan von Dingen, die Geschlechter trennten oder kodierten, und glaubte, dass so einige Menschen da eher unfreiwillig mitmachten. Allerdings wirkte diese Person eins mit sich, ihrer Haltung und ihrer Kleidung. Sie stand nah am Tisch, eine ihrer langgliedrigen Hände auf eine Stuhllehne gelegt. Der Braunton ihrer Haut war so hell, dass er kaum einen Kontrast zum lackierten Irkenholz des Stuhlrahmens bildete. Lilið fand diese Beinaheeinfarbigkeit durchaus schön. (Unabhängig von der Helligkeit.)

Die zweite Person hatte sie auch noch in verblichener Erinnerung, aber sie kam nicht sofort darauf, woher. Sie trug ein blassrotes, matteres Gewand, das trotzdem versuchte, elegant zu wirken. Lilið schmunzelte mal wieder bei dem Gedanken an das Paradox, dass die männlich kodierte Kleidung weniger elegant war, weniger Glanz und weniger entspannende Farben hatte, aber besonders höherrangige Personen, elegant aussehen wollten, was bei Männern, (oder eben Menschen, die sich entsprechend kodieren wollten oder mussten,) zu gewissen Konflikten führte. Manchmal glänzte die Spitze doch, manchmal war doch ein Hauch Blau irgendwo untergemischt, aber eben nicht zu viel. Diese fast fremde Person, die sich gerade mit überschlagenen Beinen auf einem Lehnstuhl am Tisch niederließ, hatte zum Beispiel ein glänzend fliederfarben eingefasstes Revers.

Ihr Vater, Lord Lurch, trotzte mal wieder allen Modenormen. Er trug ein blassgrünes Gewand, auf das mit silbrigem Faden unsauber Drachen gestickt waren, auf denen Lurche ritten. (Worauf sollten sie auch sonst reiten?) Die Robe war mit Stoffeinsätzen versehen, die darauf hindeuteten, dass das Kleidungsstück einst nicht auf seinen Körper zugeschneidert worden war, sondern angepasst hatte werden müssen.

Lilið hatte sie damals für ihn gebastelt, als sie so 12 gewesen war, also vor etwa sieben Jahren. Als sie herausgefunden hatte, dass die Farbe Blau nicht zufällig eine war, die viele Kinder mochten, sondern dass diese Kinder alle Mädchen waren. Sie erinnerte sich, damals weiterbeobachtet zu haben, dass Jungen fast alle Farben trugen, aber schon recht häufig blassrot. Dass Erwachsene weniger verspielte Kleidung trugen als Kinder und die Stoffe vom Adel und anderen höherrangigen Leuten andere Beschaffenheiten hatten als die von weniger veradeltem Volk.

Sie hatte also Grün gewählt, eine Farbe, die möglichst wenig Bedeutung hatte, und darauf ein verspieltes Muster gestickt, das ihr damals passend erschienen war. (Sie fand es heute immer noch sehr passend.) Obwohl sie eigentlich nicht gut im Sticken war. Sie hatte diese Robe ihrem Vater zum Namenstag geschenkt. Er wusste nicht um ihre Motive, ausgerechnet Grün und verspielte Motive zu wählen, vermutete Lilið. Solche Gedanken traute niemand einem kleinen Mädchen zu, selbst wenn es in grünen Feldhosen herumlief und sich von einem Tag auf den anderen weigerte, Blau zu tragen.

Lord Lurch liebte dieses Gewand und trug es oft und voll Stolz. Es machte ihn froh. Ihn kratzte das Gemunkel der Leute nicht. Es wurde zudem auch höchstens vorsichtig gemunkelt. Mit Lord Lurch war zwar gut spaßen, aber es sich mit ihm zu verspaßen war wiederum kein Spaß. Er herrschte nicht ohne Grund über die ganze Insel, und es war keine der kleineren.

Der Besuch unterhielt sich mit Lord Lurch zunächst über Politik, besonders Bildungspolitik, dann über Wetter und Nautik, und schließlich über Skorem, – und das durchaus mal anders, als sonst darüber gesprochem wurde, weshalb Lilið hier genauer zuhörte. Skorem war letztendlich ein Maß für das Potenzial von Menschen, Magie zu erlernen. Eine Person mit Skorem von 100 hatte ein recht durchschnittliches Potenzial. Ab einem Skorem von etwa 130 wurde eine Person als skorsch beschrieben.

Liliðs Skorem war dafür, dass sie das Kind von Lord Lurch war und es hieß, Skorem wäre vererbbar, recht niedrig. Im Vergleich zur Bevölkerung war er einfach durchschnittlich. Er war irgendwann in der Erstschule einst auf 102 geschätzt worden. Geschätzt, auf 102. Lilið hatte es schon damals absurd empfunden. Skorem war nicht einfach zu schätzen, weil viele Faktoren eine Rolle spielten. Dass erfahrene Lehrkräfte es brauchbar können mochten, konnte Lilið sich noch vorstellen, aber nicht auf Einer genau.

Lilið war in der Schule nie gut in Magie gewesen. Nicht, weil sie das Fach nicht interessiert hätte. Sondern weil die Vermittlung unangenehm gewesen war. Wer nicht gut in Magie war, war sozusagen weniger wert, oder wurde dazu gebracht, sich so zu fühlen. Eine schlechte Zensur in Basteln führte einfach nicht zu den gleichen belastenden Auswirkungen wie eine schlechte Zensur in Magie. Lilið hatte sich in Magie angestrengt, auf einem schlechteren Mittelmäßig zu bleiben, damit ihr Vater ihr keine Nachhilfe verpassen würde. Ihr Lernen war also angstmotiviert gewesen, selbst wenn es keine allzu starke Angst gewesen war, was den ganzen Spaß, den Magie vielleicht hätte machen können, jedenfalls verdrängt hatte. Zudem gab es zu Magie nicht nur den einen Zugang, in der Schule wurde aber nur einer vermittelt. Dieser schlaue Gedanke war nicht auf Liliðs Mist gewachsen. Ihre Mutter sprach oft davon, dass sie vielleicht besser in Magie gewesen wäre, wäre es ihr anders, spielerischer, vermittelt worden. Und ungefähr um so etwas versprach das Gespräch zu gehen.

“Neuere Studien zeigen, dass wir unsere Skorem-Tests überarbeiten sollten.”, sagte Frau Wolle – sie hatten sich inzwischen wieder vorgestellt. In ihrer Stimme schwang kaum eine Emotion mit. “Sie bevorteilen Kinder aus Familien mit guter magischer Ausbildung, weil sie von ihren Eltern schon eine Menge mitbekommen.”

Sie hatten sich inzwischen alle an den Tisch gesetzt. Frau Wolle saß direkt neben ihr, Herr Hut und ihr Vater auf der anderen Seite des Tisches. Lilið mochte den schmalen Tisch nicht. Wenn sie die Füße ausstreckte, waren da immer andere im Weg.

“Mein Spross hatte da beides.”, erwiderte Liliðs Vater. “Ihre Mutter hat wenig Ausbildung genossen. Leider scheint von mir aber nicht viel abgefärbt zu haben.”

“Der Bias der Tests kommt nicht nur durch das Elternhaus zustande.”, fuhr Frau Wolle fort. “Auch Kinder mit anderen Denkstrukturen schneiden schlechter ab, als sie eigentlich sind.”

Lilið horchte genau auf, ließ sich allerdings nichts anmerken, sondern steckte sich gespielt desinteressiert einen schon fast aufgegessenen Keks in ihren Mund.

“Mädchen und Frauen zum Beispiel.”, ergänzte Herr Hut.

Lilið ließ sich die Enttäuschung genau so wenig anmerken, wie das Interesse zuvor. Eine Enttäuschung, die sie nicht vollständig einordnen konnte. Sie fühlte sich immer sehr unbehaglich, wenn sie einer Gruppe zusortiert wurde, die nur aus Frauen bestand. Oder wenn ihr eine Eigenschaft zugeschrieben wurde, weil sie eine Frau wäre, selbst wenn diese zutreffen könnte, wie zum Beispiel, dass sie deshalb von Magie ein anderes Verständnis haben müsste.

“Deshalb wurden nun mehr Frauen als Skoremetrikae eingestellt, die, bis die Tests nachgebessert sind, auch ohne Tests ihre Urteile über Mädchen und Frauen abgeben dürfen. Ich bin noch nicht ganz sicher, was ich davon halte, aber es ist ja auch nur ein Provisorium.”, fuhr Herr Hut fort. Er sprach auf eine herzlich einladende Weise, die Liliðs Vater anzustecken schien.

Lilið war sich ziemlich sicher, dass sie auf eine sehr andere Art nichts davon hielt als Herr Hut, und das war sehr frustrierend. Die Atmosphäre fühlte sich für sie beklemmend an. Ein Teil von ihr hätte nun liebend gern bessere Magiefähigkeiten gehabt und die Tischdecke in Brand gesetzt.

Stattdessen zog Frau Wolle ein Etui aus einer in ihrer Kleidung eingenähten, unauffälligen Tasche, entnahm ihm ein Papier und legte es auf besagte, nicht brennende Tischdecke vor Lilið ab. Es war nicht einfach nur ein Papier. Es gab Falten darin. Berg- und Talfalten, und zwar viele. Liliðs Gehirn arbeitete, ohne es überhaupt zu berühren, sofort los. Es formte sich in ihrem Kopf, den Falten entsprechend, sortierte Papierlappen unter andere, weil sie sonst nirgens hinkonnten und innerhalb von wenigen flachen Atemzügen bildete sich in Liliðs Kopf das Konzept einer Batrosse, eines eher großeren Seedrachens.

Lilið versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Sie wusste, dass sie geistig kurz weggewesen war, in einem ganz eigenen Raum in ihrem Kopf. Sie hörte nun das Gezwitscher der Sangseln aus dem Garten plötzlich sehr intensiv. Die schwarzen Singdrachen waren optisch nicht sehr beeindruckend, und das obwohl schwarz eine beeindruckende Farbe war. Aber sie waren weder majestätisch noch winzig und versteckten sich in Bäumen. Aber der Gesang der Sangseln war beeindruckender und vielfältiger, als der fast jeder anderen Drachenart.

Lilið atmete langsam ein und aus, um sich zu erden. Ebenfalls unauffällig. Sie schloss durchaus, dass gerade ihr Skorem neu gemessen werden sollte. Von ihrer ehemaligen Bastellehrerin, die nun also Skoremetrika war. Skoremetrikae vermaßen beruflich Skorem. Aber was sollte das bringen? Das wollte Lilið gern vorher wissen, bevor andere an irgendwelche neuen Werte gelangen würden. Müsste sie dann noch einmal zur Schule gehen? Sie hatte gerade ihren Mittelabschluss gemacht und überlegte, Nautika zu werden. Ein Beruf, bei dem sie wenig Besitz gebraucht hätte und Magie entsprechend nicht so nötig wäre, um ihn zu beschützen. Auch ein Beruf mit einer kniffligen Ausbildung, die ihr niemand so recht zutraute, weil Leute glaubten, wer navigieren könnte, müsste eigentlich auch in Magie gut sein und umgekehrt.

“Sie scheint mir wirklich nicht besonders skorsch.”, murmelte Herr Hut.

Lilið fühlte sich leicht provoziert, aber gab dem Impuls nicht nach. Vorsichtig berührte sie das Papier, um es zur Seite zu schieben und aufzublicken. “Was wäre denn der Plan, wenn ich nun diesen Alefinten falten würde?”

Sie nahm das sehr sachte Schmunzeln wahr, das sich für einen kurzen Moment auf Frau Wolles Gesicht verirrt hatte. Lilið wusste nicht, wie sie es deuten sollte. Sie hätte eher mit Enttäuschung gerechnet. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, nicht einen Alefinten vorzuschlagen, weil es bewusst nach falscher Fährte wirken mochte?

“Oder will niemand über den Alefinten im Raum reden?”, fügte Lilið also hinzu, um harmlos zu begründen, warum sie auf einen Alefinten gekommen war.

Dieses Mal regte sich nichts in Frau Wolles Gesicht. “Es ist jüngst auf der Insel Frankeroge ein Internat für skorsche Damen eröffnet worden.”

“Und ihr denkt, dass ich dahingehen sollte?” Lilið betonte es mehr als gemutmaßten Fakt als als Frage.

“Sofern wir dich als ausreichend skorsch einschätzen, ist das das Ansinnen.”, erklärte Herr Hut. Er streckte und dehnte sich etwas, und wie zufällig berührte sein Fuß Liliðs ohnehin schon möglichst platzsparend zurücksortierte Beine.

“Ich glaube, das Problem ist eher, dass ich keine Dame bin.” Lilið versuchte trotz allem, den Anschein selbstsicherer Entspanntheit zu vermitteln. Innerlich machte sie sich auf ein stressiges Gespräch gefasst und arbeitete an einem Fluchtplan, warum sie ausgerechnet jetzt das Tischgespräch verlassen müsste.

“Was ist so schlimm daran, eine Dame zu sein?”, fragte Frau Wolle.

Sie klang interessiert, fand Lilið, nicht wertend. Sie mochte die Frage trotzdem nicht. “Dass kann ich dir nicht sagen. Im Gegensatz zu dir bin ich keine. Mir fehlt es da an Erfahrung.”

“Woran machst du fest, dass ich eine bin?”, fragte Frau Wolle.

“Ich wagte, es daraus zu schließen, dass du nicht weißt, was so schlimm daran ist, keine zu sein. Solche Fragen gestellt zu bekommen, zum Beispiel.”, erwiderte Lilið. Sie hatte ähnliche Gespräche oft mit imaginären Personen trainiert, sonst wäre sie nie so schlagfertig gewesen. Aber irgendwann würde der Vorrat an zurechtgelegten und einstudierten Reaktionen ausgehen, das wusste sie. “Sicher sind aber die Erfahrungen aller Nicht-Damen nicht gleich. Entschuldige bitte, wenn ich da zu voreilig Schlüsse gezogen haben sollte.”

“Ich glaube eigentlich, dass undamenhaftes Verhalten das geringere Problem wäre.”, mischte sich Herr Hut ein. “Es würde niemand merken, dass du keine Dame wärest. Das Internat ist bereits geöffnet worden für Frauen weniger hoher Herkunft, auch wenn jene natürlich für den Prototypen bevorteilt werden. Bewusst, damit das Projekt Chancen hat.”

Er hatte also nicht verstanden, worum es ging, stellte Lilið für sich fest. Ein Teil von ihr war so wütend, dass sie ihn wegsperren musste und nun nur noch mäßig konzentriert da saß. Das hatte keinen Sinn. Es wäre besser, wenn sie das Tischgespräch nun einfach verließe. “So spannend das Gespräch auch ist, ich muss leider gehen.”, sagte sie also.

“Aber du kommst wieder.”, bestimmte ihr Vater.

Sie blickte ihn einen Moment an. Mehr war nicht notwendig für die nonverbale Kommunikation zwischen ihnen, die ihr klar machte, wie wichtig es ihm war, dass sie sich diesen Skoremetrikae noch einmal aussetzte. Und er es im Zweifel durchzusetzen versuchen würde.


Sie ließ sich Zeit. Sie besuchte zunächst das Badezimmer, um sich zurückzuziehen, und benutzte die Toilette vor allem, weil wenn sie sie direkt benutzen müsste, wenn sie wieder da wäre, klar wäre, dass sie sich aus anderen Gründen zurückgezogen hätte. Anschließend ging sie durch einen der Ausgänge weiter hinten im Besuchshaus, sodass sie nicht am Wohnzimmer vorbeikäme, in den Garten. Das Sangselgezwitscher begleitete sie, als sie ihre Runden drehte. Kleine Spantunken hopsten aufgeregt über den Boden, wo eine bedienstete Person des Hofstaats wohl beim Transport von Backware gekrümelt hatte. Sie pflückten mit ihren kleinen Händen die weichen Krümel und die Körner auseinander, weil die Krümel beim Feuerspeien verbrennen würden, die Körner ihnen aber geröstet besser mundeten. So erklärte Lilið sich zumindest das Verhalten der kleinen, braungrauen Drachen. Sie sah ihnen eine Weile zu.

Leider kannte ihr Vater sie wohl zu gut. Oder das Wetter war zu schön. Jedenfalls zog ihr Vater mit dem Besuch schon bald in den Garten um. Lilið vermied aus bestimmten Gründen nicht, gesehen zu werden. Dazu hätte sie im Normalfall doch Magie angewandt, – eine sehr spezielle –, und das wollte sie gerade nicht.

Magie war eben auch nicht Magie. Es gab schon ein paar wenige Zweige von Magie, in denen sie brauchbare Fähigkeiten trainiert hatte.

Während sich Frau Wolle und ihr Vater an einem kleinen Gartentisch niederließen, den einige Bedienstete eilig zurechtrückten und mit Decke, Kerze und Keksen versahen, gedachte Herr Hut, sich zu Lilið zu gesellen. Sie machte es ihm schwer, indem sie einen Weg von ihm weg einschlug.

“Sie kommt schon noch.”, hörte sie ihren Papa zu Frau Wolle sagen. “Sie ist manchmal etwas kontaktscheu. Dann hilft es ihr, sich das Meer anzusehen, etwas durchzuatmen, und dann geht es wieder.”

Er hatte nicht ganz unrecht. Aber Lilið mochte nicht, wie er so über sie sprach. Es ging dann oft wieder, aber sie wollte eigentlich gar nicht.

Trotzdem bewegte sie sich die Stufen hinauf auf die Terasse, von der sie gerade so über den Deich hinweg auf das Meer blicken konnte. Ein paar weiße Öwenen flogen gegen den Wind und auf diese Weise fast auf der Stelle. Ihre Schwingen nach den Böen immer gerade so ausrichtend, dass sie sie nicht wegpusteten. Natürlich konnten alle Drachen fliegen. Wobei, das stimmte auch nicht. Aber viele konnten es. Bei Öwenen hatte Lilið aber den Eindruck, sie beherrschten das Handwerk besonders gut. (Oder eher das Schwingenwerk als das Handwerk). Die Seedrachen waren mehr in der Luft als die meisten anderen Drachen. Vielleicht lag es daran, dass sie mit nur kaum merklichen Veränderungen ihrer Schwingenstellung so perfekt auf der Stelle schwebten und den gischtdurchsetzten Böen trotzten.

Lilið atmete die vertraute Seeluft, die doch jeden Tag anders roch. Und stockte mitten im konzentrierten Atmen, als sich Herr Hut direkt neben sie stellte, während seine Hand ihren Hintern streifte. Es war so beiläufig, dass es wohl wie ein Versehen wirken sollte. Als ob eine Person, die solche Art Belästigung gewohnt gewesen wäre, je abgekauft hätte, dass es aus Versehen passierte.

Lilið kannte das und verhielt sich, wie antrainiert, unintuitiv: Sie lehnte sich in die Berührung, sodass sie definitiv nicht mehr wie ein Ausversehen gelesen werden könnte, ihre eigene Hand aus verschiedenen Gründen zwischen den Körpern einfädelnd. Unter anderem um sich wegschieben zu können. “Genieß diesen Moment, es wird der letzte der Sorte sein.”, raunte sie ihm zu. “Wenn sich deine Hand noch einmal, und sei es unbeabsichtigt, auf meinen Arsch verirrt, oder sollte ich beobachten, dass du irgendeine andere Person ungewollt sexualisiert berührst, – und ich lege aus, wann das der Fall ist –, dann verirrt sich mein Ellenbogen in Organe, die dir wichtig sind.”

Sie löste ihre Körper von einander und beobachtete mit Belustigung, die sie nur spürte, weil das Adrenalin ihr Grauen derzeit noch wegspülte, wie er seine Hand unwillkürlich in Richtung seines Schritts bewegte.

“Ich dachte eher an deine Lunge oder dein Herz.”, korrigierte sie seine unausgesprochenen Gedanken. “Für dein Genital würde ich eher mein Knie einsetzen.”

Herr Hut lächelte. “Ich habe den Hinweis verstanden.”, sagte er. “Ich mag dich trotzdem daran erinnern, dass es nicht so besonnen ist, einen hochkarätigen Magier zu bedrohen. Hier auf dem Hof deines Vaters bist du geschützt. Aber wenn du Magie nicht bis zu einem gewissen Level erlernst, werden Menschen, die im Gegensatz zu mir tatsächlich ein unlauteres Interesse an dir haben, irgendwann ausnutzen, dass du eher wehrlos bist, wenn dein Vater nicht in der Nähe ist. Du solltest Magie erlernen. Besonders als Tochter von Lord Lurch. Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.”

Er schlug schlendernd den Weg zum Tisch zurück ein, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. “Kommst du?”

“Ich komme gleich nach.”, sagte sie. “Du musst verzeihen, dass ich so einen ekligen Übergriff erst einmal verdauen muss.”

“Wie gesagt, es tut mir leid. Mir waren deine Grenzen nicht bewusst, die meisten Mädchen sind da lockerer. Ich will niemandem etwas Böses.”, sagte Herr Hut. “Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Natürlich.”

Entgegen seines Namens trug er keinen Hut, den er hätte lüpfen können, um diese Unverschämtheit noch zu krönen. (Auch keine Krone übrigens.)

Lilið stand still da und atmete. Achtete nur auf den Atem und blickte aufs Meer hinaus. Von den Öwenen war nur noch eine da. Es tanzten hübsche Schaumkrönchen auf dem Meer, aber von der Brandung drang nur ein kontinuierliches Rauschen an ihr Ohr. Eines, das sie liebte.

Sie würde ihrem Vater von diesem Übergriff erzählen. Aber ob es etwas bringen würde? Sie erinnerte sich nun wieder an Herrn Hut. Sie hatte ihn für ein paar Tage im Magie-Unterricht in der Erstschule gehabt. Da war er auch schon eklig gewesen. Lilið erinnerte sich nicht an Details, nur dass ihr Vater mit irgendwelchen Leuten in der Schule gesprochen und sie bald darauf eine neue Magie-Lehrkraft gehabt hatte.

Sie wollte eigentlich wirklich nicht zurück zu den anderen. Sie fühlte sich inzwischen sehr miserabel. Das Gespräch und die Erinnerungen hinterließen ihre Spuren in ihr.

Dennoch sortierte sie sich. Das Kalkühl in ihr gewann mal wieder. Sie wollte wissen, ob Herr Hut an jenem Internat für skorsche Damen unterrichtete. Damit sie wissen würde, mit welcher Priorität sie sich gegen den Besuch des Internats wehren sollte. Ob sie ihm vielleicht eine Woche lang eine Chance geben würde, eh sie es abbräche, oder ob sie, wenn Herr Hut dort unterrichtete, gar nicht erst hinfahren würde. Um keinen Preis.

Während sie ihren Kopf sortierte, sortierte sie außerdem ihre Beute. Ihre Hand, die sie zwischen sich und Herrn Hut eingefädelt hatte, hatte sich nämlich wie aus Versehen in eine seiner Taschen verirrt und ihren Inhalt herausbefördert. Es war ein Ring und ein kleines Etui mit ein paar Marken darin. Sie sortierte alles unauffällig in die weniger offensichtlich eingenähten Taschen ihrer eigenen Kleidung.


Als sie sich zu den anderen setzte, legte Frau Wolle wieder dieses Stück Papier vor ihr ab. Es drohte, im Wind wegzuwehen. Und so sehr Lilið das Papier gern nicht beachtet hätte, ihr Gehirn brachte es nicht über sich, zu akzeptieren, dass es wegfliegen würde, weil sonst niemand eingriff, also griff sie ein. Um es zu erhaschen, musste sie genauer hinsehen, und erkannte, noch während sie wieder in den fürs Basteln eigenen Denkraum abdriftete, dass der Trick mit dem Wind durchaus Absicht gewesen sein könnte.

Sie begriff sofort, als sie das Papier erblickte, dass es doch nicht dasselbe wie vorhin war. Das vorgefaltete Muster war ein anderes. Dankbar schlang sich ihr Gehirn um die Ablenkung von all dem Mist, der gerade ablief. Der Teil ihres Denkens, der gern zufrieden mit sich selber und ihren Leistungen war, ließ sich dieses Mal nicht so leicht bändigen. Binnen kürzesten Momenten hatte sie raus, dass dieses Papier tatsächlich einen Alefinten ergeben würde. Mit filigran gefalteten Stoßzähnen. Und als ihre Hand das Papier berührte, um es am Wegfliegen zu hindern, stob ihre Magie daraus in das Papier. Die Faltungen formten sich so schnell, dass keine der anwesenden Personen folgen konnten. Der entstandene Alefint wollte, wie das Papier, aus dem er gemacht war, davonfliegen, aber Lilið erwischte ihn am Stoßzahn. Und ließ dann doch los, damit der Beweis dieses Unfalls möglichst davon flöge.

Eine der bediensteten Personen, die eigentlich gerade damit beschäftigt gewesen war, Lilið Tee einzugießen, stellte rasch die Kanne ab, sprintete hinterher und brachte ihn zurück. Lilið machte keine Anstalten, ihn entgegen zu nehmen, also gab sie ihn ihrem Vater.

“Ungewöhnliche Magie.”, kommentierte Herr Hut.

Lilið konnte nicht lesen, ob er beeindruckt war. Abfällig wirkte er jedenfalls nicht auf sie.

“Ich würde ihren Skorem auf 160 schätzen.”, sagte Frau Wolle. Sie hingegen klang ziemlich zufrieden.

Nein, stöhnte Lilið innerlich in ihrem Kopf.

“160!”, betonte ihr Vater. “Das ist hoch.”

“Würdest schätzen, oder schätzt du?”, fragte Herr Hut. “Davon abhängig ist schließlich die Aufnahme.”

“Ich schätze ihren Skorem auf 160 ein.”, sagte Frau Wolle ohne Umschweife.

“Dann wirst du hiermit von der Monarchie aufgefordert, besagtes Internat zu besuchen.”, verkündete Herr Hut. Er wirkte nicht sehr überzeugt aber irgendwie bemüht.

“Von der Monarchie?”, fragte Lord Lurch.

“Ab 150 ist das Anordnung der Königin.”, antwortete Herr Hut. “Ich fände das anders auch besser. Sie will schließlich nicht. Oder willst du?”

Lilið schüttelte den Kopf. Ihr war nicht so klar, warum Herr Hut nun plötzlich diesen Kurs einschlug. Ob es Mysogynie war, also er nicht wollte, dass Leute gebildet würden, die er für Frauen hielt, oder ob es war, weil er hoffte, sie würde seine Übergriffigkeit eher nicht verraten, wenn sie nicht bald mehr Zeit miteinander verbringen müssten. Oder wenn er sich für sie einsetzte. Vielleicht waren auch all ihre Ansätze zu Mutmaßungen Unfug.

“Ich hätte mir gewünscht, dass das freiwilliger abgeht.”, sagte ihr Vater sanft. “Aber ich finde, das ist eine gute Chance für dich. Ich habe nichts davon gewusst.” Nachdenklich wog er den vom Fangen leicht angeknitterten Alefinten in der Hand.

Lilið hatte auch nicht gewusst, dass sie ein Papier nur durch eine sanfte Berührung in so aufgewühltem Zustand falten konnte. Obwohl sie oft aufgewühlt gewesen war, kurz bevor sie ein neues Stück Magie durchdrang.

Falten war ihr Spezialgebiet. Falten erschloss sich ihr einfach. Wenn sich ihr die Beschaffenheit von etwas wirklich tief erschloss, dann konnte sie es falten.

Noch ein Grund, dieses Gespräch rasch hinter sich zu bringen. Was, wenn die beiden Lehrpersonen herausfanden, dass sich ihre Faltfähigkeiten nicht nur auf Papier beschränkten?

“Unterrichtest du dort, Herr Hut?”, fragte Lilið frei heraus.

Herr Hut schüttelte den Kopf. “Im Unterricht wirst du mich da nicht genießen dürfen. Ich komme gelegentlich für Gutachten vorbei, aber es unterrichten nur Lehrerinnen.”

Einen Moment wurden Liliðs Horrorgedanken an eine sexuell übergriffige Lehrkraft weggeschoben durch die Horrorvorstellung, nur mit Frauen zusammen zu sein. Oder selbst als eine vereinnahmt zu werden. Interessanterweise wusste sie nicht, was schlimmer war. Intuitiv dachte sie, Übergriffigkeit müsste schlimmer sein, aber es gab Netze, die sich bildeten, sodass sich Betroffene von so etwas gegenseitig schützten. Und sie würde Leute finden, die es verstehen würden. Dass sie sich in einem Raum nicht wohl fühlte, in den sie gesteckt wurde, weil sie für eine Frau gehalten würde, oder dass ihr unangenehm war, wenn etwas in der Richtung ständig irgendwie mitschwang, das verstand bisher niemand. Am ehesten vielleicht ihre Mutter.

Sie wollte dringend zu ihrer Mutter. Und sie brauchte eine Schwinge. Im zweiten Wohnsitz von Lord Lurch, das an einem anderen Ufer der Insel nahe des Leuchtturms lag, wo sich auch Liliðs Mutter derzeit aufhielt, stand eines von diesen eleganten, hölzernen Tasteninstrumenten. Eine Langschwinge, deren Saiten durch die Berührung mit den weichen Hämmern einen sanften Klang aggressiv ertönen lassen konnten. Es hatte Lilið immer geholfen, ihre Emotionen in Musik umzusetzen.

“Ich gehe zu Mutter.”