Ein Langfinger zum nächtlichen Tee

CN: Einbruch, Grusel, Vergiften

Die Zeitanzeige kroch nur langsam dem verabredeten Zeitpunkt entgegen. Alles wirkte still hier, aber das konnte täuschen, das wusste Lilið. Sie tat sich schwer damit, nicht einzuschlafen, und sah immer wieder auf die große Standuhr. In der Wartezeit hatte sie sich das Buch angesehen. Erst hatte sie überlegt, es könnte auch einfach Dreck auf den Seiten sein. Die Zeichen wirkten so unsortiert. Aber es war schwarze Farbe, die nicht so wirkte, als ließe sie sich leicht entfernen oder als wären irgendwelche sandartigen Krümel darin, die auf Dreck hätten schließen lassen. Wenn Dreck, dann am ehesten Schmieröl, das über die Zeit schwarz geworden war, aber wie sollte so etwas halbwegs gleichverteilt auf ungefähr 50 Seiten gelangen?

Lilið gewann das kleine, unsinnige Buch rasch so lieb, dass sie es in ihrer Fluchtjacke tragen wollte. Dünn genug war es dafür. Damit es ihm dabei gut erginge, schlug sie es in Leder ein und nähte eine etwas zu große Tasche in jener wasserdichten Jacke kleiner, damit es genau passte. Die Jacke, in der all ihre wertvollsten Habseligkeiten lebten und die sie immer griffbereit hatte.

Als es endlich Aufbruchszeit war und sie durch ein Fenster beobachtete, wie tatsächlich eine gelangweilte, müde Wache vom Besuchshaus den Weg Richtung Haupthaus einschlug, zog sie die Jacke über, schnürte ihr Reisegepäck an den Körper und schlich vorsichtig die Treppe hinunter. Ein Windhauch bewegte sich durchs Treppenhaus, sonst war alles still. Lilið war trotzdem sofort hellwach, viel wacher, als es zwei halb durchgemachte Nächte und zwei anstrengende Tage erlauben sollten. Da sollte kein kalter Windhauch sein. Die Tür hatte sie nicht offen stehen gelassen. Sie lauschte sehr intensiv und hörte gerade noch, wie sie sehr leise verschlossen wurde. Jemand ließ bewusst die Türfalle nicht einfach einschnappen, sondern hob die Klinke langsam wieder an. Lilið hatte ein Bild einer Gestalt in ihrer Vorstellung vor Augen, die die Tür mit gezielter Kraft zuvor in eine Position fixierte, in der das Einrasten der Schlossfalle am geräuschärmsten wäre. Es war nur ein blasses Klicken.

Lilið dachte darüber nach, Alarm zu schlagen. So ein Verhalten war nicht typisch für die Wachen. Aber Alarm zu schlagen, hätte ihre Flucht vereitelt. Lilið beschloss, sich die Sache zunächst genauer anzusehen, und wenn sie brenzlich würde, das Alarmschlagen nachzuholen.

Sehr vorsichtig schlich sie die Treppen weiter hinab, bis sie in den Eingangsbereich sehen konnte. Sie sah niemanden. Aber die Tür zur Teeküche bewegte sich lautlos, bis sie wieder so angelehnt war, wie Lilið sich erinnerte, sie zurückgelassen zu haben. Die Bewegung der Tür wurde abrupt abgebremst, wohl damit die Tür sich nicht weiterbewegte und irgendwann doch ein Geräusch verursachen würde, wenn sie den Rahmen berührte. Da war definitiv kein Windhauch am Werk.

Der Spalt zwischen Tür und Rahmen war zu schmal für Menschen, um sich hindurchzuschieben. Aber das stellte für Lilið nur ein mäßiges Hindernis dar. Sie atmete einige Male tief ein und aus, dann hielt sie die Luft an und machte sich flach.

Sie verstand Papier und manche andere Bastelgegenstände auf Anhieb so gut, dass sie sie durch Magie und Hautkontakt falten konnte, ohne wirklich nachzudenken. Gegenstände, die nicht speziell zum Basteln gedacht waren und die sie noch nicht so gut kannte, konnte sie nicht mal eben falten. Aber ihren Körper beherrschte sie so sehr, dass sie ihn falten konnte, obwohl er so komplex war. Fast beliebig. Allerdings musste sie bei starker Faltung die Luft anhalten.

Nachdem sie mit dem Kopf voran, flach wie eine Tischplatte, durch die Tür gelangt war, nahm sie wieder ein wenig an Dreidimensionalität zu und schob sich an der Wand entlang noch etwas mehr in den Raum hinein, bis sie einen guten Überblick in alle Nischen hatte. Nun atmete sie wieder, sehr flach, aber völlig ausreichend. Die Gestalt, die gerade damit beschäftigt war, kontrolliert leise Schubladen aus Schränken zu ziehen, diese vorsichtig zu durchsuchen und hinterher wieder zuzuschieben, bemerkte trotzdem etwas und wandte sich um. Das hatte Lilið einberechnet. Sie hielt die Luft abermals an und machte sich flach wie Tapete, sich so faltend, dass sie ungefähr wie die Wand hinter sich aussah. Sie hatte es oft geübt, aber noch nie in einem Ernstfall gebraucht. Sie verharrte sehr ruhig, solange der Blick der Person auf der anderen Seite des Raums auf sie gerichtet war. Die Gestalt wirkte wenig hektisch, sie stand einfach still da. Sie trug eine langes Hemd, das mit einem Gürtel mit allerlei Taschen darin an den Körper gebunden war. Lilið vermutete Werkzeug zum Schlösserknacken darin und musste fast schmunzeln. Ein Langfinger wohl.

Ihr wurde schon allmählich schwummrig, als sich die Gestalt endlich wieder ihrem Tun mit den Schubladen zuwandte. Lilið ließ sehr vorsichtig wieder Luft in ihre Lungen strömen und faltete sich für den Moment ganz aus, blieb einige Atemzüge einfach stehen und beobachtete, wie die Person weiter leise Schubladen durchsuchte.

Was sollte sie tun? Wenn es ein Langfinger gewesen wäre, der bloß Essen stehlen gewollt hätte, hätte sie ihn vielleicht einfach machen lassen. Aber wie er die Schubladen durchsuchte, war er wohl nach etwas anderem her. Nach wertvollen Dingen, wie Silberbesteck? Oder nach etwas sehr Bestimmtem? In letzterem Fall sollte sie wahrscheinlich durchaus die Wachen informieren. Eigentlich war ihr das gerade recht egal, wenn jemand ihrem Vater wertvolle Dinge stahl, aber zum einen wusste sie sicher nicht über alle Schätze und ihre Bedeutung Bescheid, und zum anderen würde sie ihre Mutter gefährden, wenn sie den Langfinger bei so etwas gewähren ließe. Ihrer Mutter wegen waren ja gerade keine Wachen hier.

Sie beschloss, die Teeküche erst einmal wieder zu verlassen, und sich draußen Gedanken zu machen, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie wusste auch um die hohen Strafen, die auf Diebstahl standen. Weil sie selbst ein Diebeswesen war, hatte sie sich sehr genau darüber informiert. Wenn dieser Langfinger nicht gerade das Kind von irgendeinem Lord war, würde das bittere Folgen für ihn haben. Vielleicht tödliche. Das passte ihr eigentlich auch nicht.

Vielleicht konnte sie ihn irgendwie so erschrecken, dass er fliehen würde. Das wäre es! Sie würde nach draußen schleichen und Krach machen, sodass er glaubte, entdeckt worden zu sein. Aber eben erst, wenn sie draußen und selbst sicher wäre.

Sie wandte sich zum Gehen und blickte dabei kurz zur Tür, um nicht über etwas zu stolpern, aber eine Bewegung im Schatten ließ sie lautlos herumfahren. Die fremde Person stand unvermittelt direkt vor ihr. Sie hatte die Strecke zwischen ihnen so leise und rasch überwunden, dass Lilið Magie dahinter vermutete. Die Hände, die sie an ihren Oberarmen gegen die Wand drückten, fühlten sich fast sanft an. Sie klammerten nicht, aber gegen die Kraft der Person hätte sie sich trotzdem nicht ohne Weiteres stemmen können.

Sie konnte ihren Oberkörper kaum mehr bewegen, wohl aber ihre Unterarme. Mit der Hand erwischte sie den Lichthahn, wie in einer routinierten und doch etwas eingeschränkten Bewegung, und drehte das Licht ein wenig auf. Nur ein wenig. Vielleicht fiel es dann vom Haupthaus nicht auf. Immerhin war es ein gutes Stück entfernt und die dunklen Vorhänge der Teeküche zugezogen. Im schwachen Licht erkannte sie ein zartes, ovales Gesicht, von dem sie mutmaßte, dass es regelmäßig glattrasiert wurde, mit dunkelbraunen Augenbrauen und Augen darin, die sie überraschend gelassen musterten.

“Bist du auch eingebrochen und wolltest etwas stehlen?”, fragte die Gestalt, ein schwaches Schmunzeln im Gesicht. Und in der Stimme.

Lilið hatte nicht den Plan, sich anzustrengen, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Es galt hier, so zu antworten, dass sie am besten entfliehen können würde. Dafür wäre vielleicht gar nicht verkehrt, sich als Langfinger auszugeben. Vielleicht könnten sie dann einen Pakt schließen, sich gegenseitig nicht zu verraten, und würden beide rasch fliehen.

“Gehörst du zu den Wachen?”, fragte sie, versuchte dabei, Unsicherheit in der Stimme darzustellen. Das war doch sicher, was ein Langfinger fragen würde, oder nicht? Die Sorge, von einer Wache erwischt zu werden, musste doch vordergründig sein.

Innerlich musste sie grinsen, weil Unsicherheit in ihrer Situation auch so durchaus angebracht gewesen wäre, sie sich aber erstaunlich wenig unsicher fühlte, diese also spielen musste.

“Klar, da gehöre ich zu!”, bestätigte die Person vor ihr. “Deshalb habe ich mir so gedacht, als ich dich erwischt habe, nachdem ich irgendwie verdächtig in Schubladen herumgewühlt habe, dass ich erst einmal offenlege, selbst Langfinger zu sein, weil mir das viel naheliegender erschien, als andere Wachen zu informieren.”

“Nun, ich mag ja manchmal schwer von Begriff sein. Du hast recht, dass mir hätte klar sein müssen, dass du keine Wache bist. Das war meine große Sorge, deshalb war ich wohl fixiert darauf.”, behauptete sie, den spielerischen Tonfall übernehmend, aber mit etwas Kiebigkeit ergänzend. “Aber ich habe durchaus begriffen, dass du mich für schwer von Begriff hältst und mich dafür veralberst.”

Zu ihrer Überraschung ließ der Langfinger sie los und nahm einen Schritt Abstand. Ein unsinniger Teil von ihr wünschte sich die Nähe zurück. Er hatte gut gerochen und sie hatte die interessanten Gesichtszüge gern aus der Nähe studiert. Es war ein schönes Gesicht, fand sie. Der Griff war außerdem zwar kräftig, aber eben auch sanft gewesen.

“Es tut mir leid.” Die Stimme klang überzeugend geknickt, so dass Lilið es der Person durchaus abkaufen mochte. “Mir gefiel es, mir über meine Motivation als eventuelle Wache, so zu handeln, Gedanken zu machen und ich mag Ironie. Mir lag es fern, dich abzuwerten. Und doch verstehe ich, dass das dabei passiert ist. Das tut mir leid.”

Die Person bewegte sich durch den Raum wie es gute Langfinger taten: Leise, zügig, selbstverständlich, den Blick möglichst überall, und setzte sich an den Tisch. Sie machte eine einladende Geste.

“Ich soll mich setzen?”, fragte Lilið.

“Wieviel Zeit haben wir?” Das Schmunzeln war in die warme Stimme zurückgekehrt. Eine Stimme, die etwas direkt unter Liliðs Haut zu elektrisieren vermochte.

Sie nickte. Der Plan stand für sie nach wievor, so eine Art Pakt mit der Person zu schließen, sodass sie beide abhauen könnten, aber die Person keine Gelegenheit mehr hätte, noch nach etwas Bestimmtem zu suchen. “Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben.” Das immerhin entsprach sogar der Wahrheit. Auch wenn sie glaubte, dass ihre Mutter nicht zu knapp kalkulieren würde, wenn es denn möglich wäre, bei so etwas sinnvoll zu kalkulieren.

“Willst du einen Tee mit mir riskieren?”, fragte der Langfinger freundlich.

Lilið hob die Brauen. “So sehr vertraust du mir?”

“Du hast bisher nicht Alarm geschlagen, also schätze ich, dass du mir nichts allzu Böses willst. Oder selbst in Schwierigkeiten gerätst, wenn ich Alarm schlüge, bevor ich verschwände.”, erklärte der Langfinger. “Du nutzt dein Potenzial, mir zu schaden, jedenfalls nicht aus, oder du hast keines.”

Lilið senkte die Brauen wieder, schmunzelte und bewegte sich in Richtung Teeherd. “Oder ich bin einfach deinem Charme verfallen.”, verkniff sie sich nicht, verschmitzt zu sagen.

“Ich finde deinen auch ganz reizend.” Die Stimme war durchsetzt von Albernheit, die den Ernst der Lage trotzdem nicht verfehlte. “Vielleicht kommen wir zu einer Übereinkunft, die uns beide möglichst wenig gefährdet.”

Lilið setzte den Kessel auf und nutzte Magie nur zur Entzündung des Gases, dass sie mit dem Gashahn aufdrehte. Sie hätte es vielleicht hinbekommen, das Wasser komplett mit Magie zu erhitzen. Aber an der Zeit, die es gebraucht hätte, hätte der Langfinger vielleicht einschätzen können, dass sie ihm, was Magie betraf, wahrscheinlich nicht gewachsen wäre.

“Was für eine Sorte hättest du gern?”, fragte sie.

“Die Gleiche wie du.”, erwiderte der Langfinger. “Mach einfach eine kleine ganze Kanne.”

“Bedienen lässt dieser Langfinger sich also.”, erwiderte sie im gleichen alberigen Tonfall, den der Langfinger vorhin angewandt hatte. Sie hatte gute Erfahrungen gemacht, Sympathiegefühle zu erwecken, wenn sie Verhalten spiegelte.

Sie hatte gerade eine Teedose aus einer Schublade im Schrank entnommen, als sie das Geräusch des wackelnden Stuhls vernahm und daher nicht ganz so überrascht war, die Gestalt plötzlich direkt neben sich zu sehen. Jene legte ihre Hände sanft auf die Kesselwände.

Lilið hatte wieder so einen Moment, in dem sie sich an die Stelle des Kessels wünschte. Diese sanfte, bestimmte, zweckmäßige Berührung auf der Haut. Warum fand sie diesen Langfinger so anziehend?

Aber eigentlich war ganz gut, dass sich ihr Blut nur metaphorisch erhitzte, nicht, wie das Wasser im Kessel das tat, das noch einen Moment uninteressiert ob der Hände leise vor sich hin flüsterte und dann, vielleicht als der Langfinger den Kessel begriffen hatte, mit einem Mal sprudelte, dass die Pfeife pfiff. Er entfernte sie mit einer fließenden Bewegung.

Lilið stellte die Teekanne, in die sie das Sieb mit dem Tee gehängt hatte, direkt neben dem Langfinger ab. Sie wagte dabei, ihm ein bisschen näher zu kommen, als eine Etikette es vorgesehen hätte, und stellte zufrieden fest, dass er nicht zurückwich. Wieder roch sie seinen Geruch, als er langsam den Tee aufgoss, sich dazu ihr noch ein Stück näher bewegend, sodass sie sich fast berührten. Er goss mit einer Eleganz ein, wie sie sie vielleicht Frau Wolle zugeschrieben hätte. Der Blick, den er auf sie richtete, als die Kanne aufgefüllt und der Kessel wieder abgestellt war, war fast zu viel. Der Langfinger lächelte kaum, nur ein klein wenig. Sie fragte sich, ob sie den Gesichtsausdruck vollkommen überinterpretierte, aber sie war sich doch recht sicher, dass ihm sehr bewusst war, wie eng sie zusammen standen, und dadurch, dass sie sich so ansehen, klar abgemacht war, dass sie sich die Nähe beide ausgesucht hatten.

“Bringst du die Tassen?”, fragte er leise. Eine angemessene Lautstärke für ihre geringe Distanz.

Sie nickte. Sie tat noch etwas verdatterter, als sie es eigentlich war.

Der Langfinger trug die Teekanne zum Tisch und platzierte sie in der Mitte der Tischplatte auf einen bereitgestellten Untersetzer. Sie nahm sich etwas Zeit dabei, die Tassen aus dem Schrank auszusuchen und zu präparieren, bevor sie sie ebenfalls zum Tisch trug.

“Er muss nicht lange ziehen.”, sagte sie mit einem Blick in die Kanne, sich dem Langfinger gegenüber niederlassend. Wenn er füßeln wollte, würde sie vielleicht nicht ausweichen, überlegte sie. Und nicht nur, um ihm etwas vorzumachen. “Was für eine Übereinkunft hattest du dir vorgestellt?”

“Ich bin auf der Suche nach einer bestimmten Kostbarkeit. Oder wahlweise nach einer meisterhaften Diebesperson, die diesen Gegenstand gestohlen hat oder mit mir stehlen könnte. Er ist sehr gut bewacht. Oder bereits geklaut. Und dann vermutlich auch gut bewacht.”, erklärte der Langfinger sein Anliegen. Nebulös und zugleich durch die ganzen Eventualitäten darin ein bisschen witzig, fand Lilið. “Von deiner Kleidung zu schließen hast du Diebstahl eigentlich nicht nötig zum Überleben. Von deinen Bewegungen zu urteilen wärest du wiederum recht gut darin.”

“Nun ja, aber du hast mich entdeckt.”, wandt Lilið ein. “So meisterhaft kann ich nicht sein. Also, wenn dein Ansatz war, mich zu verdächtigen, besagte, – möglicherweise gar nicht existente –, meisterhafte Diebesperson zu sein.”

Die Diebesperson vor ihr verschränkte die Hände, um das Kinn hineinzulegen und lächelte. “Nein, für so meisterhaft halte ich dich eigentlich nicht. Ohne es böse zu meinen oder dich abwerten zu wollen.”, räumte sie ein. “Noch nicht zumindest.”

Unter Liliðs Haut kribbelte es überraschend warm. Sie überspielte das Gefühl, indem sie den Tee in die Tassen goss, bemüht wenigstens ein wenig elegant dabei zu wirken. Aber ob ihre dünn-ledrigen, fingerlosen Segelhandschuhe das Bild von Eleganz eher untermalen oder schädigen würden, blieb ein Streitthema. Sie selbst fand sie durchaus sehr schön. “Du möchtest mich anwerben und gegebenenfalls trainieren?”, riet sie als nächstes.

“Wenn dir das in den Kram passt, vielleicht.”, antwortete der Langfinger.

Der Dampf stieg aus den Tassen zwischen ihnen in die nur fahl erleuchtete Teeküche hinauf. Lilið mochte das Bild, mochte die Spannung und das Kribbeln dieser Begegnung. Sollte sie sich anheuern lassen? Es fühlte sich ein wenig unreal an.

Eine unscheinbare Bewegung und ein Maunzen von der Tür her ließen sie kurz in die Wirklichkeit zurückkehren. Sie erschreckte sich und erinnerte sich daran, dass die Situation für sie gerade nur so sicher war, weil sie hier daheim war. Das Maunzen kam von einer der nachtaktiveren Katzen, die sich mit erhobenen Schwanz in die Küche schlich und leise und körperbeherrschend auf den Tisch hopste. Lilið frustrierte es ein bisschen, dass sie sich zum anderen Langfinger legte. Er senkte den Blick nicht, als er ihr über das Fell strich, entspannt und beiläufig. Wieder wünschte sich ein Teil von Lilið an die Stelle der Katze, oder alternativ die Katze zu sich. Eine Katze zu streicheln, hätte sie vieleicht geerdet. Sie atmete langsam den herben Geruch des Tees ein, in den sich auch der Geruch jener Person ihr gegenüber mischte, und versuchte, sich zu sammeln.

“Um was für eine Kostbarkeit handelt es sich?”, fragte sie.

“Um einen Bestandteil des Schatzes der Monarchie.” Der Langfinger tauschte mit der freien Hand ihre frisch eingegossenen Tassen. “Du erlaubst, dass ich mir herausnehme, auf Nummer sicher zu gehen?”

Lilið schnaubte. Der Langfinger war schnell gewesen, als er beim Tassentausch ein bisschen Pulver oder eine andere Substanz in nun ihre Tasse hatte schummeln können, aber nicht schnell genug, dass es Lilið entgangen wäre. Nun war der Inhalt der Tasse also doppelt vergiftet. Sie hatte in der Tasse ja vor dem Eingießen bereits ein magenverwirrendes Mittel hineingerieben. Nichts Schlimmes, es hätte nur etwas geschwächt und eine größere Dringlichkeit bewirkt, das Grundstück eilig zu verlassen. “Was das wohl jetzt für ein Cocktail ist? Ich hole uns mal neue Tassen.”

“Ich würde die schon behalten, die ich jetzt habe.”, erwiderte die Diebesperson. Die Finger der einen Hand strichen weiter kontinuierlich durch das Fellpaket, das anfing, leise zu schnurren.

Lilið runzelte kurz die Stirn und befand, dass das Sinn ergab. Sie war immerhin geistesgegenwärtig genug, die Kanne mitzunehmen, als sie sich eine neue Tasse aussuchte. Dies war der Moment, in dem sie tatsächlich anfing, sich zu gruseln. Dieser Langfinger hatte wahrscheinlich das Potenzial, sie zu überlisten.

“Wie heißt du eigentlich?”, fragte sie, um abzulenken.

“Marusch.” Wie der Langfinger das aussprach, klang es fast schüchtern.

“Ein Frauenname.”, stellte Lilið fest, als sie sich gegenüber der Person wieder niederließ. Sie goss sich ihre Tasse ein und platzierte die Kanne etwas abseits der Mitte, sodass sie Marusch zwischen Katze und Kanne hindurch im Auge behalten konnte. “Eigentlich zumindest.”

“Warum eigentlich?”, fragte Marusch. “Ich fand ihn schön und habe ihn mir ausgesucht. Wohl wissend, dass es ein Frauenname ist.”

“Ich heiße Lilið.”, sagte Lilið und biss sich kurz darauf fast metaphorisch auf die Zunge. Das hatte sie eigentlich nicht preisgeben wollen. Nun gut. Hoffentlich war nicht allzu weitreichend bekannt, dass das Kind des Lord Lurchs so hieß. “Und ich bin keine Frau.”

In Maruschs Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das mehr für Marusch selbst zu sein schien als für Lilið. “Ich auch nicht. Aber ein Mann halt auch nicht. Ich mag gern nah dran an einer Frau sein.”, sagte Marusch. Immer noch war diese Ängstlichkeit in der Stimme, die Lilið bei dem Thema nachfühlen konnte. “Es ist schön, verstanden zu werden. Zumindest ein wenig.”

Lilið berührte, wie Marusch reagierte. Sie trank sehr vorsichtig einen kleinen Schluck von ihrem Tee. Viele Gedanken rannen durch ihren Kopf wie Regenrinnsale, die sich ihren Weg auf einer Scheibe suchten. Sollte sie mit Marusch gemeinsam fliehen? Weil sie diese Geschlechtssache verband? Oder weil ihr Körper auf Marusch elektrisiert reagierte und sie das Abenteuer mochte? “Wenn ich über dich rede, möchtest du dann, dass ich es so tue, als würde ich von einer Frau reden? Mit ‘sie’ und allem?”, sprach sie die nächste Frage, die ihr kam, direkt aus.

Marusch gab ein amüsiertes Geräusch von sich. “Am liebsten möchte ich, dass du gar nicht über mich sprichst. Aber wenn, dann, hm. In meinem Kopf fühlt sich ‘er’ manchmal noch sicherer an. Ein zartes ‘er’ vielleicht. Aber wenn du mich je im Kleid sehen solltest, dann lieber ‘sie’.” Marusch wirkte einen Moment sehr nachdenklich. “Mache ich es für dich kompliziert? Ich würde wirklich gern mit dir zusammenarbeiten.”

“Die Pronomensache und so ist nicht das Problem.”, hielt Lilið fest.

Marusch wirkte mit einem Mal weicher, fast so weich wie die tiefenentspannte Katze. “Wenn es wirklich kein Problem für dich ist, dann vielleicht doch ‘sie’.”, sagte sie fast schüchtern. “Ich habe es schon in der Familie und im Freundesumfeld probiert und es fiel ihnen verschieden schwer. Ich fühle mich noch nicht immer sicher genug, es trotzdem zu wollen, wenn es Leute belastet, vor allem, wenn ich sie mag.”

Lilið nickte und lächelte einladend. “Es belastet mich gar nicht und ich verstehe nicht, warum es das bei anderen tut. Ich weiß, dass das passiert, aber, gnarfz!”

Marusch nickte mit dem Ansatz eines Lächelns, das erleichtert und traurig zugleich auf Lilið wirkte. Vielleicht interpretierte sie aber auch zu viel hinein.

Es war seltsam leicht, ein Gespräch über diese Details zu führen, obwohl sie bisher in solchen Gesprächen immer schon bei der Schwierigkeit stecken geblieben war, worum es überhaupt ging. “Ich bin mir über meine auch noch nicht im Klaren.”, sagte sie. “Ich glaube, ich mag ‘sie’ schon sehr gern, aber manchmal mag ich auch ‘es’.” Sie seufzte fast, als sie hinzufügte: “Ich sehe eher ein Problem darin, dass ich nicht für eine gute Grundlage für eine gemeinsame Diebeserklärung halte, dass wir uns gegenseitig anlügen und versuchen zu vergiften.”

“Ich hingegen halte, dass du nun zugegeben hast, dass du mich angelogen hast und versucht hast, mich zu vergiften, für einen guten Anfang, das Problem zu lösen.” Maruschs nun wieder breites Grinsen war schön und steckte an, und das, obwohl ihre Worte Lilið sauer machten.

“Und du möchtest lieber nichts zugeben?”, fragte sie.

Im nächsten Augenblick fragte sie sich, ob sie damit wieder metaphorisch auf die Nase fallen würde. Als sie gemeint hatte, Marusch würde sie wegen Begriffsstutzigkeit abwerten, hatte Marusch sofort eingelenkt und sich entschuldigt. Als Lilið sich beschwert hatte, Marusch würde nicht helfen, war sie sofort da gewesen und hatte das Wasser erhitzt.

“Ich habe dich, wenn wir von der Ironie am Anfang absehen, mit der ich behauptet habe, eine Wache zu sein, weder angelogen, noch versucht, dich zu vergiften.”, sagte Marusch gelassen. Ernst dieses Mal. “Ich mag trotzdem noch ehrlicher sein, wenn du möchtest. Ich habe testen wollen, ob du davon mitbekommen würdest, wenn ich versuchen würde, dir etwas in den Tee zu tun. Daher habe ich so getan als ob.”

“Würdest du”, Lilið brach direkt ab. Sie hätte fragen gewollt, ob Marusch einen Schluck aus der Tasse trinken würde, die nun am Rande stand und abkühlte. Aber sie hatte schon selbst verraten, dass sie Gift hineingegeben hatte. “Es fällt mir schwer, dir zu glauben.”, gestand sie also.

“Das kann ich verstehen.”, erwiderte Marusch. “Vertrauen im Diebesgewerbe ist wohl eine schwierige Sache. Und deshalb würde ich gern zuvorkommend in noch zwei anderen Punkten offen sein: Ich werde dir wenig über meine Identität vor Beginn meiner Diebeskarriere erzählen, selbst wenn wir uns besser kennen lernen. Und, – es würde mich überraschen, wenn es dir entgangen wäre –, ich finde dich anziehend. Beides Gründe, aus denen ich verstehen könnte, dass du nicht willst.”

Das Gefühl, dass Lilið durchschoss, als Marusch die Sache mit der Anziehung direkt ansprach, war heiß und flüssig, ließ sie fast weich in den Knien werden. Glücklicherweise saß sie. “Es ist mir nicht entgangen.”, sagte sie. Sie verzichtete darauf, zuzugeben, dass sie ebenso empfand.

Die Katze streckte sich zu einer erstaunlichen Länge, kroch unter Maruschs Hand hervor und sprang vom Tisch. Ihr Verschwinden erinnerte Lilið daran, dass sie vielleicht nicht mehr viel Zeit haben würden und sie fragte sich, was sie mit dieser Zeit machen sollten. Sie beobachtete, wie Marusch ganz entgegen ihres Eilegefühls genießend einen Schluck Tee trank, mit geschlossenen Augen und mit einer Ruhe, die sich auf sie zu übertragen versuchte.

“Ich soll auf ein Internat für skorsche Damen nach Frankeroge geschickt werden.” Warum sagte sie das? Irgendetwas hatte sich in ihr gelöst. Vielleicht, weil Marusch so ruhig war und sie über Frausein und Nicht-Frausein gesprochen hatten. Lilið schluckte.

“Es spricht nun einiges dafür, dass du hier eigentlich zu Hause bist und fliehen möchtest.”, schloss Marusch.

“Was?”, fragte Lilið. “Wie kommst du darauf?” War es so offensichtlich?

“Ich sagte am Anfang schon, dass du durch deine Kleidung nicht wirkst, als hättest du stehlen nötig.”, erinnerte Marusch. “Und du bist wahrscheinlich gut, aber machst auf mich eher den Eindruck eines Gelegenheitslangfingers als den einer meisterhaften Person, die es auf sehr spezifische Wertgegenstände abgesehen hätte. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass du mir durch sehr gutes Schauspiel einen falschen Eindruck vermittelst, aber ich halte erst einmal anderes für wahrscheinlicher.” Marusch trank noch einen Schluck Tee. Dieses Mal etwas eiliger und doch ersichtlich genießend. “Wenn ich dich hier also zufällig treffe, und nicht weil du eine ähnliche Fährte hast wie ich, dann ist nicht unwahrscheinlich, dass du hier in der Gegend wohnst. Als Person mit eher gut gepflegter Kleidung gehörst du dann wahrscheinlich zu Lord Lurchs Hofstaat, ob als bedienstete Person oder Teil der Familie. Wenn du ein Internat für skorsche Damen besuchen sollst, dann eher zur Familie. Und darüber, dass du keine Dame bist, sprachen wir schon. Das legt eine Motivation für eine Flucht nahe. Dafür würden auch die Segelhandschuhe und dein Gepäck sprechen.”

Lilið sah hinab auf ihre Segelhandschuhe, in denen sie ihre eigene Tasse hielt. Sie trank ebenfalls noch einen Schluck, schloss unwillkührlich die Augen, als das mild herbe Gebräu ihren Mund erwärmte. Sie befand, dass Maruschs Schlussfolgerung tatsächlich naheliegend klang und auch nicht allzu sehr schaden würde, wenn sie es bestätigte, also nickte sie.

Marusch trank die eigene Tasse leer und stellte sie ab. “Wenn du nicht mitkommen würdest, würde ich dir eher raten, auf dem Weg zum Internat zu verschwinden als jetzt schon. Frankeroge ist nicht gerade um die Ecke. Wenn du auf dem Weg so verschwindest, dass dein Fehlen nicht sofort auffällt, wird das Suchen nach dir dadurch schwieriger. Vielleicht ergibt sich ja sogar, dass du eine Dame findest, die gern so tun mag, als wäre sie du.”, schlug Marusch vor. “Letzeres würde sicher nicht einfach werden, aber wenn es klappt, würdest du dann erst einmal gar nicht gesucht.”

“Warum gibst du mir Tipps?”, fragte Lilið.

Marusch zuckte mit den Schultern. Ein etwas nachdenklicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. “Gute Frage. Ich”, doch weiter kam Marusch nicht. Sie lauschten beide auf die Schritte, die sich vorm Haus im Kies näherten.

Marusch räumte rasch die Teekanne und die gebrauchten Tassen in den Schrank zurück, die noch gefüllte eingeschlossen. Lilið huschte zur Tür, öffnete sie für Marusch etwas weiter und drehte das Licht aus. Binnen Bruchteilen von Sekunden entschied sie sich, Maruschs Vorschlag zu befolgen. Wenn sie jetzt flöhe, wäre das viel riskanter, als auf dem Weg zum Dameninternat. Sie sollte sich dann aber bis zur Abfahrt besonders brav verhalten.

Sie folgte Marusch durch die Tür der Teeküche in den Flur. Sie tauschten einen Blick in der Dunkelheit. Lilið schüttelte den Kopf, nicht sehr überzeugt, vielleicht etwas traurig, um Bescheid zu geben, dass sie nicht mit ihr mitkommen würde. Dann ging alles sehr schnell. Eine Hand berührte sie sehr sanft für einen kurzen Moment an der Wange. “Ich hoffe wir sehen uns mal wieder, Lilið.”, hörte sie Maruschs leise, warme Stimme in ihrem Ohr. Sie konnte nicht einmal so etwas Albernes wie ‘ich auch’ sagen, da fühlte sie wieder den kalten Windhauch von der Tür aus. Dieses Mal drohte sie, einfach zuzufallen. Lilið eilte die paar Schritte zu ihr und schloss sie, vermutlich auf etwa die gleiche leise Art, wie Marusch es vorhin getan hatte. Dann schlich sie die Treppen hinauf, und noch bevor sie die obere Stufe erreicht hatte, spürte sie wieder den kalten Wind von der Tür und hörte dieses Mal auch deutlich, wie sie geöffnet wurde. “Niemand verlässt das Haus, es ist umzingelt!”, hörte sie die Stimme einer Wache, sich vorsichtshalber an mögliche Eindringlinge richtend.

Sie wollte auch nicht hinaus. Sie wollte ihre Reisesachen im Bettkasten verstecken, sich rasch nachtfein umziehen, sich die Haare verstrubbeln und dann so tun, als hätte sie keine Ahnung, was los wäre, und als wäre sie gar nicht so glücklich, gerade geweckt worden zu sein.

Hoffentlich hatte Marusch es geschafft.