Zum letzten Mahl
CN: Schmerzen, Sanism, Messer, Blut, Gore/Splatter, Apathie, Mord an mehreren Personen, Gift, Ratte, Panik vor Luftnot, Fesseln.
Lilið war eigentlich ganz froh, dass sie dieses Gespräch nicht sofort führten. Drude wollte an sich, aber war auch sehr müde. Sie hatte im Gegensatz zu Lilið kaum geschlafen, weil sie den Moment hatte abpassen wollen, in dem Lilið sich entfaltete. Sie hatte natürlich auch Pflichten gehabt, die sie in dem Vorhaben eingeschränkt hatten.
Lilið machte es sich in einem hinteren Winkel des Raums auf einer Decke gemütlich, die Drude ihr vorbeigebracht hatte, trank das ebenso mitgebrachte Wasser aus dem Trinkschlauch in kleinen Schlucken und hoffte irgendwie, dass es auch ein bisschen gegen den Hunger helfen könnte. Das Drachenfutter rührte sie nicht an, auch wenn sie den Neid nicht ganz verdrängen konnte, den sie fühlte, als sie der Abe beim Fressen zusah. Die Mahlzeit der Abe bestand aus Nüssen und rohem Fleisch. Beides röstete sie mit gezielten Flammen. Es sah sehr genüsslich aus.
Dann kroch die Abe einfach zu Lilið unter die Decke und kuschelte sich an. Lilið war wirklich noch nie so eine zahme Abe begegnet. Sie sortierte sehr vorsichtig ihre eine Hand auf den Rücken des Tiers und kraulte es dort. Die Abe gab ein sehr leises, wohliges Geräusch zwischen Krähen und Glucksen von sich, das Lilið auch noch nie von einer Abe gehört hatte, aber positiv bewertete, weil sich der kleine Drache nicht wehrte.
Lilið war auch müde, aber zwei Dinge hielten sie noch vom Schlafen ab: Die Schmerzen, die sie immer noch in ihrem ganzen Körper fühlte, auch wenn sie inzwischen dumpfer geworden waren, und das Wissen, dass dies eine verstreichende Gelegenheit war, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie sich in dieser Lage verhalten sollte und wie sie sie am erfolgreichsten verbessern konnte.
Sie war also tatsächlich auf das Schiff mit der Kronprinzessin gelangt. Sie hatte sie allerdings noch nicht gesehen, Drude könnte auch auf ihre Vorlage gekonnt mit einer Lüge eingegangen sein, aber eigentlich ging Lilið davon aus, dass wenigstens der Teil des Plans geklappt hatte. Aktuell hatte sie die Wahl dazwischen, versteckt zu bleiben oder sich eine geschickte Geschichte auszudenken, warum sie als Nautika an Bord wäre. Von der zweiten Alternative müsste sie Drude überzeugen, obwohl Drude sehr klar gemacht hatte, dass das nicht zur Debatte stünde. Aber der Plan hatte noch einen weiteren Haken, den Drude bereits erwähnt hatte: Die Crew hatte schon ein Nautika beseitigt, sie würde ihr sehr genau auf die Finger schauen. Lilið würde also ein sehr gefährliches Spiel spielen, wenn sie versuchen würde, Maruschs und ihrem Plan nachzukommen. Selbst wenn sie die Kagutte nicht zurück Richtung Nederoge steuern würde, also weniger offensichtlich falsch navigieren würde. Vielleicht müsste sie sich erst einmal Vertrauen erarbeiten und ein oder zwei Tage sinnvoll navigieren, bevor sie etwas wagte, aber dann wären sie aus der Region bestimmt schon raus, die sie mit Marusch abgesprochen hatte. Vielleicht war es sogar wahrscheinlicher, dass die Kagutte sich in der Gegend verführe, wenn kein Nautika sie leitete, was ja der Fall war. Sie hatten ja kein Nautika!
Lilið grinste. Es war in jedem Falle besser, unbemerkt zu bleiben. Vielleicht wäre ein guter Plan, zu versuchen, Informationen über das Schiff zu sammeln, wo die Prinzessin darin versteckt wäre und wie sie beim Navigieren ohne Nautika vorgingen, sich dann irgendwann in der Nähe einer Insel vom Schiff zu stehlen und Nachricht an die Königin zu versenden oder so. Wenn je die Nachricht einer so niederen Person wie Lilið bei der Königin ankommen würde.
Ob die Abe tatsächlich ein Postdrache war? Mit der eine Nachricht verschickbar wäre? Bei den Gedanken strich sie besonders weich zwischen den Flügeln hindurch über den Rücken des Drachens. Ob sie nur auf Drude hörte oder ob auch Lilið sie von etwas überzeugen könnte?
Lilið merkte gar nicht, wie sie mitten in ihren Überlegungen zu schlafen anfing und auf einmal selbst auf Drachen ritt. Ein alter Menscheheitstraum, aber es gab keine Drachen, die groß genug waren. Oder auch nur willens. Das aber kümmerte ihren Traum wenig.
Der Schlaf war nicht von langer Dauer. Der Raum hatte zwar kein Fenster, aber zugige Ritzen, durch die nur sehr schwaches, graues Licht fiel, als Drude die Tür vorsichtig aufschob und hineinlugte. Licht, das darauf schließen ließ, dass der Tag gerade erst am anbrechen war, noch wohl so eine Stunde vor Sonnenaufgang vielleicht. Die Abe hopste sofort unter der Decke hervor und auf Drude zu, aber Drude versuchte sie halbwegs erfolgreich abzuwimmeln. Sie trug ein großes Tablett in den Händen, schloss die Tür mit dem nackten Fuß und kam auf Lilið zu.
“Kannst du im Dunkeln sehen?”, fragte Lilið.
“Nein, aber mich orientieren schon.”, antwortete Drude. “Lil, mach mal Licht an, bitte!”
Die Abe tat ihr den Gefallen, sich zur Deckenleuchte aufschwingend. Diese schaukelte wieder im ersten Moment, aber dieses Mal war es Lilið nicht so unangenehm. Die Augen erholten sich allmählich. Sie blickte hinab auf das Tablett, wo die verschiedenen Schalen mit Früchten und Bällchen, Soßen, Fladen und Gemüse wandernde Schatten warfen. “Wow, das ist ziemlich krasses Essen.”, sagte sie.
“Ein letztes Mahl.”, antwortete Drude und setzte sich ihr gegenüber auf dem Boden. Die Abe flatterte auf sie zu und hängte sich in einer alberig verspielten Weise an Drudes Arm. Drude kam wahrscheinlich nur deshalb nicht ins Straucheln, weil sie es gewohnt und außerdem sehr kräftig war.
“Meinst du so etwas wie Henkersmahlzeit?”, fragte Lilið. “Wobei, wenn du das meinst, mir deine Variante besser gefällt! Da steckt weniger Geschlecht drin.”
“Interessante Prioritäten.” Drude wirkte irgendwie belustigt, obwohl sie nicht einmal lächelte. “Aus meiner Erstsprache übersetzt heißt es letztes Mahl oder letzte Mahlzeit, letztes Essen, so etwas. Ich glaube, in deiner heißt es tatsächlich Henkersmahlzeit.” Drude zog die Augenbrauen etwas zusammen. “Henkendenmahlzeit?”
“Willst du mich also doch töten?”, fragte Lilið, die Prioritäten nun vielleicht mehr nach Drudes Erwartungen ausrichtend.
“Eigentlich mag ich gar nicht so gern töten. Das würde ich lieber vermeiden.” Drude riss sich ein Stück vom Fladen ab, griff sich damit ein Bällchen und tunkte es in einen Dip. “Iss. Sonst weckst du mit deinem Magen noch den Rest der Crew.”
Lilið schluckte. Immer noch fühlte sie sich erstaunlich wenig ängstlich. Aber sie fühlte sich auch nicht mehr so unreal wie an den vergangenen Tagen. Vielleicht war sie einfach nicht so der Angst-Typ. “Wirst du es trotzdem tun?”, fragte sie. “Oder es eine andere Person tun lassen?” Lilið fragte sich nur kurz, ob die Lebensmittel vielleicht vergiftet sein könnten. Sie würde sie jeweils vorsichtig probieren und hoffen, dass ihr der Geschmack etwas verriete, aber eigentlich glaubte sie nicht, dass Drude es mit Gift probieren würde. Zumal sie mitaß. Lilið tat ihr einfach mit Fladen, Bällchen und Dip nach.
“Du bist in einer Lage, die du nur mit viel Glück überleben wirst, selbst wenn ich dich nicht verrate. Es würde schon halb an ein Wunder grenzen, wenn du über ein bis zwei Wochen nicht entdeckt würdest, du musst zwischendurch aufs Klo wie gestern vorm Einschlafen, all diese Dinge. Und eigentlich ist mir das zu heikel, weil ich nicht bei allen in der Crew beliebt bin und sie mir etwas antun könnten, wenn herauskäme, dass ich dir helfe.”, informierte sie. “Ich werde dich also in eine andere Lage bringen, die du nur mit viel Glück überleben wirst. Aber eine Lage, in der wir gemeinsam vielleicht einige andere Leben retten können.”
Das Bällchen schmeckte nicht nach irgendeinem Lilið bekannten Gift, und außerdem ausgezeichnet. Sie hatte vielleicht noch nie so etwas Gutes gegessen. Sie überkam ein merkwürdiges Gefühl dabei, dass Drude tatsächlich meinte, dass dies vielleicht ihr letztes Mahl sein könnte. “Hast du vor, mehr darüber zu erzählen, oder mich”, Lilið überlegte, ob sie den Witz wirklich machen sollte, aber hielt sich dann doch nicht davon ab, “einfach ins kalte Wasser zu schmeißen?”
Drude lachte tatsächlich leise. “Du bist nicht aus der Ruhe zu kriegen. Das ist mir gestern schon aufgefallen.”, sagte sie. “Mit kaltem Wasser liegst du aber auch halbwegs richtig. Also: Es ist ein Schiff gesichtet worden, das uns folgt.”
Lilið hielt einen Moment im Abbeißen inne, aber versuchte dann, unbeeindruckt weiter zu essen. Hieß das vielleicht, dass Marusch erfolgreich ein Schiff hinter ihnen hergeschickt hätte? Zeitlich konnte das passen. Dann wäre Marusch wirklich nicht das beseitigte Nautika gewesen. Oder hätte vorher schon Gelegenheit gehabt, etwas in die Gänge zu leiten.
“Eine Kriegskaterane aus dem Königreich Stern.”, fuhr Drude fort.
Lilið war nicht gewohnt, dass der Name Stern dazugesagt wurde, weil sie ja im Königreich Stern lebte. Aber ihr fiel wieder auf, dass sie den Namen ‘Königin Stern’ durchaus mochte.
“Wir werden sie hoffnungslos platt machen, wenn sie sich zu weit nähert.”, fügte Drude hinzu.
“Bist du sicher? Eine Kriegskaterane der Monarchie?” Lilið runzelte die Stirn. “Einfach hoffnungslos platt?”
Drude nickte. “Wir haben die Prinzessin entführt. Wir haben eine bestens bestückte Crew, was Offensive und Defensive angeht. Offiziell steht König Sper nicht auf unserer Seite, aber er hat uns mehrere seiner Wachen mitgegeben. Die natürlich hinterher nicht mehr offiziell in seinem Dienst stehen dürfen, aber einen sehr erholsamen Abend fristen werden, wenn die Mission erfolgreich ist.”, erklärte Drude. “Eine Flotte aus so vier bis fünf Schiffen könnte uns vielleicht etwas anhaben. Eine einzelne Kriegskaterane? Definitiv nicht.”
“Warum erzählst du mir das?”, fragte Lilið.
“Weil ich dich auf die Kriegskaterane bringen werde.”, informierte Drude. “Bevor sie nah genug dran ist. Und du musst sie davon überzeugen, dass sie sich nicht nähern sollen. Erzähl ihnen, dass wir übermächtig sind. Erzähl ihnen, dass wir trotzdem die Kronprinzessin nicht haben entführen können und dass sie wahrscheinlich irgendwo anders untergetaucht wäre. Auf diese Weise kannst du deren Leben retten.”
Lilið fühlte nun doch ein leichtes Grauen, als sie sich Drudes Idee ausmalte. Von einer feindlichen Kagutte kommend auf einer Kriegskaterane der Monarchie vorzuschlagen, sie mögen doch bitte umkehren, war schon eine Nummer. “Wieso denkst du, dass ich lügen würde?”, fragte sie.
“Es ist deine Sache. Ich wünschte, ich könnte dich zwingen.”, erwiderte Drude. Sie strich sich den Schwanz der Abe aus dem Ausschnitt und nahm sich ein neues Bällchen in einen Brotschnipsel. “Und das ist auch etwas, was mir am Plan nicht passt. Du bist dann mit wertvollem Wissen von Bord. Aber ich sehe es pragmatisch. Entweder, du schaffst es, sie anzulügen. Dann dreht die Kriegskaterane um, segelt zurück, und sobald du Gelegenheit hättest, dein Wissen dann doch einzubringen, wären wir zu weit entfernt, um eingeholt zu werden. Oder du lügst sie nicht an. Dann greifen sie uns wahrscheinlich an und die volle Besatzung der Kriegskaterane geht drauf, weil gewisse Leute hier an Bord keine Überlebenden übrig lassen würden, die später von dem Überfall berichten könnten. Du hast keine Möglichkeit, uns groß zu schaden. Du hast nur eine Möglichkeit, größeren Schaden zu verhindern und ich schätze dich so ein, dass du sie nutzt.”
Lilið aß ein paar Antomantinen und blickte Drude dabei nachdenklich an. “Es ist schon ein recht merkwürdiges Gefühl, dir so ausgeliefert zu sein.”, sagte sie. “Sagen wir, alles läuft nach deinem Plan: Ich komme dort an Bord, lüge erfolgreich und sie drehen um. Dann, deiner Bezeichnung dieser Köstlichkeiten als mein letztes Mahl nach zu urteilen, gehst du immer noch davon aus, dass ich nicht überlebe.”
Drude nickte. “Ich würde es dir anders wünschen.”, sagte sie. “Ich wünsche dir, dass du irgendwie gerissen genug bist, eine Geschichte geschickt einzufädeln oder so etwas. Aber du wärest dann eben erst einmal als gesetzeslose Person in den Händen der königlichen Wachen. Vielleicht kämst du auch aus der Lage irgendwie raus, wenn du dich im richtigen Moment faltest. Ich weiß nicht, wie sie Gefangene handhaben.”
“Ich habe gehört, die Gefängnisse der Monarchie werden von Wachen bewacht, die Magie anderer nicht nur aufspüren, sondern auch unterdrücken können.”, murmelte Lilið.
Drude nickte. “Aber solche sind sehr sicher nicht an Bord.”, sagte sie. “Dazu sind sie zu wertvoll und im Königreich Stern noch zu selten. Die bewachen nur die Hochsicherheitsgefängnisse.”
Die, wo der Blutige Master M eingekerkert würde, wenn er gefangen genommen würde, dachte Lilið. Sie entschied sich, falls es plötzlich eilig gehen musste und falls sie auf dem anderen Schiff nichts zu essen bekommen würde, sich mehr auf Fladen und Bällchen zu konzentrieren, die über längere Zeit satt machen würden als die leckeren Antomantinen. “Wie hast du vor, mich zu zwingen?”
“Wenn du nicht in irgendetwas Praktisches zum Mitnehmen gefaltet bist, wenn ich mit dir hier rausgehen will, werde ich der Crew von dir erzählen.”, informierte Drude sachlich.
Lilið lächelte und wusste selbst nicht genau, warum. Das wirkte so vorhersehbar auf sie. Sie kaute den frisch in den Mund geschobenen Bissen auf. Selbst die Fladen, die normalerweise nicht so furchtbar spannend waren, schmeckten wundervoll. Leicht mehlig und kräuterig und sehr weich. “Wie fühlst du dich dabei so, mich so fies zu nötigen?”, fragte sie.
“Nicht gut.”, antwortete Drude. “Ich wünsche mir heimlich, dass du irgendwann so etwas sagst wie: Ja, Drude, ich verstehe, dass auch du keine Wahl hast und arrangiere mich gern mit der Situation, weil es der beste von all den miesen Wegen ist.”
Lilið fühlte sich an Marusch erinnert. Marusch hatte auch von Pfaden geredet und davon, nach Wahrscheinlichkeiten einen auszuwählen. Was würde sie an Drudes Stelle tun? Und was würde sie tun, würde Drude ihr die Wahl lassen? “Du könntest an meiner statt auf die Kriegskaterane gehen und denen Lügenmärchen erzählen.”, schlug Lilið vor.
“Muss ich dir erklären, warum das Unfug ist?”, fragte Drude. “Also, selbst wenn ich mein Leben gewaltig aufs Spiel zu setzen bereit wäre?”
“Hm.”, machte Lilið. “Ja, ich glaube schon, dass du das musst.”
“Ich könnte nicht entfliehen, indem ich mich irgendwie falte. Ich habe nur eine weitere Form.”, erklärte sie. “Wenn ich es wirklich dazu brächte, dort an Bord zu verhandeln, lassen sie mich nicht wieder zurück zur Kagutte. Selbst wenn sie dann nicht angriffen, wäre ich dann dort gefangen und quasi tot, und du ohne mich hier. Was soll das bringen?”
Lilið nickte. “Das ergibt mehr Sinn, als ich vermutet hätte.”, gab sie zu. Die Bällchen waren fast alle. Lilið nahm sich nun eine Traube, von denen sie noch nicht gegessen hatte. “Wie käme ich an Bord?”
“Ich schwimme dich hin und schmeiße dich.”, antwortete Drude. “Ich würde dir so eine Form wie einen Fisch empfehlen, einen eher stabilen. Dann kommen sie wahrscheinlich nicht auf die Idee, dass du allgemein falten kannst, sondern dass du so wärest wie ich. Das erhöht deine Fluchtchancen später.”
“Ich kann als Fisch trotzdem nicht unter Wasser atmen.”, erinnerte Lilið.
“Damit habe ich auch nicht gerechnet. Dass ich mich entsprechend verändern kann, liegt daran, dass ich in meinen ersten zehn Lebensjahren quasi im Wasser gelebt habe. Das ist eine extrem seltene Fähigkeit.” Drude wirkte nicht stolz darauf.
“Das ist schon ziemlich cool!”, sagte Lilið trotzdem. “Ich wünschte manchmal, meine Magie wäre besser für Offensive oder Defensive geeignet. Aber es ist bloß falten. Das ist nicht so mächtig. Ich kann damit vielleicht brauchbar fliehen.”
“Und Leute nachahmen.”, fügte Drude hinzu und schnaubte. “Ich verhalte mich in meinem Sinne sicher nicht vorteilhaft, wenn ich dir sage, dass du deine Fähigkeiten nicht unterschätzen solltest, und dass es keineswegs nur falten ist, was du tust.”
Lilið runzelte skeptisch die Stirn. “Was denn noch?”
“Ich mag dich daran erinnern, dass du ein Würfel warst.”, sagte Drude. Sie zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger die Größe an. “So klein. Und zwar einer, der auch nicht irgendwie auffällig dadurch gewesen wäre, dass eine Person ihn aufzuheben versucht hätte und dabei bemerkt hätte, dass er so 80 bis 100 Kilogramm schwer ist. Ich kann nicht sehr genau dein Gewicht einschätzen. Passt das?”
Lilið legte die Traube, die sie in der Hand hielt, vorsichtig wieder ab. “Oh, daran habe ich gar nicht gedacht.”, sagte sie.
Drude lachte wieder ein lautloses Lachen. “Nicht einmal dran gedacht hast du.”, sagte sie. “Aber dass es irgendwie vor sechzig Jahren oder so in eurem Königreich diesen Ober-Magiegelehrten gab, auch so ein sexistischer Kackmensch, der das erste Mal überhaupt festgestellt hat, dass es möglich ist, durch tiefes Verständnis relativistischer Magie die Masse von Materie zu verändern, und es auch heute nur eine handvoll Menschen gibt, die das nach langem Studium beherrschen, weißt du schon, oder?”
“Ich habe es gestern das erste Mal getan. Ich habe nicht darüber nachgedacht.”, verteidigte Lilið sich. “Aber an sich ja, von dem habe ich gehört. Und habe eine ähnliche Meinung über ihn.”
“Unterschätz nicht, was du damit tun kannst!”, wiederholte Drude. “Aber unterschätz das lieber wann anders nicht. Iss noch drei Bissen, und dann sollten wir auch los.”
Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich in einen Fisch zu falten und in der Form einfach in eine Jackentasche gesteckt zu werden. An der Art, wie Drude sie anhob und wie sie nun mit ihrem Gewicht am Stoff zog, bemerkte sie, dass das mit dem Gewicht nicht so gut geklappt hatte wie bei ihrer Faltung zum Würfel. Sie fragte sich, um wieviel sie zu schwer für eine Dornflunder war. Sie hatten sich auf eine Dornflunder geeinigt, weil Dornflundern stabile Haut hatten, also einen Aufprall auf einem Schiffsdeck ganz gut überstehen würden (wobei Liliðs Haut nur so aussah wie die einer Dornflunder, aber ihre ganz eigene, noch stabilere Konsistenz hatte), und weil die Dornflunder flach war und mit ihren Flügeln die Flugbahn im Zweifel noch beeinflussen konnte.
Drude ging mit ihr in der Tasche zügigen Schrittes über das Deck und irgendwo, dem Gefühl nach, eine Treppe hinunter. Dabei grüßte sie knapp einige Leute.
In der Kagutte gab es eine Tür, die speziell für Drude eingebaut worden war. Das wunderte Lilið ein wenig, gerade weil Drude doch erklärt hatte, dass sie nicht bei allen beliebt wäre. Aber sie gehörte wohl doch so sehr dazu, dass am Schiff eine Anpassung für sie vorgenommen worden war.
Die Tür lag unter Wasser und es bedurfte Magie, sie so zu öffnen, dass kein Wasser hineinfloss. Drude beherrschte diese Magie.
Lilið bekam deshalb davon mit, weil Drude sie vor der Tür wieder aus der Tasche herausgenommen und in einer Ecke auf dem Boden abgelegt hatte, um sich selbst vollständig zu entkleiden. Ihre Sachen verstaute sie in einem an der Decke angebrachten Schrank, dessen Klappe nach oben aufging. So etwas kannte Lilið von Fragetten: überall war Stauraum mit Klappen, die gut klemmten.
Drude verwandelte sich vor Liliðs Augen in eine fischigere Form. Die Verwandlung sah wunderschön aus. Ihr Körper hatte auch vorher schon muskulös ausgesehen, aber er formte sich in etwas Schilleriges, Geschmeidiges um, zu dem die Muskeln fast besser passten als zu der menschlicheren Form. Sie bekam große Hände mit Schwimmflossen, die Füße wurden zu etwas, womit sie nicht mehr gut stehen konnte, aber zum Schwimmen waren sie sicher sehr gut geeignet. Drude band sich einen Gürtel mit einer Tasche um, stopfte Lilið hinein und schwang sich ins Meer. Die Tasche war wasserdicht, sodass Lilið Luft zum Atmen hatte. Sie würde nicht lange reichen, aber Drude hatte versprochen, auch nicht viel Zeit zu brauchen. Lilið fühlte das Wasser an ihr vorbeiströmen, weil sich der Stoff der Tasche auf ihre Haut legte. Sie verdrängte die Panik, die aufkam, weil sie zusätzlich dazu, dass sie nicht viel Luft zur Verfügung hätte, auch noch gefaltet war, also in einem Zustand, in dem sie früher Probleme mit dem Atmen gehabt hatte. Nun eigentlich nicht mehr, aber die Erinnerungen wollten hochkommen.
Sie schob die Panik weg, indem sie darüber nachdachte, was sie gleich sagen würde. Sie hatte eigentlich nicht den Drang, darüber zu lügen, dass die Prinzessin an Bord der Kagutte war. Vielleicht konnte sie aber mit der Bedrohung, die die Kagutte darstellte, argumentieren, und die Größenordnung von fünf Schiffen für einen späteren Angriff vorschlagen, die Drude genannt hatte. Ob jemand auf sie hören würde? Ob Drude ihr nur deshalb dazu geraten hatte, über die Prinzessin zu lügen, weil das für deren Vorhaben von Vorteil wäre, aber sie eigentlich viel bessere Chancen hätte, wenn sie einfach die volle Wahrheit eröffnete?
Lilið hatte wenig Zeit darüber nachzudenken. Kaltes Wasser strömte in die Tasche hinein, als Drude sie öffnete, sie herausnahm, dann aus dem Wasser schnellte und sie im selben Zuge an Bord warf. Lilið hatte kaum Zeit, ihren Schwindel zu realisieren. Irgendein Reflex in ihr sprang an und korrigierte die Flugbahn. Aber als sie an Deck aufschlug, löste sich die Faltung. Lilið realisierte, wenn sie sie jetzt wieder korrigierte oder nicht zügig ganz entfaltete, dann wäre sie wahrscheinlicher erkennbar als eine Person mit Faltmagie. Also beeilte sie sich, rasch in ihre menschliche Form zurückzufinden.
Sie rappelte sich auf und sah sich direkt einer Person gegenüber, die sie mit erhobenen Augenbrauen ansah und der Kleidung nach zu urteilen zur königlichen Wache gehören mochte. Lilið schluckte.
“Na, hast du dich genug erholt, um mal loszulegen, was das soll?”, fragte die Wache.
Immerhin kein Sofortangriff, dachte Lilið. Allerdings wurde dieser rasch nachgeholt. Irgendetwas schlang sich um ihre Arme wie eine Ranke und zog diese nach hinten.
“Ein falscher Schritt, und es geht deinen Beinen genau so.”, informierte sie eine Stimme in ihrem Rücken.
Lilið verkniff sich die Frage, was denn zum Beispiel ein falscher Schritt wäre. Sie atmete tief durch. “Ich bin Lilið von Lord Lurch, von Nederoge.”, sagte sie und entschied sich für die volle Wahrheit als Strategie. Oder, nein, das war nicht sinnvoll. Etwas, was aber sehr dicht an der Wahrheit war. Sie wollte Drude nicht ins Spiel bringen. Wer würde ihr auch noch glauben, wenn sie erzählte, dass sie Hilfe bekommen hätte? “Ich habe mich an Bord der Kagutte begeben, indem ich so getan habe, als wäre ich das Nautika, das sie suchten, um die Kronprinzessin zu befreien, aber ich musste feststellen, dass die Crew zu mächtig ist. Ich habe sichere Informationen darüber, dass eure einzelne Katerane der Entführendencrew unterlegen wäre.”
“Lilið von Lord Lurch also. Sagt mir zwar nichts, aber das lässt sich vielleicht prüfen.”, sagte die Wache und nickte der anderen Person zu, die hinter ihr hervorgetreten war, nachdem die Fesseln saßen. Jene hob die Hand zum Zeichen, dass sie den Befehl verstanden hatte, und ging.
War sie hier irgendwie registriert? Gab es geeichte Urkunden aller irgendwie angeadelter Leute an Bord einer Kriegskaterane? Das erschien Lilið nicht so wahrscheinlich.
“Erzähl mal, wie du darauf kommst, dass wir unterlegen wären!”, forderte die Wache sie auf.
Lilið drehte sich um, um zu sehen, wie weit die beiden Schiffe wohl noch auseinanderlagen. Sollte sie als Glück oder Pech werten, dass sie wohl noch Zeit hätte, sich bei Erklärungsversuchen zu verheddern?
Die Person, die sie gefesselt hatte, hatte fast einen Niedergang erreicht, aber machte noch eine unscheinbare Bewegung, ehe sie ganz verschwand, worauf die Stricke um ihre Arme sich dichter zogen und ihr das Blut abdrückten. Das war wohl ein gerade so geduldeter Schritt, schloss Lilið und drehte sich wieder zurück. “Ich habe gehört, wie die Crew der Kagutte damit geprahlt hat, dass die Kriegskaterane für sie ein Kinderspiel wäre.” Wiederum beschloss Lilið, dass dicht an der Wahrheit ein guter Weg wäre. “Sie haben leider nicht viel über Details geredet, aber ich bin sehr überzeugt davon, dass sie nicht übertrieben haben. Dazu war die Stimmung nicht locker genug. Sie meinten noch, dass mit einer Flotte aus fünf Schiffen vielleicht eine Chance gegen sie bestünde, aber nicht so. Ich habe nicht weiter nachgefragt, weil ich keinen Verdacht erregen, sondern lieber früher hier sein wollte, um euch zu warnen. Mir liegt sehr daran, dass die Rettung der Prinzessin gelingt.”
“Hmhm. Wenn du lügst, kannst du gut lügen, das muss ich dir lassen.”, sagte ihr Gegenüber. Es wirkte nachdenklich und winkte eine weitere Person herbei, die gerade in Liliðs Sichtfeld getreten war.
Der Kleidung nach zu urteilen, mit diesem dreieckigen Hut, tippte Lilið auf die Kapitänsperson. “Ein Nautika.” Die Stimme war schwer und sonor.
Lilið nickte. Sie trug ja den Mantel, der sie als eines kennzeichnete.
“Er behauptet, Lilið von Lord Lurch zu sein.”, informierte die Wache, die sie zu verhören begonnen hatte. “Aber da kommt Luzinde wieder. Glaubst du, du kannst es nachprüfen?”
Die Person, die vorhin weggegangen war, hatte nun ein Büchlein dabei, sowie ein kleines Messer, das in der aufgehenden Sonne blitzte. Lilið spürte, wie sich ihre Fesseln wieder lösten, wie das Blut wieder in ihre Arme hineinströmte und sie kribbelten. Luzinde griff nach ihrer Hand und zog das Messer auf der Daumenseite seitlich durch ihr Handgelenk. Nicht tief. Luzindes Finger strichen über das Blut, das Gesicht entspannte sich und die Augen schlossen sich. Nur Momente später öffneten sie sich wieder, weiteten sich vor Schreck. Luzinde trat einen Schritt zurück. “Der Blutige Master M.”, informierte sie. “Lilið von Lord Lurch ist nicht registriert, sie ist weder adelig genug, noch als Nautika bekannt genug. Ich kann keine Aussagen darüber machen, ob es sich um Lilið von Lord Lurch handelt, aber das Blut stimmt mit dem des Blutigen Master M überein.”
“Ich bin erst sehr frisch Nautika und meine Mutter ist Köchin.”, erklärte Lilið. Wieder fühlte sie die Fesseln ihren Körper umschlingen, dieses Mal an Armen und Beinen.
“Das ist ja mal eine Geschichte.”, sagte die Wache, die ihr bisher die Fragen gestellt hatte. “Der meist gesuchte Dieb der Monarchie kommt von einem Schiff, das die Kronprinzessin gestohlen hat, um mal bei dem Vokabular deinesgleichen zu bleiben, und rät uns davon ab, eine harmlose Kagutte anzugreifen, indem er behauptet, wir, die königliche Wache, wären unterlegen. Zu dem Zweck gibt er sich als Adel und Nautika zugleich aus, aber möglichst so, dass wir es nicht nachweisen können. Da hat es sich ja doch als gut herausgestellt, ein Imagika dabei zu haben, der über alle derzeit bekannten Kriminellen bestens im Bilde ist. Und nun können wir sogar ein Fahndungsbild erstellen, solltest du versuchen, zu entkommen, was sehr aussichtslos ist.”
Lilið versuchte, statt zu entkommen, möglichst schnell eine neue Strategie zu finden. Sie atmte tief durch. “Ich verstehe, wie unwahrscheinlich nun rüberkommen muss, dass ich die Wahrheit spreche.”, sagte sie. “Aber möchtet ihr riskieren, in den Tod zu gehen, wenn ihr stattdessen irgendwelche wenigstens etwas sichereren Strategien fahren könntet? Ich habe keine Ahnung, nachts angreifen, ein Beiboot nach Hilfe schicken, irgendetwas in der Art? Ich habe wirklich ein Interesse, dass ihr angreift, aber auch eines, dass wir dabei nicht alle sterben.”
“Lass das meine Sorge sein.”, brummte die Kapitänsperson. “Wir haben auch eine gewisse Verpflichtung, dem Befehl der Königin Folge zu leisten. Aber ich verspreche dir: Wir werden alles in diesem Spielraum tun, um uns möglichst wenig zu gefährden.”
Ohne für Lilið erkennbaren Übergang wandelte sich die noch verhältnismäßig ruhige Atmosphäre von eben zu einer betriebssamen. Zwei weitere Wachen bekamen den Befehl, sie in den Rumpf in eine Gefängniszelle zu bringen, andere wurden für Strategieplanung herbeigerufen. Niemand sprach mehr mit Lilið, niemand hörte auf ihr Rufen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass es vielleicht hilfreich sein könnte, zu fragen, ob Marusch hier irgendwo war. Aber die Wache vor der Zelle, die bei ihr blieb, erbarmte sich erst nach einer Weile auf ihr Nachbohren hin zu fragen, wer das denn bitte sein sollte, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie dann Ruhe gäbe. Lilið beschrieb Marusch, aber die Wache hörte ihr nicht weiter zu.
Sie hatte schon lange aufgegeben, mit ihren gefesselten Beinen zu stehen. Sie lag in Embryohaltung in Rankenseil gewickelt in der Zelle, gab endlich auf, die Wache mit Fragen und Bitten anzuschreien, und machte sich Gedanken, was sie nun tun sollte. Gefesselt war falten nicht so einfach, aber auch nicht unmöglich. Eigentlich wollte sie nicht zu früh zeigen, dass sie es konnte. Zumal, was sollte sie dann tun? Würde ihr dann jemand glauben schenken, wenn sie plötzlich wieder befreit an Deck stünde? Oder würde sie direkt getötet werden? Ein Wunder, dass das noch nicht getan war, als sich offenbart hatte, dass sie der Blutige Master M war. Aber wahrscheinlich wollten sie noch versuchen, aus ihr herauszubekommen, wo das Buch wäre oder wie sie es gestohlen hätte.
Sie merkte, wie sie wieder in diesen Zustand überglitt, in dem sich alles unreal anfühlte. Sie versuchte, gegen die engen Fesseln tief durchzuatmen, und sich doch zu falten. Sie beschloss, in so etwas wie eine Schiffsratte gefaltet aus der Zelle zu fliehen und zu schauen, ob sie irgendwo Marusch fand. Wenn es ein Schiff der königlichen Flotte war, das unterwegs war, die Prinzessin zu retten, dann war doch nicht unwahrscheinlich, dass Marusch sich unter irgendeinem Vorwand an Bord geschummelt hatte.
Ihr erster Faltversuch scheiterte, weil die gesamte Kriegskaterane erzitterte. Lilið bemerkte erst jetzt, dass sie Schreie wahrnahm, eher Kommandos als panische Schreie, aber so harsche Kommandos, dass es bedeuten musste, dass es wahrscheinlich längst zu spät war. Wieder erzitterte die Kriegskaterane und schlingerte, krängte so sehr, wie große Schiffe das nie tun sollten. Lilið wurde gegen die Stäbe der Zelle gedrückt. Die Wache rappelte sich hoch, rief ihr zu, sie solle sich nicht rühren, und rannte die Treppe hinauf.
Lilið wusste nicht, wie sie es schaffte, sich in diesem Zustand zu falten. Sie ahnte, was da oben vor sich ging. Nicht im Detail, aber dass es nicht gut für die Crew und die Kriegskaterane aussah, wusste sie.
Und dass es zu spät war. Warum tat sie überhaupt noch etwas? Aber nun, da niemand hinsah, faltete sie sich in eine Schlange, weil die Faltung gefesselt leichter umzusetzen war als die in eine Ratte, und wand sich aus den Fesseln hinaus. Es war ein witziges Gefühl, sich auf dem Boden entlang zu schlängeln. Sie war ja nicht plötzlich eine Schlange, sie sah nur wie eine aus. Sie stieß sich den Kopf zweimal beim Versuch, zwischen den Stäben hindurchzukriechen, weil das Schiff so schlingerte. Als sie es schaffte, auf der anderen Seite der Stäbe anzukommen, entfaltete sie sich wieder. Alles in ihr war dumpf. Sie hatte den Eindruck, durch ihre Augen alles dunkler zu sehen, als es eigentlich war. Ihr Blutdruck fühlte sich vollkommen falsch an. Zu niedrig, vermutete sie.
Sie stolperte auch mehrfach, als sie sich der Treppe näherte, obwohl ihr Körper wieder der gewohnte war. Die Bewegung fühlte sich alberner Weise immer noch so an, als wäre sie gefaltet.
Wasser strömte durch irgendeine Tür in der Umgebung in die Kriegskaterane und machte schöne, dunkle Strömungsmuster um ihre Füße. Lilið sollte schleunigst nach oben kommen, wenn sie nicht samt Katerane untergehen wollte. Wobei sie auch dann nicht überleben würde, wenn sie Drudes Vorwarnung glaubte. Sie trat die knackenden Treppen hinauf, erst ins Mitteldeck, dann den langen Gang durch die Messe entlang, wo alle Möbel durch die Gegend geflogen waren, ob sie vorher fixiert gewesen waren oder nicht, zur zweiten Treppe aufs Oberdeck. Vom Oberdeck war fast nichts mehr in der Form, in der sie es vor wohl höchstens einer halben Stunde zurückgelassen hatte. Überall Splitter, feine und große Stücke, von Holz und von Menschen. Die Kämpfenden auf der Kagutte waren nicht wenig makaber, stellte Lilið fest. Der Körper der Kapitänsperson lag in gleichmäßig große Stücke geschnitten, wie so eine zubereitete Speise, an Deck vor ihren Füßen. Lilið fragte sich, was mit ihren Assoziationen kaputt war, oder mit ihren Gedanken allgemein, weil das, was sie an diesem Bild am meisten gefangen hielt, das eine Stück des Kopfes war, das breiter als alle anderen Streifen war. Nur der Kiefer war vom heilen Rest des Kopfes getrennt.
Lilið blickte wieder auf, in der Hoffnung, dass sich Bilder nicht zu sehr einprägen würden. Aber irgendetwas an dieser Situation hatte auch etwas Schönes. Wieder fragte Lilið sich, was kaputt mit ihr war, weil sie das dachte. Sie wurde sich ihres schweren Mantels sehr bewusst, der sich im Wind und der Wucht von Explosionen aufbauschte, fühlte die Gischt des Wassers auf ihrem Gesicht und ihren Händen, während um sie herum die Kriegskagutte zu Kleinholz zersprang und ins Meer versank. Nur Feuer hätte dem Bild noch gefehlt. Warum war da kein Feuer? Wo war Marusch, wenn sie sie brauchte?
Und dann verlor sie das letzte Stück Boden unter den Füßen.
Alles fühlte sich viel zu weit weg an, um nun daran zu denken, sich zu falten. Lilið hätte auch nicht gewusst in was. In Holz wahrscheinlich. Aber das kleine Ruderboot, das die Kagutte losgeschickt hatte, um sich um die Überlebenden zu kümmern, hatte sie längst gesichtet. Lilið hatte keine Lust, etwas dagegen zu tun, dass sie sie kriegen würden. Ihre Fluchtinstinkte waren so tot wie alles in ihr drin.
Sie sah den zwei Menschen im Ruderboot direkt in ihre Gesichter, starr und mit dem verzehrenden Wunsch, dass sie mit ihrem Blick starken Schmerz zufügen könnte, als sie auf sie zu ruderten.
“Du bist Nautika?”, fragte die eine der beiden Personen.
Das schlossen sie wohl aus dem Mantel, der sie einhüllte und umgab. Der eigentlich nicht ihrer war. Lilið nickte trotzdem. Wenn sie sterben würde, dann war es auch nicht verkehrt, es noch einmal so deutlich zu bejahen, wie ihr Körper das gerade zuließ: Sie hatte ihren Traum erreicht.
“Wir nehmen dich mit.”