Die Würfel fallen

CN: Misgendern, Erpressung, Entführung, Damsel in Distress, Schmerz, Insekten und andere Krabbeltiere - unkonkret, Body-Horror, Gaslighting?, Cliffhänger.

Sie hatten sich Gedanken darüber gemacht, wann es von Vorteil oder von Nachteil sein könnte, dass Lilið ihr Gesicht faltete, um sich als jemand anderes auszugeben. Die Antwort, die sie gefunden hatten, war interessanterweise, dass sie immer das geringere Risiko eingehen würde, wenn sie es nicht täte.

Heelems Brief war auf den Namen Lilið ausgestellt und wahrscheinlich auf sie geeicht. Natürlich könnte sie so tun, als wäre sie eine andere Person mit Namen Lilið. Das würde funktionieren. Aber ob eine Nautika-Zentrale in einer Umgeung, in der es eine bekannte Person mit dem seltenen Namen Lilið gab, dann nicht ohnehin Verdacht schöpfte, war fraglich. Es wäre besser, gleich mit offenen Karten zu spielen, damit sie nicht in Verlegenheit gebracht werden würde, nachzuweisen, nicht das Kind von Lord Lurch zu sein.

Es war nicht völlig unwahrscheinlich, dass sie als dieses Kind erkannt würde, wenn sie die Zentrale betrat. Es wäre nicht einmal ausgeschlossen, dass eine Person, die sich auf Eichungen verstand, sich an eine Begegnung mit ihr erinnernd, sie durch Berührung mit ihrer Haut hätte zuordnen können, auch wenn sie nicht wie sie selbst ausgesehen hätte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Nautikae ihr gut gesinnt wären, wäre höher, wenn sie sie einfach direkt als Lilið erkannten, als wenn sie erst einmal einen Betrug vermuten würden, schätzten Marusch und Lilið.

Lilið faltete den Mantel, der das einzige war, was sie an Gepäck bei sich trug, in eine Jacke um, die ihrer recht ähnlich sah. Wenn sie ihr erstes Nautika-Zertifikat abholte, wäre es vielleicht auffällig, wenn sie bereits einen Mantel besaß.

Sie freute sich über ihr Geschick beim Falten, weil sie es schaffte, die Taschen zugänglich in die neue Struktur zu integrieren. Dann spazierte sie aus dem weniger belebten Teil des Hafens, wo sie angelegt hatten, zum Turm in der Mitte. Die blauen Schriftzüge außen, die ihn als Aussichtsturm der Hafenwacht und als Zentrale der Nautikae kennzeichneten, erfüllten Lilið jedesmal mit einem Gefühl von Euphorie. Oder von Ankommen, von Glück, weil sie dazugehören wollte, und nun endlich dazugehören würde.

Es gab eine Außentreppe, die in eine mittlere Etage und dann weiter in den Ausguck führte. Sie war schon oft als Kind in einem solchen Ausguck in ihrem Heimathafen gewesen. In diesem vielleicht einmal, als sie hier herübergesegelt waren, als sie vielleicht zwölf gewesen war. Aber auch wenn sie den Ausguck bei solchen Türmen immer am meisten geliebt hatte, drückte sie dieses Mal die schwere Tür der mittleren Etage zum Gemeinschafts- und Geschäftsraum der Nautikae auf. Gedämpftes Tageslicht empfing sie, das nicht so sehr blendete, sondern den Raum sanft durchflutete. Es war angenehm kühl im Raum und gut durchlüftet. Ein Nautika stand an der Küchenzeile und kochte Tee und andere Heißgetränke. Ein anderes sortierte Papiere. Auf dem Tisch in der Mitte waren verschiedene Karten ausgebreitet, die dieselbe Region zeigten, vielleicht um die Karten miteinander zu vergleichen. Beide Nautikae blickten sich nach ihr um. Ihre Mäntel hingen an einer Garderobe und wirkten dort beeindruckend vor sich hin.

“Lilið.”, sagte das Nautika, das sich um Papiere kümmerte, leise, vielleicht mehr zu sich selbst.

Das Wiedererkennen war also schnell passiert. Lilið nickte.

“Ich erinnere mich daran, wie dich hier als Kind, oder vielleicht warst du aus dem Kindsein gerade raus, niemand davon abhalten konnte, in den Turm zu steigen und so zu tun, als gehörtest du zur Wacht.”, sagte es.

Lilið wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte. “Ja, das klingt nach mir.”

“Wir können dich hier nicht verstecken. So gern wir wollten, aber das Risiko ist zu hoch.”, informierte das Nautika.

“Aber du hast unser Wort, dass wir nicht wissen, dass du hier gewesen bist, wenn du wieder verschwindest.”, versicherte das andere.

Das war interessant. “Würdet ihr mich kurz über die Lage informieren?”, fragte sie, sich spontan mit der Situation arrangierend. “Ich wusste nicht, dass bekannt wäre, dass ich auf einer Flucht bin.”

“Es sind zwei Gerüchte im Umlauf.”, antwortete das erste Nautika wieder. “Das eine besagt, du seist auf dem Internat für skorsche Damen auf Frankeroge. Du sollst vor nur wenigen Tagen dort gewesen sein, versicherte ein Herr Hut, der wohl mit dafür verantwortlich ist, dass du dort hingelangt bist?”

Das klang eigentlich gut, fand Lilið. Sie nickte. War also Herr Hut dort gewesen und Allil hatte sich mittels Chameleonmagie erfolgreich als Lilið ausgegeben? Sie verstand allerdings gut, dass sie dann nicht hier gesehen werden sollte. Warum wussten die Nautikae eigentlich von Herrn Hut?

“Das zweite Gerücht ist recht haarsträubend.”, fuhr das Nautika fort. “Irgendjemand hat deinem Vater unterstellt, den Raub eines Schatzes organisiert und deine Reise zum Internat für skorsche Damen nur vorgeschoben zu haben, damit du den wertvollen Gegenstand unbemerkt wegbringen und verstecken kannst. Die Theorie ist abstrus und an den Haaren herbeigezogen, wie das nun einmal so ist, wenn ein Schatz gestohlen worden ist, niemand weiß warum, und Leute sich Seegarn dazu ausdenken. Aber wenn du hier gesehen wirst und wir nichts unternehmen, ist das deshalb trotzdem kritisch, verstehst du?”

Lilið nickte. “Ich sehe ein, dass ich hier nicht gesehen werden sollte, wenn ich eigentlich auf dem Internat für skorsche Damen vermutet werde, und mir wäre tatsächlich lieb, wenn davon möglichst niemand weiteres erfährt.”, sagte sie. Sie holte tief Luft, lächelte und holte Heelems Brief aus der Jacke. “Der Grund, warum ich nicht dort bin, ist, dass ich eigentlich viel lieber Nautika werden möchte. Und ich bin heute nicht hier, um mich zu verstecken, sondern um dieses Schreiben gegen ein Zertifikat zum Leicht-Nautika einzulösen.”

Ihr war durchaus unbehaglich bei dem Gedanken, dass nun Allil in größerer Gefahr schwebte. Aber sie hoffte, dass Nautikae in diesem Punkte zusammenhielten. Sie wäre nicht die erste Person mit einer heimlichtuerischen Geschichte, um Nautika zu werden. Gerade wenn es um die Wahl dazwischen ging, Magiefähigkeiten auszubilden oder Nautika zu werden, war Nautikae bewusst, dass der gesellschaftliche Druck für ersteres hoch war, und sie wussten die Entscheidung dagegen wahrscheinlich zu schätzen, auch wenn haarsträubende Umwege involviert wären.

Das Nautika, dass mit dem Tee beschäftigt war, lächelte sie an. Es war gerade fertig und stellte die Getränke auf Untersetzer auf den Tisch. “Nimm dir gern eine Tasse.”

Das andere Nautika runzelte die Stirn, nicht abwertend, mehr nachdenklich, glaubte Lilið zu erkennen, und nahm den Brief entgegen. Es entfaltete und überflog ihn zunächst. “Wie bist du an Heelem geraten?”, fragte es. “Kamt ihr miteinander zurecht?”

Lilið nickte verwirrt. “Ja, wir haben uns gut verstanden. Gibt es ein Problem mit Heelem?”

Das Nautika schüttelte den Kopf. “Er hat einen Ruf, der bis hier herreicht.”, antwortete es. “Einen guten eigentlich, bei Nautikae zumindest. Er hat über Jahre als Ober-Nautika die Flotte der hiesigen Monarchie navigiert, ist dann aber sozusagen durchgebrannt. Er ist wie ein Geist, mal hier, mal dort, bildet aus, übernimmt viele kleine Aufträge, aber nie welche, die der Monarchie von Nutzen sind. Deshalb ist er gesucht und schwer zu finden.”

Lilið wunderte das irgendwie gar nicht. Es passte voll ins Bild von Leuten, mit denen sich Marusch umgab. Lilið fragte sich, inwiefern ihr irgendwann auch so ein Ruf anhaften würde. Sie grinste.

“Seine Ausbildungsmethoden sind allerdings sehr streng und nicht jedermanns”, das Nautika zögerte, “nicht jedermenschs Sache. Daher frage ich. Ich habe dich als sehr ehrgeizig in Erinnerung, aber dich hat Kritik immer am Boden zerstört.”

Durch Liliðs Erinnerungen schwappte das Gefühl von Anspannung, dass sie in Heelems Gegenwart anfangs gehabt hatte. Die Angst vor Wertung. Aber Heelem war für sie viel angenehmer gewesen, als es eine Person hätte sein können, die vorsichtiger und freundlicher, dafür aber weniger an der Sache und mehr an ihr Kritik geübt hätte. “Ich bin gut mit ihm zurechtgekommen.”, wiederholte sie.

Das Nautika durchsuchte eine Aktenschublade nach einer Urkunde und berührte zugleich jene und ihren Brief.

“Überprüfst du, ob sie wirklich von Heelem ist?”, fragte sie. Dann hätten sie eine auf Heelem geeichte Urkunde hier. Irgendwie fühlte sich der Gedanke schön an, als hätte sie ihn fast hier wiedergetroffen.

“Ja, das muss ich.”, antwortete das Nautika. “Magst du herkommen, damit ich prüfen kann, ob sie auch wirklich für dich ist?”

Lilið nickte und trat zu ihm an die Schränke, die gleichzeitig als Schreibtisch dienen konnten.

“Ich fasse dich nun kurz am Handgelenk an.”, kündigte das Nautika an.

Lilið war das sehr sympathisch. Sie streckte bereitwillig den Arm aus. Die beiden Finger, die sich an ihre Haut legten, fühlten sich kühl an. Lilið versuchte, die Magie zu fühlen, aber die Berührung war zu schnell vorbei.

“Im Normalfall müsste ich dich noch prüfen.”, informierte das Nautika. “Ich müsste dich an einer fremden Karte erklären lassen, wie eure Route funktioniert hat und wo es zu welchen Schwierigkeiten gekommen ist, damit möglichst ausgeschlossen ist, dass du nicht stattdessen mit einer Reisefragette oder -kagutte gereist bist. Aber weil die Lage so heikel ist und du nicht allzu lange hier sein solltest, würde ich gern lediglich dein Navigations-Buch sehen wollen.”

Lilið wurde sehr heiß, aber der Schweiß, der ihr ausbrach, ließ sie kurz darauf beinahe frieren. “Das habe ich bei meiner Mutter gelassen.”, sagte sie kleinlaut. Sie war sich nicht sicher, ob es eine gute Strategie war, ihre Mutter ins Spiel zu bringen, aber ihr war klar, dass sie nicht viel Zeit hatte verschwenden dürfen, zu antworten.

“Kannst du es holen?”, bohrte das Nautika nach.

Natürlich musste diese Frage kommen. Sie würde dafür maximal drei Stunden unterwegs sein, wenn sie spazieren und dabei noch trödeln würde. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, das zu tun. Es existierte ja. Marusch trug es bei sich. Vielleicht würden sie etwa zeitgleich dort eintreffen. Aber dann würde sie das Treffen zum Anheuern verpassen. Sie schluckte. “Ich verstehe, wenn das für euch zu viele Umstände macht, aber ich würde lieber geprüft werden.”, sagte sie. Und dann fiel ihr ein, wie sie das gut begründen konnte: “Es wäre nicht gut, wenn ich am Hof meines Vaters gesehen werden würde.”

“Aber du hast das Buch doch dort abgegeben!”, argumentierte das Nautika.

Das stimmte. “Nachts.”, erwiderte Lilið ohne Umschweife, während ihr Kopf versuchte, an einer guten Begründung zu arbeiten, warum sie es überhaupt getan hatte.

“Ah, ich verstehe.”, sagte das Nautika und wandte sich an das andere. “Würdest du eine eilige Prüfung machen? Es geht um eine Überfahrt von Angelsoge mit einer Jolle hierher, die vierzehn Tage hätte dauern sollen, aber Spielraum bis heute hatte, das sind drei Tage mehr. Ich erstelle derweil das Zertifikat.”

Erleichterung durchströmte Lilið. Sie hätte an dieser Stelle am wenigsten damit gerechnet, dass das Nautika die Begründung einfach schlucken würde.

“Geht klar!” Das andere Nautika suchte aus einem hohen Schrank auf der anderen Seite des Raums eine weitere Karte hervor, schob anschließend die beiden Karten auf dem Tisch zusammen, sodass Platz für die neue war.

Auf Lilið machte das zweite Nautika einen fröhlicheren, lockereren Eindruck als das erste, was interessanterweise weder dazu führte, dass es ihr sympathischer gewesen wäre, noch dazu, dass die Prüfung besonders unaufmerksam von seiner Seite von statten gegangen wäre.

Es war keine schwierige Prüfung. Lilið sollte einfach ihre Route erklären. Zunächst also stellte sie die Karte auf den Tag ein, an dem sie losgesegelt war, und bewegte dann das Kartensteinchen darüber.

Lilið hatte Angst gehabt, dass sie die ersten Tage nicht mehr in klarer Erinnerung haben könnte, aber die Angst stellte sich als unbegründet heraus. Euphorie durchströmte sie, immer dann, wenn sie genau wusste, wo sich diese Karte von ihrer unterschied, wo diese etwas feiner war als die, die sie benutzt hatte, und etwas gröber als die, die sie bei Heelem benutzt hatte. Sie mochte den Unterschied der Karten erfühlen. Sie ließ sich in ihrem Fluss nicht davon ablenken, als ein weiteres Nautika durch die Tür trat und seinen Mantel an die Garderobe hängte.

“Seid ihr zur Sitzung mit der Prüfung durch?”, fragte jenes.

Irgendwer bestätigte. Das neu hinzugekommene Nautika holte sich eine Tasse, setzte sich mit an den Tisch und beobachtete, über den frisch eingegossenen Tee pustend. Es schien Lilið nicht zu erkennen und niemand klärte es auf.

Das prüfende Nautika beobachtete sie bei allem haargenau, stellte bohrende Fragen, aber sehr bald rechnete Lilið schon im vorhinein damit, wann eine kommen würde, und beantwortete sie mit weniger Zögern. Das Nautika freute das sichtlich.

“Es besteht kein Zweifel! Du bist die Route wirklich selbst gesegelt.”, schloss es, als Lilið das Kartensteinchen in den Nederoger Handelshafen bewegte. “Aber ich mag anmerken, dass du heute Nacht”, das Nautika unterbrach sich, und führte den Satz vielleicht anders zu Ende als geplant, “auf Danmoge warst.”

Lilið verstand sofort. Wieder wurde ihr heiß. Das war der dezente Hinweis darauf, dass sie beim Lügen erwischt worden war, auf eine Art formuliert, die diesen Umstand dem hinzugekommenen Nautika nicht in der Deutlichkeit verriet.

Das Nautika, das damit beschäftigt gewesen war, das Zertifikat zu erstellen, schritt zu ihnen an den Tisch und legte ein kleines, stabiles Schriftstück vor ihr ab. Es bestand aus so etwas wie geöltem Seegras-Wollpapier, eine Papierart, die besonders wasserbeständig war. Es war ein Zertifikat auf ihren Namen als Nautika. Lilið blickte überrascht auf. “Nautika?”, fragte sie. Das Zertifikat, das Heelem ihr versprochen hatte, hätte sie nur als Leicht-Nautika ausgewiesen.

“Die Freiheit habe ich mir erlaubt.”, antwortete das Nautika. “Heelem ist durchaus bekannt dafür, zwar Leuten in vertrackten Situationen Karrieremöglichkeiten zu verschaffen, was ich sehr begrüße, aber eben auch dafür, knauserig mit Auszeichnungen zu sein und es sehr genau zu nehmen. Ich sehe, was du in kurzer Zeit geleistet hast. Ich sehe, dass das nicht ganz den Prüfungsbedingungen zum Nautika entspricht, aber du bist ehrgeizig und ich vertraue darauf, dass du dem Zertifikat schon bald gerecht werden und vorher die leichte Übertreibung meinerseits nicht ausnutzen wirst.”

Eine Gänsehaut kribbelte Liliðs Rücken hinunter und ihr Atem blockierte einen Moment. “Danke!”, hauchte sie. “Ich werde alles daran setzen.”

Gerade in dieser Situation wäre es auch hilfreich, dachte Lilið. Die Crew, bei der sie nun anheuern wollte, erwartete ein Nautika. Sie hätte irgendwie erklären müssen, warum sie nur Leicht-Nautika gewesen wäre, und hatte sich Begründungen zurechtgelegt, die sie nun nicht mehr brauchen würde.

“Frauen werden leicht unterschätzt, das weiß ich.”, fügte das Nautika hinzu und zerbrach damit für sie diesen schönen Moment. “Lass dir nicht einreden, du wärest nicht gut genug. Das, was du gemacht hast, war eine nicht zu unterschätzende Leistung. Ich würde dir empfehlen, als nächstes eine Kagutte zu navigieren, aber ich habe keine Ahnung, wie ich dir dabei helfen kann, eine zu finden, die dich zu Ausbildungszwecken nehmen würde.”

Lilið nickte wieder. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Wären nur die beiden Nautikae vom Anfang dagewesen, hätte sie vielleicht darüber geredet, dass sie erst einmal Land gewinnen würde. “Danke.”, sagte sie einfach wieder.

“Hier ist in einer Viertelstunde Versammlung.”, verkündete das Nautika. “Wenn du nicht auf zu viele Menschen treffen möchtest, würde ich dir empfehlen, zu gehen.”

Ein verschleierter Rauswurf, aber auch ein guter Wunsch, interpretierte Lilið. Sie nickte.

“Will sie nicht hinterher mit uns feiern?”, fragte das später hinzugekommene Nautika.

“Soweit ich sie kenne, war Feiern nie ihr Ding.”, antwortete das Nautika, das das Zerifikat vor ihr abgelegt hatte und es erst jetzt loslies.

Lilið nickte. “Ich bedanke mich für alles. Und ich hoffe, ich komme mal wieder.”, sagte sie.

Bevor sie den Raum verlassen konnte, gratulierten ihr die anderen beiden Nautika voll herzlicher Freude. Auf der Treppe kam ihr noch eine Person entgegen, die sie stirnrunzelnd anblickte, kurz grüßte, aber kein Gespräch mit ihr anfing. Vielleicht war sie also noch einmal erkannt worden. Sie hoffte, dass sie das drinnen geklärt bekämen, oder dass ohnehin einfach ein Interesse bestand, sie nicht zu verraten.

Unten im Hafen verzog sie sich erst einmal in eine ruhige Ecke, um sich einen Moment von der Aufregung zu erholen. Die Sonne stand bereits überraschend tief. Sie konnte sich also nicht viel Zeit nehmen, war vielleicht schon etwas zu spät. Durch die Prüfung war doch recht viel Zeit vergangen.


Lilið entfaltete ihre Jacke mit einem Schütteln in den Mantel. Er machte dabei ein flatterndes Geräusch, fast wie ein Segel, das der Wind in seine bauchige Form brachte. Sie mochte das fliegende Gewicht in den Armen und die Eleganz der Flugbahn, als sie ihn um ihren Körper schwang und die Arme einfädelte. Fast hätte sie vergessen, ihre Brüste wegzufalten, aber das holte sie rasch nach.

Auch zu diesem Treffen würde sie ihr Gesicht nicht verändern. Der Grund war, dass sie mit dieser Crew mehrere Tage Zeit am Stück verbringen würde. Das Risiko war über diese Spanne hinweg einfach zu hoch, fast schon als Tatsache gegeben, dass ihr irgendwann die Gesichtszüge entgleiten und die Falten im Gesicht vor den Augen anderer aufgehen würden. Sie grinste, als ihr die Ähnlichkeit mit einer Redewendung bewusst wurde.

Die Crew hatte sich laut der Einladung des Nautikas auch in Angelsoge zusammen eingefunden, um die Kronprinzessin bei ihrer Heimreise vom Angelsoger Adelsball, auf dem diese selbst nur kurz gewesen war, zurück zum Hof der Monarchie-Familie zu entführen, aber das war viel später in die Tat umgesetzt worden, als Lilið und Marusch losgefahren waren. Die Crew hatte mit ihrer Kagutte nur sechs Tage hierher gebraucht. Für eine Kagutte war das kein so komplex zu navigierender Reiseabschnitt, weshalb sie dabei nicht so dringend auf die Hilfe eines Nautikas angewiesen gewesen waren. Sie hatten dadurch, keines dabei zu haben, höchstens einen Tag verloren. Im Brief war die Rede davon, dass sie ein Crewmitglied schon lange vor der Entführung zurückgelassen und mit der Suche nach einem passenden, verschwiegenen Nautika betraut hatten, das heute hier dazustoßen sollte.

Die Crew würde also wahrscheinlich zum größten Teil aus Leuten aus dem Königreich Sper bestehen, aber auch aus ein paar Leuten, die überwiegend in Angelsoge oder nirgendwo zu Hause waren. Entsprechend hatten Marusch und Lilið die Wahrscheinlichkeit als hoch eingeschätzt, dass niemand Lilið kennen würde, sie also mit ungefaltetem Gesicht keine Probleme bekommen sollte.

Lilið atmete tief durch, kontrollierte noch einmal ob die Briefe und das Zertifikat in sinnvoll gewählten Taschen waren, und fühlte sich in die Rolle eines Nautikas aus Angelsoge ein, das gewillt war, eine entführte Kronprinzessin gen Königreich Sper zu navigieren. Es war ihre bisher größte Rolle. Sie fühlte sich in die Ängstlichkeit ein, die das Nautika ausgestrahlt hatte, dem sie in Danmoge begegnet waren. Trotzdem versuchte sie, auch ein gutes Stück sie selbst zu bleiben, um die Rolle überzeugend spielen zu können.

Dann schritt sie in den Werftteil des Hafens. Es gab hier einige Bootshallen, aber Lilið entdeckte bald eine, an der eine Treppe in einem von der Straße versteckten Winkel angebracht war und in einen Raum darüber führte. Wahrscheinlich war es das. Zumindest war es die erste Treppe, auf die die Beschreibung passte, die sie fand und es schadete nicht, sie auszuprobieren. Der Abend dämmerte bereits. Es war abgesehen von ungefähr fünfzehn Öwenen, die hier herumwatschelten oder sich ausruhten, eine verlassene Gegend. Sie stieg die wetterzerschlissene Treppe hinauf, spürte das Gewicht des Mantels bewusst auf den Schultern. Oben angekommen hörte sie auf die Geräusche. Geräusche einer Feier, dachte sie, einer Gruppe, die bestimmt zwanzig Personen umfasste. Eine große Crew für eine Kagutte, aber sie hatte unten im Hafen auch eine gut bewachte, große Kagutte gesehen.

Sie klopfte, aber niemand hörte sie. Also schob sie die Tür einfach auf und trat ins dämmrige Licht eines zu einem Barraum umfunktionierten Dachbodens. Es waren in der Tat viele Leute darin, standen in Grüppchen im Raum verteilt, unterhielten sich. Manche lachten. Sie schritt etwas weiter in den Raum hinein, vielleicht, weil sie wie natürlich und nicht wie wartend aussehen wollte, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen. Einige der Grüppchen blickten tatsächlich wieder weg, aber sie behielt die Aufmerksamkeit der Mehrheit. Was sie nicht wunderte. Mit einem Mantel eines Nautikas in einen Raum zu treten, machte immer Eindruck auf Leute.

In der Mitte, nun fast vor ihr, befand sich ein Tisch, um den einige Personen in zerschlissenen Sesseln herumsaßen und ein Würfelspiel spielten. Schräg dahinter stand eine einzelne Person und starrte sie förmlich an. Im Raum wurde es leiser, auch andere Menschen beobachteten sie weiterhin, aber dieser Blick bohrte sich gefühlt in sie hinein. Ihr wurde wieder heiß und dann für einen Moment schwindelig. Sie erkannte ihn vielmehr an Kleidung und der Art, wie er sich nun auf sie zubewegte, am Räuspern und an seiner Brille, als an seinem Gesicht.

Lilið sprang. Irgendetwas sagte ihr, dass sie schneller verschwinden musste, als sie zur Tür hinaus wäre. Sie hatte sich mit Marusch zusammen immer wieder eingeprägt, dass einfach wegzulaufen bei einer Crew sinnlos wäre, die in der Lage gewesen war, die Kronprinzessin zu entführen und mit jener zu entkommen. Es lag auf der Hand, dass eine solche Crew einen Fluchtversuch nicht geduldet hätte, wenn sie belauscht worden wäre, und dann kurzen Prozess gemacht hätte. Ihre einzige Möglichkeit, wenn sie aufflog, war, sich zu falten und in gefaltetem Zustand irgendwann zu entkommen. Und aufgeflogen war sie gerade, glaubte sie. Auch wenn sie nicht sicher war, ob sie ein Erkennen im Gesicht von Herrn Hut entdeckt hatte, gestarrt hatte er genug. Sie sprang in eine Faltung, dachte nicht darüber nach, was für eine, ließ ihre Reflexe übernehmen, weil sie selbst nicht klar denken konnte.

Schmerz überkam sie, weil es eine sehr enge Faltung war, und Ärger, weil sie damit hätte rechnen können, dass Herr Hut hier irgendwo war. Er hatte schließlich Gelegenheit gehabt mit den Nautikae zu reden. Und warum sollte Herr Hut das tun? Nicht nur, weil er im Handelshafen war, sondern auch, weil er Ausschau nach einem Nautika hielt. Das hielt sie zumindest für eine naheliegende Folgerung.

“Wie unhöflich, einfach zu verschwinden.”, hörte sie sehr dumpf eine Stimme, die nicht zu Herrn Hut gehörte.

Dem Geräusch nach zu urteilen, öffnete und schloss jemand die Tür.

Lilið versuchte, zu erfühlen, was sie eigentlich war. Ihr Körper war irgendwo hart aufgeschlagen, was sie aber unter dem Schmerz, den die Faltung an sich schon mit sich brachte, kaum gespürt hatte, eher gehört. Sie hatte Augen, stellte sie fest, kleine, punktförmige Augen. Also war sie vielleicht ein Käfer oder so etwas.

“Er kann nicht weit sein.”, meinte eine andere Stimme. “Hut, war das unser Nautika?”

“Sieht fast so aus.”, hörte Lilið die Stimme von Herrn Hut, die sie mühelos wiedererkannte. “Der Mantel kam mir bekannt vor, aber er sah aus wie die Tochter von Lord Lurch, dieser Witzbold. Ich frage mich nur, warum?”

“Er sah aus, wie die Tochter von Lord Lurch?”, fragte die Stimme von vorher. “Warum denkst du, dass sie es nicht war?”

“Ich wüsste nicht, was die hier verloren hat.”, antwortete Herr Hut. “Sie kann es außerdem nicht sein. Einfach zu verschwinden ist schon ein Akt fortgeschrittener Magie, und ich weiß, dass diese Frau dahingehend nichts drauf hat. Ich war selbst damit betraut, ihren Skorem nachträglich erneut einzuschätzen. Ich habe ihn auch damals schon eingeschätzt, als die Göre ein Kind war. Auf 80, und dazu stehe ich eigentlich auch heute noch.” Er lachte bitter auf. “Diese Familie ist echt der letzte Dreck. Die Skoremetrika, die das Gör neu bewerten sollte, weil sie es besser kann, weil sie ja eine Frau ist,”, Herr Hut zog das Wort ‘Frau’ ironisch in die Länge, “ist voll auf den Trick reingefallen, den sie ihr dargelegt haben. Beim ersten Test konnte Lilið noch nicht falten, aber draußen, als sie wussten, was für Magie gefragt ist, oh Wunder, pustet der Wind das Testpapier weg, und als ein Diener es wiederbrachte, war es gefaltet. Natürlich hat niemand gesehen, wer es gefaltet hat, außer ich. Der Diener natürlich.”

“Komm zum Punkt!”, orderte eine ziemlich laute Stimme an. “Wenn wir belauscht wurden, müssen wir unseren Ort wechseln. Heikon, Janne, sucht draußen, ob ihr wen findet. Hut, Drude, könnt ihr hier Magie fühlen?”

Lilið versuchte zu schlucken, aber ihre Speiseröhre war kreuz und quer durch ihren Körper verlegt. Das Wasser und die Beklemmung flossen zurück in irgendeinen Teil ihres Mundes, der immerhin innen lag, sodass sie keine Spuckeflecken hinterlassen würde.

Personen, die die Fähigkeit beherrschten, Magie zu erfühlen, die andere ausübten, waren selten. Aber in dieser Gruppe waren offensichtlich zwei, die es konnten.

“Fehlanzeige!”, antwortete Herr Hut. “Er muss schon auf und davon sein. Ich war mir, wie ich sagte, bereits beim Kennenlernen nicht sicher, ob er wirklich vertrauenswürdig ist, aber er war die beste Wahl, die ich bieten konnte. Wenigstens politisch stabil und das ist die Hauptsache. Nicht?”

Lilið hörte wieder die Tür. Sie versuchte, ein Auge zu öffnen, was ihr schließlich auch gelang. Es war nicht leicht, sie musste vorsichtig an den Falten bei den Augenvertiefungen zuppeln, damit sich das Augenlid nicht verklemmte. Es war ein kleines Auge und sie sah daraus farbverkehrt. Der Raum lag riesig vor ihr. Grobe Maserung von Holz erstreckte sich vor ihrem Auge. Sie hatte mehr als zwei, stellte sie verwirrt fest. So ein Tier wollte sie eigentlich nicht sein, war sie auch noch nie gewesen. Trotzdem versuchte sie, nach und nach Kontrolle über ihren gefalteten Körper zu gewinnen, um vielleicht aus dem Raum herauszukrabbeln. Vielleicht wäre auch der Weg zur Tür ziemlich weit und sie würde einfach abwarten, bis die Crew verschwunden wäre. Dann würde sie sich entfalten und auf Marusch warten, in der Hoffnung, dass diese anheuern könnte. Oder sie würde sich doch das Gesicht falten und es ein zweites Mal versuchen.

Sie öffnete ein zweites Auge, dessen Perspektive irgendwie nicht so richtig zur ersten passte. Hatte sie ein Auge im Hinterkopf? Durch dieses Auge hatte sie einen ganz guten Blick in den Raum. Die Leute waren ruhiger geworden, tuschelten eher. Herr Hut stand neben einer beeindruckenden, großen Person, die im Gegensatz zu Herrn Hut tatsächlich einen Hut trug, und schien ein Redebedürfnis zu haben. Aber die Person mit Hut gab stattdessen noch einen weiteren Befehl. “Stell dich neben die Tür, Drude, damit du uns direkt sagen kannst, ob eine Person, die eintritt, Chameleonmagie anwendet.” Lilið vermutete, dass die Person mit den Befehlen Kapitän war.

Auch der Bildausschnitt des dritten Auges, das sie nun öffnete, zeigte ihr eine andere Seite des Raums. Eine relativ große, kräftige Person in einem dunklen Mantel und darunter eng anliegender Kleidung schritt an ihr vorbei Richtung Tür. Das musste wohl Drude sein. Die Person geriet dabei aus dem Blickfeld des dritten Auges in das des ersten, und als sie sich neben der Tür umdrehte, trafen sich ihre Blicke in einer Art, die es Lilið nicht wie Zufall vorkam. Drude hatte sie vielleicht bemerkt, aber sagte nichts. Warum? Weil Drude keine Lust hatte, gegen den sexistischen Herrn Hut die Stimme zu erheben?

“Wir warten noch eine halbe Stunde ab, dann wechseln wir auf die Kagutte.”, beschloss die Person, die Lilið für den Kapitän hielt. “Wir versuchen dann eines der Nautikae aus dem Hafen anzuwerben und zu verschweigen, was wir für eine Ladung führen. Die Lage ist zu brenzlich, hier zu lange zu warten.”

Sie musste Marusch informieren, dachte Lilið. Sie musste hier irgendwie rauskommen. Wenn sie es schaffte, rechtzeitig hier herauszukommen, könnte sie sich vielleicht ja noch als eines der Nautikae im Hafen anwerben lassen. Aber wenn sie sich einfach entfaltete, wäre sie wohl geliefert. Sie versuchte, an ihrem neuen Körper Gliedmaßen zu finden, aber stattdessen wurden ihr nur noch mehr Augen bewusst. Sie zählte sie, weil sie an nichts anderes denken konnte. Es waren einundzwanzig. Welches Tier hatte einundzwanzig Augen?

Die fünf Augen, mit denen sie seit eben an die Decke starrte, schloss sie rasch wieder, was vielleicht eine natürliche Reaktion war, wenn eine riesige Hand sich auf jene zubewegte. Sie wurde gegriffen und angehoben und dachte, nun war es aus, nun hatten sie sie entdeckt. Aber die Person behielt sie nicht in der Hand. Stattdessen wurde sie in etwas geworfen, vielleicht ein Becher, aber weicher, in dem sie leicht gefedert aufkam. Es klapperte, als sie durchgeschüttelt wurde und gegen würfelförmige Gegenstände stieß, die ungefähr so groß waren wie sie. In einer Ecke ihres Bewusstseins (und es belustigte sie unpassender Weise, dass ihr Bewusstsein vielleicht tatsächlich in einer Ecke sitzen mochte, weil sie davon acht hatte), wurde ihr klar, dass sie selbst ein Würfel war. Eine äußerst unpraktische Form, wenn es darum ging, hier wegzukommen. Sie war getarnt: Ein Würfel auf einem Tisch, wo gewürfelt wurde, fiel nicht auf. Sie war fest genug verfaltet, dass ihr Körper beim Schütteln nicht aufsprang. Aber sie konnte sich nicht davonbewegen. Und viel schlimmer war: Sie würde auch nicht zurückgelassen werden.