Reine machen

CN: Ratten - erwähnt, Objektivizierung als Zärtlichkeitsding, Religion mit Tradition und Kleiderordnung, vermutlich am ehesten auf katholische Rituale anspielend.

Lilið hatte das Gefühl, dass das Bett schaukelte, in dem sie lag. Es war Unsinn. Die Zivil-Sakrale stand stabil auf einem Hügel mitten in Bellim. Nichts schaukelte hier. Wahrscheinlich würde es noch ein oder zwei weitere Nächte brauchen, bis sich für Lilið nicht mehr alles danach anfühlte, über eine Kagutte zu gehen.

Es war ihre erste Nacht hier und es würde vielleicht auch ihre letzte sein. Das Reinigungsritual, über das sich Alawin und Lenja unterhalten hatten, fand zweimal in der Woche statt, aber die beiden Sakrals-Dienenden waren darüber unterrichtet worden, dass es für die Dauer des Aufenthalts der Kronprinzessin nicht zur Durchführung kommen sollte. Sie waren darüber nicht angetan und hatten sich, wann immer sie sich unbelauscht gefühlt hatten, darüber ausgelassen. Mal ernsthafter, wie in dem Gespräch auf Baeðisch, mal scherzender, indem sie sich ausgemalt hatten, wie sie das Ritual einfach trotzdem ausführen würden. Und darin sahen Drude und Lilið ihre Chance. Sie würden herausfinden, wie es ausgeführt wurde, und auf diese Art als Sakrals-Dienende in die Zentral-Sakrale gelangen, so der noch nicht ausgereifte Plan. Sie würden dabei so tun, als wären sie sauer, dass es ihnen verboten worden wäre, und sie würden klar machen, dass sie sich das nicht gefallen lassen würden. Wenn ihnen das abgekauft würde, – und das erschien ihnen nicht als Ding der Unmöglichkeit –, wären sie für einen gewissen Zeitraum Lajana sehr nahe. Alawin und Lenja rechneten damit, für das Doch-Ausführen des Rituals im Wesentlichen mit viel Arbeit in der Sakrale bestraft zu werden. Diese Regel zu brechen, schien also nicht allzu gefährlich zu sein. Es wäre lediglich so etwas wie eine Übertreibung, zu viel des Guten, würde aber wohl Augen rollend akzeptiert werden, hatte Drude interpretiert.

Die Redewendung ‘den Hammer gleich mit an die Wand nageln’ bedeutete genau dies: Übertreiben, etwas übers Ziel hinausschießen, zu viel des Guten und manchmal auch einfach bloß übergründlich sein. Im Alevischen gab es eine einzelne Vokabel für ‘an die Wand nageln’, die ein Teekesselchen war. Das alevische Wort für ‘Schrank’ wurde lediglich in der Schreibweise durch einen zusätzlichen Strich, der es als Substantiv statt Verb kennzeichnete, von der Vokabel für ‘an die Wand nageln’ unterschieden. Daher war eine sehr schlechte Übersetzung der Redewendung ins Baeðische: ‘Den Hammer gleich mit Schrank’. Eine auf andere Art schlechte Übersetzung, wenn das Wort ‘Schrank’ in ein Verb umgewandelt würde: ‘Den Hammer gleich mit beschränken’.

Drude und Lilið waren sich einig, dass sie am liebsten mehr Zeit zur Vorbereitung gehabt hätten. Einen ganzen Tag vielleicht, viel mehr auch nicht. Sie hätten gern etwas mehr Sicherheit gehabt, wollten Lajana aber auch nicht zu lange warten lassen oder riskieren, dass die Königin oder etwaige Verhandlungspersonen vor ihnen da wären. Doch das Ritual fand am nächsten Mittag statt. Und dann erst vier Tage später wieder. Dann konnte alles zu spät sein, oder wäre zumindest sehr knapp. Es war besser, wenn sie die Gelegenheit jetzt ergriffen.

Das Gespräch über Schleusen hatten die beiden gemischt auf beiden Sprachen fortgeführt. Lilið hatte also etwa die Hälfte verstanden, die andere hatte Drude ihr im Nachhinein erklärt: Um den Eingang von der Seeseite zu passieren, fuhren die sakralierten Boote in eine Schleuse ein. Im Schleusenbecken konnte dann vom Boot aus ein Mechanismus in Gang gesetzt werden, der das Schleusentor schloss und dafür sorgte, dass das Wasser im dann entstandenen Becken sie hinauftrug, und zwar nicht einmal vor den Eingang, sondern in eine dunkle Halle direkt in die Sakrale. In dieser Halle war Alawin ein paarmal zu einem vergangenen solchen Ritual zugegen gewesen und hatte angetan davon geschwärmt.

Das Problem an der Sache war, dass das Becken im Normalfall geschlossen war. Sonst könnte ja einfach jede beliebige Person mit einem genügend flachen Segelboot unter den Säulen der Sakrale hindurch in das Becken einfahren und sich hinauftransportieren lassen. Der Mechanismus, der die Schleuse zur Einfahrt vorbereitete und öffnete, konnte im Leuchtturm ausgelöst werden. Lilið erinnerte sich an das kleine Segelboot, das von der Sakrale Richtung Leuchtturm gesegelt war. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun gehabt. Vielleicht war es dort für ein anderes Ritual gewesen.

Wie der Mechanismus im Leuchtturm ausgelöst wurde, wussten sie noch nicht. Ihr Plan hatte also einige Lücken. Immerhin wussten sie, dass die Kronprinzessin in dem Raum gefangen gehalten wurde, in dem das Reinigungsritual normalerweise durchgeführt wurde. Es war nicht unbedingt ein gemütlicher Raum, eher ein bombastischer. Das war eine Information, die Drude vom anderen Paar erhascht hatte, das sich über die Prinzessin unterhalten hatte: König Sper hatte ausgehandelt, dass sie dort gefangen gehalten würde, damit sie jederzeit bereit für einen angemessenen Empfang von Königin Stern wären. Einen, bei dem es ums Prahlen ging. Das Ganze hatte allerdings für sie den Vorteil, dass in jenem Raum der Sakrale Sakrals-Dienende für ihre Rituale darauf bestehen durften, dass alle Sakrallosen den Raum verließen, außer der Prinzessin. So war der Pakt geschlossen worden. Und das hieß, sie konnten, sollte Wache Schäler zugegen sein, jene Person einfach vor die Tür verweisen. Sie hofften trotzdem, einen Moment zu erwischen, in dem sie nicht anwesend wäre.

Lilið lag mit offenen Augen im schmalen Bett und fühlte das eigentlich nicht vorhandene fortwährende Schaukeln, während Drude neben ihr noch im Licht einer Kerze ein Heft las, in dem das Reinigungsritual grob beschrieben wurde. Solche Hefte lagen am Eingang des Saals der Verkündung aus, beschrieben aber auch allerlei andere Rituale und waren nicht ausführlich. “Aha, es geht also dabei einfach darum, den Raum zu putzen.”, murmelte dey.

“Bestimmt auf irgendeine sakrale oder ritualisierte Weise.”, vermutete Lilið.

“Na sicher!”, stimmte Drude zu. Dey las noch eine Seite, bevor dey Lilið das wichtigste zusammenfasste. “Ich bin nicht sicher, ob ich mich gewappnet fühle.”, schloss dey.

“Ich auch nicht.”, antwortete Lilið.

“Wir sollten schlafen. In der Nacht redet niemand, sodass lauschen zwecklos ist.”, meinte Drude. “Kuscheln wir?”

Warum kamen Lilið denn jetzt die Tränen? Sie hatte keinen Plan, was das sollte. Sie stand auf und kroch zu Drude ins Bett, in dere Arme. Sie kam sich vor wie ein Kuscheltier, und das war kein schlechter Gedanke. “Findet Lil dich eigentlich?”

“Hier eher nicht.”, antwortete Drude. “Ich denke, dey ist bei meinen Eltern.”

“Du hast mir nie über deine Eltern erzählt.”, fiel Lilið auf.

“Ich habe dir über vieles nicht erzählt.”, entgegnete Drude. “Ich weiß nicht, ob ich meine Eltern wirklich mag. Ich komme mit ihnen aus. Ich besuche sie aus Pflichtgefühl und manchmal ist es ganz nett. Ich hatte da das Brot her, dass ich an dich verfüttert habe, und wenn alles vorbei ist und ich den Mist überlebe, werde ich Lilið abholen, und, hm. Dich fragen, ob du mich mitnimmst. Wo auch immer hin.”

Es erinnerte Lilið unweigerlich an Marusch. Sie hatten auch geplant, nach der Rückgabe des Buchs miteinander zu reisen und vielleicht eine Revolution anzuzetteln. Oder zumindest einen Weg dafür zu ebnen, während der Weg auch einen Selbstzweck hatte. Und dann hatten sie sich nie wieder gesehen, kurz bevor Mission Buch abgeschlossen gewesen war.

Nun entwickelte sie mit Drude Ideen über einen Zukunftsplan, kurz bevor Mission Lajana abgeschlossen wäre. Alles war ziemlich heikel. Interessanterweise hatte sie keine Angst, Drude zu verlieren, aber der Gedanke behagte ihr natürlich trotzdem nicht.

Lilið schmiegte sich fester an Drude. “Ich würde Lajana zurück gen Nederoge, oder besser noch Angelsoge bringen und dann Marusch suchen.”, sagte sie. “Ich würde dich gern mitnehmen. Aber du sagtest, dass du Marusch vielleicht lieber nicht begegnen willst.”

“Ich dachte erst einmal an kurzfristige Pläne. Hier wegkommen. Neu orientieren. Wenn wir diese Marusch treffen, dann kann ich immer noch weitersehen, ob ich mich mit euch doch wohl fühle, und bin erst einmal zeitlich und örtlich von hier weg.” Drudes Körper entspannte sich gegen Liliðs.

“Ein wenig frage ich mich schon, ob das nicht ein bisschen des Zufalls zu viel ist, dass wir hier direkt ein Sakrals-Dienenden-Paar treffen, das ununterbrochen über einen perfekten Plan für uns spricht.” Erst im Nachhinein fiel Lilið auf, dass sie das Thema einfach gnadenlos gewechselt hatte.

“Wo du recht hast.” Drude seufzte. “Auf der anderen Seite ist das sehr realistisch. Wenn eine Kronprinzessin in einer Sakrale gefangen gehalten wird, dann reden Leute darüber. Es kommt zu Planänderungen in Abläufen. Jene werden nicht von allen gutgeheißen. Leute beschweren sich darüber. Wenn jetzt nur ein einzelnes Gespräch stattgefunden hätte, und das auch noch perfekt abhörbar auf Baeðisch, wie es passiert ist, wäre ich vielleicht skeptisch. Aber es war nicht nur ein Gespräch, sondern mehrere. Und der größte Teil des Gesprächs, das sie auf Baeðisch geführt haben, war eine Liebeserklärung. Sie hatten Gründe für die Sprache, die ich gut verstehe. Und es waren auch nicht nur diese zwei Sakrals-Dienende, die darüber geredet haben. Ich halte eine Falle oder so etwas für sehr unwahrscheinlich.”

Lilið entspannte sich etwas. Wenn Drude das sagte, dann traute sie der Einschätzung zumindest mehr als ihrer eigenen. “Du bist nicht reinzufällig so etwas wie ein wandelnder Lügendetektor?”

Drude schnaubte in ihren Nacken. “Ich bin so gut darin ausgebildet, das zu sein, wie es eben geht. Das ist als Wache mein Beruf. Aber es geht auch nur so lange gut, wie Leute ihre physischen Reaktionen nicht völlig im Griff haben. Gegen geübte Lügende, denen ersonnene Geschichten so lässig über die Lippen gehen wie die Wahrheit, bin ich gegebenenfalls machtlos.” Dey strich Lilið über das Haupt. “Schlaf.”, bat dey. “Lass uns morgen früh noch etwas lauschen und genauer planen. Ich brauche gerade Schlaf.”


Lilið fühlte sich beim Frühstück wieder recht panisch, weil sie nicht sprachen. Natürlich sprachen sie in einer großen Halle, in der gespeist wurde und auch sonst niemand ein Wort sprach (außer einer zum Essen gehörigen Floskel am Anfang), ebenfalls kein Wort. Nur wie sollten sie sich so absprechen?

Immerhin fand das Frühstück sehr früh statt, sodass sie noch ein wenig Zeit haben würden. Hoffentlich. Im Nachhinein war jedenfalls gut, dass Drude sie zum Schlafen gedrängt hatte, sonst hätten sie davon wenig bekommen. Aber statt, dass sie nach dem Frühstück zurück auf ihr Zimmer gegangen wären oder eines der Paare erneut zum Belauschen aufgesucht hätten, führte Drude sie als nächstes in die Bibliothek.

“Das ist die Bibliothek!”, informierte dey unnötigerweise mit gesenkter Stimme. Die alevischen Worte verstand Lilið noch, alles weitere, wie immer, kaum.

Drude führte sie langsam durch die Bibliothek und entnahm manchem Regal dabei ein Buch. Eines war groß und wirkte zerfleddert, wie ein Schulheft in Norm8-Format. Die anderen waren viel kleiner, vielleicht eher ein Norm4-Format, aber Lilið war sich bei dem Seitenverhältnis nicht ganz sicher. Als sie in einer Ecke der Bibliothek alleine waren, schob Drude das zerfledderte, große Buch ohne vorher zu fragen einfach unter Liliðs Sakralutte. Lilið klemmte es dort mit ihrem Körper ein, so gut es ging. Dann schritten sie zurück, zwischen hölzernen Bücherregalen mit den wegweisenden Informationstafeln daran Richtung Ausgang. Eigentlich mochte Lilið Bibliotheken sehr, – da entsprach sie wahrscheinlich einem Mainstream. Aber heute konnte sie die Atmosphäre nicht so sehr in sich aufsaugen.

Neben dem Ausgang gab es einen Tresen, hinter dem eine Person in einer blassblauen Sakralutte saß. Die Kleidung machte den Eindruck, als wären für sie eine Bluse, eine Schürze, ein Rock und eine Scherpe zu einem vernäht und verschmolzen worden. Sie ließ Oberarme frei, war nicht hochgeschlossen, aber machte auch keinen anzüglichen Eindruck auf Lilið. Sie hatte nach Drudes Bericht mit Schlimmerem gerechnet. Dann wiederum hatte sie keine Ahnung, was Menschen im Allgemeinen anziehend fanden.

Die Person fragte Drude etwas und Lilið erkannte die alevischen Worte für Interesse und Leuchtturm in gebeugter Form wieder.

“Geschichte.”, antwortete Drude, ebenso auf Alevisch. “Ich führe Sakrals-Diener Aurin in die Örtlichkeiten und Geschichte der Sakralen in Bellim ein.” Zumindest glaubte Lilið, dass Drude das sagte.

Die Person am Tresen nickte. “Beðem Ajad?”, richtetete sie sich an Lilið.

“Hatinan.”, antwortete Lilið und hoffte, dass ihre Haltung nicht zu steif war und preis gab, dass sie ein Buch in der Sakralutte mit sich führte.

Nachdem die anderen Bücher in ein Heft ganz ähnlich dem, das Lilið verborgen hielt, eingetragen waren, führte Drude sie endlich zurück auf ihr Zimmer. Lilið atmete erleichtert aus und reichte Drude das Buch. “Wieviel Zeit haben wir noch?”

“Bis wir an der Zentral-Sakrale sein müssen?”, fragte Drude. “So, wie ich das verstanden habe, kommt es auf den genauen Zeitpunkt nicht an, aber in fünf Stunden sollten wir spätestens dort sein.”

“Uffz!”, machte Lilið. “Ist das realistisch? Dass wir bis dahin wissen, wie?”

“Keine Ahnung.”, meinte Drude. “Wollen wir uns mit Zweifeln oder mit Planen aufhalten?”

“Planen!”, entschied Lilið. “Und sollte sich das dann nicht als durchführbar herausstellen, können wir immer noch kurzfristig einen Rückzieher machen.”

“Genau!” Drude blätterte durch das Buch, das Lilið demm gereicht hatte. Das hatte dey in der Bibliothek schon, aber nur flüchtig.

Es hatte zwischen anderen solcher Bücher in einer Art Archiv gestanden. Lilið mutmaßte, dass jenes so etwas wie ein Aufbewahrungsort von Logbüchern oder ähnlichem war.

Drude reichte ihr das Buch zurück. “Soweit ich das verstehe, lassen sich die Boote mit einem Anlass und so einem Buch leihen.”, informierte dey. “Das Buch wird am Bootshaus abgegeben und der Anlass wird samt Datum eingetragen und abgezeichnet. Das Buch hat natürlich eine Eichung.”

“Und es ist voll.”, fügte Lilið hinzu. Ein offensichtlicher Hinweis auf eine Problematik, die sie mit einem Schmunzeln und gehobenen Augenbrauen unterstreichte.

“Richtig.”, bestätigte Drude. “Das Buch, das aktuell in Benutzung und noch nicht archiviert ist, befindet sich im Empfangsraum von Sakralet Henre, wo wir schon einmal waren. Meine Frage an dich wäre: Sollen wir dort einbrechen und es stehlen, oder kannst du dieses Buch hier irgendwie so umfalten, dass es mindestens noch eine leere Seite hat und die Daten auf den Seiten davor realistisch als kürzlich vergangen durchgehen?”

“Ich sehe es mir an.” Nun, Lilið konnte Alevisch nur bruchstückhaft lesen, aber die Buchstaben waren ihr bekannt und die Zahlzeichen sogar die gleichen wie im Baeðischen. Sie würde bei der Manipulation nur eine Seite löschen und Datumsangaben auf vorherigen verändern müssen. Sie blätterte durch das Buch, um eingermaßen ein Muster ableiten zu können: Wie oft wurden Boote geliehen? Waren es verschiedene Personen, die abzeichneten? Ja, waren es. Zeichneten sie immer um die gleichen Zeiten herum ab?

“Um in den Leuchtturm zu gelangen, braucht es wohl auch ein Zertifikat.”, murrte Drude, inzwischen auf dem Rücken auf derem Bett liegend, das Gesicht halb unter einem Buch verborgen, in dessen Einband skizzenhaft der Leuchtturm eingraviert war. Es roch alt. Lilið nahm den angestaubten Geruch über die Lücke ihrer Liegen hinweg wahr, wann immer Drude umblätterte. “Ich habe keine Ahnung, ob das noch aktuell ist oder wie das aussehen soll. Oder ob ein Buch über die Geschichte des Leuchtturms wirklich die beste Quelle für so ein Wissen darstellt.”

“Vielleicht gibt es einen Geheimgang.”, schlug Lilið vor. Sie hatte die Finger auf das Papier gelegt, um sich auf eine Faltung vorzubereiten, zu sehen, was ihr möglich sein würde.

“Am besten ein unbewachter Geheimgang. Der vom Land direkt in einen Leuchtturm auf dem Meer führt. In dem ein Mechanismus das Schleusen auslösen kann, um in den Hochsicherheitstrakt der Sakrale zu gelangen.” Drude klang eindeutig sarkastisch. Ernster fügte dey hinzu: “Der Name des Traktes ist eigentlich offiziell nicht Hochsicherheitstrakt. Aber er ist so geschützt, dass selbst dieses Buch ihn scherzhaft so bezeichnet.”

“Du hast ja recht.”, brummte Lilið. Natürlich war die Idee, dass ein Geheimgang in den Leuchtturm existieren könnte, absurd.

Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe. Ihre Finger fanden die eingesogene Tinte im Papier, aber wagten noch nicht, zu falten. Sie konnte temporär falten, wie sie es bei ihrem Nautika-Zertifikat gemacht hatte, oder permanent. Im ersten Fall könnte sie den Originalzustand, ohne Spuren zu hinterlassen, wieder herstellen, aber sie müsste das Buch berühren, solange es gesichtet und abgezeichnet würde. Das käme nicht in Frage. Trotzdem versuchte sie zunächst eine temporäre Faltung, um sich das Ergebnis anzusehen, bevor sie es endgültig täte. Dabei stellte sie fest, dass sie das doch nicht konnte. Sie konnte nicht zugleich so viele Stellen im Buch in einer temporären Faltung halten. Sie würde also auf gut Glück permanent falten müssen. Sie seufzte. Um sich kurz gedanklich zu erholen, bevor sie das riskante Vorhaben in die Tat umsetzte, konzentrierte sie sich einen Moment stattdessen auf Drude: “Was findest du heraus? Müssen wir noch ein Zertifikat stehlen?”

“Ich lese noch.”, antwortete Drude. “Ich sage dir später alles Wichtige.”

“Was, wenn ich Ideen hätte, die dir nicht kommen? Ist es nicht sinnvoller, wenn du mir den Text immer mal wieder auf Baeðisch zusammenfasst?” fragte Lilið.

Drude schüttelte den Kopf. “Das würde mich sehr bremsen. Können wir Aufgaben aufteilen und du vertraust darauf, dass ich dir schon alles Wichtige sagen werde?”, fragte Drude.

Stimmt, dachte Lilið. Es ging schon wieder um Vertrauen. Vielleicht noch nicht bei ihrer ersten Frage, die sie bloß ablenken sollte. Aber sie hatte es auch deshalb getan, um an Drudes Aufgabe mehr teilhaben zu können. Es fühlte sich seit gestern schon unbehaglich an, dass Drude den Sprachvorteil hatte und ihr nicht dauernd erzählte, was los war. Lilið fühlte sich ausgeschlossen und allmählich stieg die Angst wieder an, dass Drude etwas gegen sie im Schilde führen könnte. Wie unsinnig. “In Ordnung.”

Drude blickte auf. “Wir müssen gut zusammenarbeiten können.”, sagte dey. “Dazu müssen wir uns auf einander verlassen. Wenn du mir immer noch nicht vertraust, verstehe ich das, aber, hm. Wenn du meinst, dass du das brauchst, dass ich dir mehr offenlege, dann tue ich das, auch wenn ich dann weniger effizient bin.”

“Ich vertraue dir.”, antwortete Lilið fest. “Und selbst wenn nicht, ist auf der Vermutung aufzubauen, dass du mir keine Fallen stellst, rein pragmatisch schon die Option mit den besten Chancen.”

Über Drudes Gesicht huschte ein Grinsen. “Wie weit bist du?”, fragte dey.

“Ich brauche gleich einmal meine volle Konzentration dafür und wollte mein Gehirn vorher kurz ausruhen.”, erklärte Lilið. “Ich mache mich jetzt an die Faltung.”

“Ich habe dich sehr gern, Lilið.”, sagte Drude leise.

Lilið hielt sich zurück, zu fragen, ob dey sie asexuell sehr gern hätte. Sie wusste nicht, wie Drude es bezeichnen würde, aber sie wusste Bescheid, was Drude wollte und was dey nicht wollte. Die Frage, ob aromantisch, hätte vielleicht mehr Sinn ergeben. Vielleicht. Aber Lilið lächelte demm einfach an, nur einen Moment, bevor sie die Augen schloss und sich auf das Buch konzentrierte.

Sie versuchte zunächst, Tinte von Papierpartikeln zu trennen und aus der Seite heruszufädeln, sodass sie die Tinte abstreifen könnte wie Staub. Aber die Tinte hatte sich so sehr mit den Papierfasern verbunden, dass sie wie ein einheitliches Material unter Liliðs Fingern verbunden blieben. Lilið musste also mit der Tinte auch jedes Mal ein paar Fasern des Papiers an die Oberfläche falten. Es war frickelig und erforderte viel Konzentration. Und hätte sie nur die Fasern entfernt, die wirklich notwendig gewesen wären, hätte sie Stunden gebraucht, die sie nicht hatten. Also entfernte sie größere Stücke aus der Seite. Leider wurde sie dabei sehr dünn. Als sie das Ergebnis anblickte, war sie nicht sonderlich zufrieden. Sie sah der Seite sofort an, dass sie anders als die anderen war.

Sie fragte sich, ob sie Drude Bescheid geben sollte, dass sie ein Buch verhunzt hatte. Vielleicht ließe es sich wiederherstellen. An das Schriftbild erinnerte Lilið sich. Die schwarzen Krümel des abgetragenen Papiers hatte sie auf einen Beistelltisch zusammen gefegt. Die Idee des Widerherstellens führte schließlich zu einer des Flickens: Sie fühlte in all die anderen Seiten hinein, wo es Fasern an dickeren Stellen des Papiers gab, und faltete sie aus jenen Seiten hinaus, um sie in die gelöschte Seite zum Reparieren einzupflegen.

Sie seufzte wieder, einigermaßen zufrieden, als sie fertig war und Drude das Ergebnis vorlegte. Es würde unter sehr genauer Betrachtung vielleicht auffallen, aber wahrscheinlich nur, wenn die Leute, die es in die Hand bekämen, bereits einen Verdacht hegten. Die Daten anzupassen war am Ende das kleinste Problem gewesen. “Ob das Buch, das eigentlich gerade in Betrieb ist, vielleicht gerade erst frisch angefangen ist, sodass es auffällt, dass hier nur etwas mehr als eine Seite frei ist?”, fragte Lilið.

Drude nahm das Buch entgegen, zunächst ohne es genauer anzusehen. “Ich würde damit rechnen, dass es fast voll ist.”, erwiderte dey. “Dieses umfasst einen Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahren und ist auch fast zwei Jahre alt. Es kann natürlich sein, dass ich mich dabei sehr verrechnet habe. Kontrollier das bitte.” Drude reichte Lilið das Buch abermals und wartete ab, bis sie hineingesehen und den Kopf geschüttelte hatte. “Oder es kann sein, dass das nächste Buch gerade erst voll geworden ist und noch nicht archiviert, es also bereits ein weiteres frisches gibt. Dann müsstest du dir irgendeine Geschichte ausdenken. Behaupte irgendetwas, dass das alte Buch doch noch nicht voll war oder so. Es wird dann schwierig.”

“Ich? auf Alevisch?”, fragte Lilið.

“Oh richtig. Wo bin ich mit meinen Gedanken.” Drude strich sich das dunkle Haar zurück, eine Geste, die dey selten tat.

“Das wäre dann eher deine Aufgabe, uns da herauszureden. Schon wieder. Fast alles ist gezwungenermaßen deine Aufgaben.”, hielt Lilið fest.

Aber Drude schüttelte den Kopf. “Derzeit denke ich, dass du das Boot alleine leihst und mich am Leuchtturm abholst. Wenn es dir recht ist.”, sagte dey. “Du hattest überraschend doch Recht mit dem Geheimgang.”

Lilið runzelte die Stirn. “Durch einen Geheimgang zu gehen, braucht weniger Sprachkenntnisse, oder? Sollten wir dann nicht vielleicht tauschen?”

“Wenn du den Trick mit dem Unterwasseratmen innerhalb der nächsten Stunden plötzlich doch lernst, wäre ich für einen Tausch zu haben.”, erwiderte Drude.

Lilið konnte sich nicht davon abhalten, leise zu kichern. “Ein Geheimgang, der Unterwasser steht, also.”

“Die Schleuse funktioniert, indem ein Pumpsystem vom Leuchtturm aus betrieben wird. Dazu verlaufen Rohre unter Wasser von der Sakrale zum Leuchtturm.”, erklärte Drude. “Ich habe das noch nicht ganz genau verstanden. Erst dachte ich, ich könnte den Mechanismus vielleicht unter Wasser auslösen, und da ich etwas Hydromagie beherrsche, ist das noch nicht ausgeschlossen. Ich müsste es weit genug weg von Sakrale und Leuchtturm tun, damit die Magie nicht entdeckt wird. Jedenfalls führt auch ein Gang am Rohr entlang, der mal ein Trockengang war und erst zur Fertigstellung geflutet worden ist. Von diesem Gang aus wurde das Rohrsystem gebaut. Und es mündet bei einer alten, verschlossenen Tür im Keller des Leuchtturms. Die Tür wird vor Überflutungen geöffnet, weil der Leuchtturm stabiler steht, wenn er unten voll Wasser ist. Aber normalerweise ist sie dicht und bildet einen Zugang in einen trockenen Keller.”

“Das ist wirklich interessant!” Lilið beglückwünschte Drude innerlich für die Wahl dieses Buches. “Ich sehe zwei Probleme: Bekommst du die Tür von außen auf? Ich meine nicht wegen des Wassers, da hast du Hydromagie, sondern wegen Verriegelung. Und wie behältst du eine trockene Sakralutte?”

“Die Tür konnte damals, als der Tunnel noch nicht geflutet war, von beiden Seiten geöffnet werden, damit die Arbeitenden sich nicht darauf verlassen mussten, eingelassen zu werden.”, erklärte Drude. “Hier steht nichts darüber, dass das inzwischen eingerostet wäre oder so. Es kann Schwierigkeiten geben, weil sie bestimmt lange nicht mehr von außen geöffnet worden ist, das stimmt wohl.” Drude klappte das Buch zu und tauschte es gegen ein anderes aus. Immer noch betrachtete dey Liliðs Werk nicht genauer, das sie Drude inzwischen wieder gereicht hatte. “Ich hatte gehofft, du könntest mir meine Sakralutte handlich falten, sodass ich sie in meiner wasserdichten Tasche mitnehmen kann. Auf eine Art, dass ich die Falten dort dann ausschütteln kann.”

Lilið nickte. “Stimmt, das sollte das kleinste Problem sein.”

“Ansonsten haben dort sicher viele Sakrals-Dienende Sakralutten gegen Arbeitskleidung und zurück getauscht. Das wäre typisch. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich dort noch eine finde.”, überlegte Drude. “Aber die Faltvariante ist sicherer. Zumal die Sakralutten dort beliebig alt sein können, wenn es welche gibt.”

Lilið nickte. “Dann bleibt das Problem, dass ich mir ein Boot leihen möchte, ohne ein Wort Alevisch zu sprechen.”

Drude nickte, schlug das nächste Buch auf und grinste. “Und hier steht die Lösung, gleich in den ersten Sätzen.”, sagte dey. “Für dieses Problem. Es könnte woanders Probleme erzeugen. Das Reinigungs-Ritual wird von vorn bis hinten schweigend ausgeführt.”

“Also wundert sich niemand, wenn ich ein Buch abgebe und keinen Mux von mir gebe?”, fragte Lilið. “Wobei ich Skepsis dann auch nicht wegreden könnte.”

“Genau, es wundert dann niemanden. Es gibt ein Zeichen für Reinigung, das du machst, dann wissen die Abzeichnenden das Anliegen.”, bestätigte Drude. “Alles andere ist ein bisschen Glück. Wichtig ist vor allem, dass wir im Boot kein Wort sprechen. Die sakralierten Boote, mit denen die Einfahrt in die Sakrale zulässig sind, merken, wenn gesprochen wird und der Schleusenmechanismus, der uns hinauftransportieren würde, wird eventuell nicht ausgelöst, wenn das Boot durch ein Brechen des Schweigens entsakraliert ist.”

“Hui.”, machte Lilið. “Das sehe ich nicht unbedingt als Vorteil, wenn es darum geht, ein Verbrechen auszuüben, das wir nicht bis ins kleinste Detail planen können.”

Drude nickte. “Handzeichen und so etwas sind in Ordnung. Wir können versuchen, vorher welche zu vereinbaren.”

“Gern.”, stimmte Lilið zu. “Mir wäre vor allem gerade noch wichtig, wie wir am Ende wieder aus der Sakrale hinausgelangen.”

“Das ist einfacher, als hinein.” Drude legte das Buch, dass das Reinigungs-Ritual beschrieb, noch einmal zur Seite und begutachtete endlich Liliðs Fälschungsarbeit, tastete mit den Fingern darüber, nickte und reichte es Lilið zurück. “Komplex wird der Teil, in dem wir im Raum mit Lajana und den Wachen sind und ich letzteren sagen werde, dass sie den Raum verlassen müssen. Erst mit Zeichen, und dann mit Worten, falls sie nicht darauf eingehen. Das bricht das Schweigegebot, aber wir sind dann ja schon drinnen und reden mit Sakrallosen. Das ist dann im Ritual geduldet für den Zweck. Sobald sie draußen sind, wäre deine Aufgabe, Lajanas Fesseln zu lösen. Sie wird gefesselt sein, das ist sicher. Und nicht mit Seil, sondern mit Schellen, die Magie unterdrücken. Ich kenne die Dinger aus dem Wachtdienst. Die sind etwa so schwierig zu knacken wie die Tür zu den Sakralutten, denke ich. Das wäre deine Aufgabe. Dann faltest du dich und Lajana zu einer Ratte oder so, ich stecke euch in die Tasche und springe die zwei Stockwerke tief ins Wasser. Das kann mein Körper ab, so etwas bin ich gewohnt. Das sind alles Dinge, mit denen die Wachen nicht rechnen werden, zumindest, solange sie uns nicht erkennen.”

Lilið versuchte sich den gesamten Ablauf zu merken. Es würde alles sehr heikel werden. “Meinst du, du könntest an der Stimme erkannt werden?”

“Ich werde sie ein wenig verstellen.” Drude atmete tief durch und sagte dann mit ungewohntem Klang in der Stimme, sodass sie für Lilið vor allem als Drudes erkennbar war, weil sie demm inzwischen so gut kannte: “So etwa? Kann das funktionieren?”

Lilið nickte skeptisch. “Es könnte klappen, wenn dich die Leute weniger gut kennen als ich.”

“Hm.”, machte Drude. “Es muss reichen, und es wird der größte Risikofaktor sein, denke ich.”

Lilið versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Es war ein so unsicherer Plan. Aber es war gleichzeitig jetzt schon besser geplant als jegliches Verbrechen, das sie je bisher geplant hatte. Sie versuchte, sich auf alles einzustellen, alles zu durchdenken, während sie Drude beobachtete. Dey las nun wieder über das Reinigungsritual in einem der Bücher. Die Sakralutte hatte sich an deren Beinen hinaufgeschoben, sodass jene an Luft kamen. Dey sah schön aus darin, fand Lilið. Das schwarze Haar, das glatt an einer Seite des Gesichts herunterfiel, und die durch die Sakralutte noch mehr verbreiterten Schultern.

“Beim letzten Plan, den ich ausgeführt habe, der so viele unsichere Komponenten hatte wie dieser hier, habe ich Marusch verloren.”, murmelte Lilið.

“Willst du es lieber lassen?”, fragte Drude. Dey blickte nicht einmal auf.

“Nein, ich möchte es nicht lieber lassen.”, antwortete Lilið fest. “Ich wünschte mir nur, ich weiß auch nicht. Dass dir nichts passiert.”

Nun sah Drude doch zu ihr hinüber. “Weißt du, ob Marusch noch lebt?”

Lilið schüttelte den Kopf.

“Dachte ich mir fast.”, meinte Drude. “Und ich glaube, es ist ein ungünstiger Moment, um darüber sauer zu sein, dass du mir noch etwas vorgemacht und nicht aufgelöst hast: Du hast damals einen Brief an Heelem und Marusch geschrieben. Ich hätte gern gewusst, wie wackelig das alles ist. Nun wissen wir wenigstens beide, was wir riskieren.”

“Es tut mir leid.” Lilið fühlte, wie ihr heiß wurde und ebenso heiße Tränen in ihre Augen schossen. “Ich wollte dir nichts mehr verschweigen, was wichtig für dich sein könnte, und habe es wieder getan.”

»Nein, ich bezog mich auf damals. Für unseren Plan jetzt spielen Marusch oder Heelem keine Rolle.«, erwiderte Drude. Dey wandte sich ihr mehr zu. »Es tut mir leid, dass du so sehr im Unsicheren sein musst. Die Angst ist vermutlich belastend. Und trotzdem wüsste ich gern, – und es tut mir leid, dass ich direkt die nächste fiese Frage nachschiebe: Wie sicher bist du dir über Heelem, dass er lebt?«

Lilið grinste, aber fühlte sich nicht glücklich dabei, also ließ sie es rasch wieder bleiben. “So sicher, wie ich es mir bei dir wäre, würde ich etwa einen Monat keinen Kontakt zu dir haben. Ich habe ihn nicht in einer gefährlichen Lage zurückgelassen. Und wir haben den Hinweis von der Abe. Aber Heelem ist ein Mensch, der nicht wenig risikoreich lebt, glaube ich.”

Drude nickte. “Das reicht mir. Danke.”

Dey versenkte sich wieder in das Buch. Lilið beobachtete demm dabei, wie dey noch zwei Seiten las, und fühlte sich seltsam endgültig. Dann klappte Drude das Buch unvermittelt zu. Es machte ein dumpfes Geräusch dabei, das Lilið mochte. “Gehen wir? Es wird Zeit.”