Einen guten Draht haben
CN: Eifersucht, internalisierte Ace-Feindlichkeit, reden über ein Massaker, unangenehme Gefühle am Auge, Misgendern, Gaslighting ?, toxische Beziehung, emotionaler Missbrauch ?, BDSM, Knien, Dominition/Submission, Befehle.
Heelem schickte Lilið und Lajana zu Bett (beziehungsweise zu Koje), noch bevor sie Oesteroge erreichten. “Ihr seid sehr erschöpft und außerdem sind eure Gesichter öffentlich bekannt.”, erklärte er. “Wir haben inkognito vielleicht ein paar Vorteile, wenn wir im oesteroger Hafen Hilfe brauchen.”
“Maruschs Gesicht ist nicht bekannt?”, fragte Lilið.
Marusch schüttelte den Kopf. “Ich bin in der Zentral-Sakrale das erste Mal ohne Schleier vorm Gesicht in der Öffentlichkeit gewesen.”, erklärte sie.
Und es hat außer uns niemand überlebt, ergänzte Lilið in Gedanken.
Lajana stieg vor ihr die Treppe hinab und hielt sich bereit, um Lilið aufzufangen, sollten ihr wieder die Kräfte versagen. Lajanas Sorge war nicht unbegründet. Lilið war einfach fix und fertig mit allem.
“Teilen wir uns die Koje?”, fragte Lajana.
Lilið überlegte, dass sie längst schlafen würde, wenn Marusch käme, also nicht so viel davon hätte, wenn sie eine Koje mit Marusch teilte. Sie nickte. “Wenn du möchtest, gern.”
Sie zog sich nicht einmal um, bevor sie sich auf die halbwegs weiche Unterlage legte. Lajana zog mit einigen kräftigen Zügen die Decke unter Lilið hervor und deckte sie zu. Wie, als wäre Lilið ein Kind, und so fühlte sich Lilið gerade auch. Irgendwo von oben drangen vertraute Stimmen nach unten. Sie konnte keine Worte aber schon Gefühle darin ausmachen. Sie fühlte sich in die Zeit als Kind zurückversetzt, in der sie die Stimmungen unter den Erwachsenen beim Einschlafen als Einschlafmusik wahrgenommen und ohne jene nicht schlafen gekonnt hatte. Die gelassene Gemütlichkeit und die Vertrautheit ihrer Eltern, wenn Lilið in einem benachbarten Raum bei geöffnerter Tür einschlief. Lord Lurch und ihre Mutter liebten sich sehr. In Liliðs müdem Schädel wirkten diese zwei Erkenntnisse inkompatibel wie Öl und Wasser, dass sie so zart miteinander waren, aber sie ihren Vater politisch zunehmend kritischer sah. Auf eine Weise, dass sie unignorierbare Abscheugefühle entwickelte. Innerhalb des Systems verhielt er sich vielleicht überdurchschnittlich positiv, aber er hätte es in der Hand, das System mehr zu durchbrechen. Und er tat es nicht, weil er sein Ansehen nicht verlieren wollte, seinen Status nicht riskieren wollte. Er hinterfragte nur, was zu hinterfragen für ihn nicht anstrengend würde.
Sie sollte schlafen, ermahnte sich Lilið. Mehr auf die wohligen Gefühle des Jetztes achtend. Aber auch die Stimmung, die sie von ihrer Crew wahrnahm, war etwas eingetrübt. Überraschenderweise lag es nicht an Allil sondern an Drude. Wann immer Lilið Drudes Stimme hörte, bohrte etwas in ihr. Da war eine Fremdheit oder eine Traurigkeit im Klang. Lilið wusste es nicht genau.
Sie schlief ein, aber als die Teeseufel anlegte, bekam sie es doch wieder mit. Der Seegang im Hafen war ein anderer. Sie nahm Heelems leise Befehle wahr. Marusch und Drude bargen das Restsegel, nachdem sie die Teeseufel auf einem freien Hafenliegeplatz vertäut hatten.
Drude sagte den anderen dreien ‘Gute Nacht’, als alles getan war, und ging allein unter Deck. Lilið tat vielleicht das mühsamste, was sie seit Tagen getan hatte: Obwohl keine Lebensnotwendigkeit oder etwas in der Art dafür bestand, kroch sie, endlos erschöpft, wie sie war, aus der Koje. Lajana gab ein fragendes Geräusch von sich. “Ich komme gleich wieder.”, versprach Lilið.
Sie schleppte sich vor die Tür und lehnte sich von außen daran, stand Drude gegenüber. Hatte Drude damit gerechnet? Das wäre nicht unwahrscheinlich, weil dey immer alles spürte. “Was ist los mit dir?”
“Du lässt dir echt keine Zeit damit, mich mit der Frage zu konfrontieren.”
Lilið konnte nicht ausmachen, ob Drude ungehalten oder albern sarkastisch war. Sie nahm vorsichtshalber ersteres an. “Es tut mir leid.” Tatsächlich wusste sie nicht einmal, ob Drude es ironisch meinte. Ob Lilið jetzt mit einer anderen Einleitung hätte anfangen sollen oder ob Drude Liliðs Frage schon viel eher erwartet hätte. Aber es spielte gerade keine Rolle.
“Kein Ding.”, sagte Drude und trat näher an Lilið heran. Dey seufzte schwer und tief. “Ich bin eifersüchtig, glaube ich. Ich will nicht eifersüchtig sein, aber ich bin es.”
“Auf mich und Marusch?”, riet Lilið.
“Genau.” Drude atmete noch einmal ein und ließ die Luft seufzend entweichen. “Die Gefühle sind Unfug. Ich habe auch eine Menge Gedanken, die wahrscheinlich auch Unfug sind. Willst du sie trotzdem hören?”
“Ja.” Lilið war fix und fertig, aber um Drudes Gefühle zu sortieren, musste noch Zeit und Kraft da sein. “Gib mir all die Gedanken, wenn du sie teilen magst!”
“Ich bin nicht interessiert an Sex. Das hast du schon herausgefunden, glaube ich. Du hingegen magst Sex. Marusch auch.”, führte Drude aus. “Ich nehme wahr, wie sehr du ein Interesse an Nähe zu Marusch hast. Ich biete dir nicht dasselbe. Ich habe Angst, deshalb unwichtig für dich zu sein.”
“Drude, du bist mir so unbeschreiblich wichtig!” Lilið achtete nicht darauf, auf Lajana Rücksicht zu nehmen und leise zu sprechen. “Du bist mir so wichtig, dass ich meinen Körper dazu gezwungen habe, jetzt noch einmal für dich aufzustehen. Hm, das klingt irgendwie nicht nach viel, aber es ist viel.” Lilið fühlte sich nicht überzeugend genug.
“Ich weiß.”, sagte Drude einfach. “Wenn du dich nicht um mich gesorgt hättest, dann hätte ich mich gar nicht erst getraut, mit dir darüber zu reden.”
Lilið fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Weil sie für Drude da sein und demm diese Last abnehmen wollte. Sie fragte leise: “Würde es dir helfen, wenn ich meine Gefühle für dich und Marusch etwas aufdrösele? Damit du weißt, was Sache ist?”
“Ja, bitte.” Drude klang fast kleinlaut. Dey setzte sich auf den Boden neben Lilið und lehnte sich an die Tür. Irgendwo aus der Dunkelheit sprang plötzlich die Abe auf sie zu und schmiegte sich an demm.
Lilið ließ sich ebenfalls nieder. “Du hast wohl recht, dass ich zu Marusch eine ziemlich starke, romantische und körperliche Anziehung habe. Vielleicht sexuell, aber vielleicht sogar eher vor allem für leidenschaftliche Zärtlichkeit. Ich habe keine Ahnung, wo die Grenze ist. Das habe ich in der Form nicht für dich. Aber das hielte ich angesichts der Tatsache, dass du kein sexuelles Interesse an mir hast, auch eher für nicht hilfreich.”, erklärte sie. “Meine Gefühle zu dir und zu Marusch sind sehr verschieden, aber beide sehr stark. Die zu Marusch sind gerade vielleicht oberflächlich sehr präsent. Aber nichts davon wird dazu führen, dass du mir unwichtig werden würdest.” Lilið hatte das Gefühl, sich gedanklich zu verheddern. Sie hätte vielleicht gern einen glatteren Übergang zu dem gehabt, was sie nun hinzufügte: “Wir haben eine Sache mit Fetischen ausprobiert. Das ist etwas, was ich gern wiederholen möchte, wenn du willst. Und ausbauen. Das ist etwas, was ich mir so nicht mit Marusch vorstellen kann. Hilft dir das?”
“Es hilft.”, sagte Drude.
Es klang in Liliðs Ohren noch eingeschränkt. Aber sie gab Zeit, bohrte nicht nach.
Drude seufzte noch einmal. “Ich klinge wahrscheinlich sehr undankbar oder so, wenn ich frage: Wenn du die Wahl hast, mit wem du einfach nur kuschelst, würdest du dich je für mich entscheiden? Und es wäre halt völlig in Ordnung, wenn du ‘nein’ sagst. Außerdem ist vielleicht nicht in Ordnung, wenn ich die Frage stelle, weil es dich unter Druck setzt. Wie ich dich kenne, würdest du jetzt direkt fragen, ob wir eine Koje teilen wollen.”
Lilið fühlte sich erwischt. “Mit mir und Lajana hätte ich vorgeschlagen, stimmt.”
“Weißt du, Lilið, wenn du lieber mit Marusch kuscheln wolltest, dann müsste ich das halt aushalten, egal welche Gefühle das auslöst.”, erklärte Drude. “Ich muss dann einen Weg finden, mit meiner Eifersucht klarzukommen. Ich muss ihre Ursachen suchen. Die sind gar nicht so schwierig. Ich war einfach immer allein. Und nun habe ich Angst, dich zu verlieren. Aber wenn du gehen müsstest, dann wäre das eben so.”
“Ich gehe aber nicht.”, hielt Lilið fest.
“Ich weiß.”, flüsterte Drude. Dey fügte wieder in normaler Murmellautstärke hinzu: “Aber ich möchte nicht klammern. Nur weil ich ein Bedürfnis habe, dich sehr eng bei mir zu haben, weil ich nie jemanden hatte, heißt das nicht, dass du das leisten müsstest oder dass ich ein Recht darauf hätte. Das sind keine perfekten Worte. Weißt du, was ich meine?”
“Du hast ein Bedürfnis, ununterbrochen mit mir zusammen zu sein?”, fragte Lilið verwundert.
“Das ist auch wieder kompliziert.”, antwortete Drude. “Gerade habe ich das Bedürfnis dazu. Aber manchmal will ich allein sein, und dann streiten sich zwei widersprüchliche Bedürfnisse in mir. Aber mein größtes Bedürfnis ist, dir Raum zu geben und dich du sein zu lassen.”
Liliðs Inneres schnürte sich zusammen. “Fosh, ich habe dich einfach schon sehr lieb.”, sagte sie. “Du bedrängst mich nicht.”
Die Tür in ihrem Rücken drückte sich gegen sie, also rollte sich Lilið zur Seite und Drude stand auf, die Abe im Arm. “Kommt ihr zwei schlafen?”, fragte Lajana. “Entschuldigung, ihr drei. Marusch schläft eh mit Allil in einem Bett, weil Marusch sie nicht aus den Augen lassen wird. Also kuschelt miteinander und mit mir. Dass ihr kuscheln wollt, ist doch klar, aber wenn ihr es einfach tut, merkt ihr dann schon, wie doll ihr das wollt oder nicht. Das erspart das Diskutieren.”
Lilið kicherte. Völlig unrecht hatte Lajana vielleicht nicht.
“Das funktioniert so nicht.”, gab Drude entgegen Liliðs Gedanken zu verstehen. “Aber lasst uns das trotzdem tun und morgen darüber reden.”
“Und darüber, dass meine Gefühle nicht falsch sind.”, fügte Lilið hinzu.
“Oh!”, machte Drude. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht. “Das hilft mir gerade. Denn meine Gefühle, auch wenn ich sie da nicht haben will, sind auch eben einfach da und nicht falsch.”
Sie schmiegten sich also zu viert in die viel zu enge Koje. Es war zu eng, um sich umzudrehen, ohne sich mühsam zwischen Körpern auszufädeln und wieder hineinzuschmiegen. Lilið fragte sich, ob sie irgendwann aufwachen würde, weil sie viel zu lang auf der einen Seite gelegen hätte und sich nicht umdrehen könnte, weil sie sonst die anderen wecken würde. Egal.
Bevor sie endlich wieder einschlief, hatte sie noch eine Erkenntnis. Drude hatte Eifersuchtsgefühle, die Lilið zwar nicht kannte und die Drude nicht wollte, aber sie waren nun einmal einfach da. Es bestimmte nicht Drudes Handeln. Oder es hatte vielleicht bewirkt, dass dey sich vorübergehend zurückgezogen hatte, aber durch das, was Drude sagte, war Lilið absolut klar, was Drude für sie wollte, deren Gefühlen zum Trotz. Sie könnten jetzt gemeinsam überlegen, was sie tun könnten, um mit den Gefühlen zu arbeiten. Sie hatten zum Beispiel geredet. Aber Drude hatte nicht nur Eifersuchtsgefühle, sondern auch und vor allem Werte oder Wünsche, die dere Handlungen bestimmten. Lilið nahm Drude dere Eifersuchtsgefühle nicht übel. Warum auch?
Das ließ sich tatsächlich auf Liliðs Gefühle bezüglich des Massakers übertragen. Sie hatte es ästhetisch schön empfunden, was passiert war. Sie hatte ein Gefühl von Entspannung und Auflösung in sich. Die Gefühle bestimmten aber nicht ihre Handlungen. Sie waren erst einmal einfach da. Sie konnte sich anhand ihrer Werte und Wünsche Gedanken machen, wie sie handeln wollte. Wenn sie in dem Gewusel mal für eine Sache sich überraschend unpassend anfühlende Gefühle hatte, dann war das nicht schlimm. Sie musste sich das nicht übelnehmen. Das unpassend anfühlen war auch ein Gefühl, das ihr sagte, was sie eigentlich für ein Mensch war.
Nun fingen ihre Gedanken wieder an, zu detailliert zu werden, aber die Erkenntnis darunter war angenehm entspannend und sie konnte endlich einschlafen. In Löffelhaltung: Sie umarmte Lajana von hinten und Drude sie. Irgendwo zu ihren Füßen räkelte sich manchmal die Abe. Das war schön.
Erst zwei Tage später war Lilið wieder so ausgeruht, dass sich ihr Körper wie ein von ihr kontrollierbares Gebilde anfühlte. Sie saßen beim Frühstück, oder viel eher beim Spätstück, im Heck der Teeseufel. Der Mast war immer noch abgeschnitten. Sie hatten einen Termin mit der Werft am frühen Abend, wo er dann komplett ausgetauscht werden würde. Heelem hatte das alles organisiert. Sie wollten sich nicht mit Marken neue Lebensmittel und Reparaturen beschaffen, wenn sie hier für länger lagen, weil ihre Marken nahegelegt hätten, dass die Kronprinzessinnen an Bord wären. Lilið hätte zwar vielleicht Marken fälschen können, aber zum einen hätte sie dafür auch eine Vorlage gebraucht und zum anderen war Lajana dagegen, dass sie betrögen, wenn es andere Möglichkeiten gäbe.
Heelem war als Nautika bekannt und ihm würde einfach so von den anderen Nautikae geholfen werden, wann immer Ressourcen frei wären. Sie hatten Lebensmittel bekommen und einen Termin für die Reparatur, der gar nicht so weit in der Zukunft lag.
Lilið hatte Lajanas und ihr eigenes Gesicht gefaltet, wie immer, wenn sie von Fremden gesehen werden könnten. Lajana war es unangenehm. Lilið verstand das. Auch wenn sie es nicht aussprach, sie empfand es genau so. Die Falten im Gesicht (keine, die wie schöne Alterungsfalten aussahen) klemmten, fühlten sich immer etwas falsch an, schlimmstenfalls wie eine Wimper, die sich im Auge verhakt hatte.
“Marusch, was ich die ganze Zeit vor mir herschiebe, zu fragen:”, leitete Lilið ein Gespräch ein. “Ist das Buch eigentlich wieder an Ort und Stelle? Habe ich je wieder die Möglichkeit, einfach Lilið zu sein und nicht verfolgt zu werden?”
Marusch rollte mit den Augen. (Das tat sie selten.) “Vorsicht, Zynismus.”, sagte sie. “Also, das Buch ist zurück. Muddern wurde über das angebliche Missverständnis in Kenntnis gesetzt, dass es eigentlich nie weggewesen wäre. Sie hat das geschluckt. Sie hat deshalb deinen Vater, Lord Lurch, entlastet, aber meinte, bei dir wäre es besser, vorher zumindest noch ein Gespräch zu führen, um sicher zu gehen, dass von dir nichts Schlimmes zu erwarten wäre.”
“Lilið hat immerhin auch angeblich eine Kriegskaterane der Königin versenkt.”, wandte Drude ein.
“Muddern hat das so beschlossen, bevor das passiert ist. Bevor sie überhaupt die Kriegskaterane losgeschickt hat.”, korrigierte Marusch.
Lilið hörte die Bitterkeit in Maruschs Stimme, aber hatte trotzdem das Gefühl, nicht alles zu verstehen. “Was genau daran ist nun der Zynismus?”
“Was dahintersteckt, ist eigentlich, dass sie mit Lord Lurch einen loyalen Schutzbefohlenen mit Macht hat, der tun wird, was sie möchte.”, erklärte Marusch. “Während das Buch verschwunden war, hatte sie einen Vorteil davon, dass er unter Druck steht. Nun hat sie einen Vorteil davon, dass er sich sicher fühlt. Also entlastet sie ihn. Sie hat aber keinen Vorteil davon, dass du in Sicherheit wärest. Daher möchte sie dich entweder beseitigt oder mit dir ein Gespräch geführt haben, in dem sie dich auf taktisch sinnvolle Art unter Druck setzt, zu handeln, wie sie es will. Solltest du mal den Hof und das Gefolge von Lord Lurch übernehmen, was als uneheliches Kind ohnehin in den Sternen steht.” Marusch gnarfzte. Zumindest hätte Lilið das Geräusch so beschrieben. “Sie will die Macht der Königsfamilie Stern sichern. Und dazu benutzt sie erklärende Worte, die alles, was sie tut, im Rahmen von Gesetz und gesellschaftlicher Wahrnehmung rechtfertigen, die aber nur nachträglich draufgestülpt werden und nichts, gar nichts, mit den Entscheidungen zu tun haben, die sie fällt. Sie ist so unehrlich.”
“Hm. Ich verstehe.”, sagte Lilið. Sie merkte, wie Wut in ihr aufsteigen wollte, aber sie zu müde für diese Art Gefühle war. Die Wut drang nicht durch. “Fazit: Ich habe nur dann eine Möglichkeit, mich irgendwann wieder ohne Gefahr für mein Leib und Leben als Lilið von Lord Lurch öffentlich zu zeigen, wenn ich bei ihr persönlich vorstellig werde und ihr gefalle. Und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass mir das nicht bekommt. Also, so weiterlebens-technisch.”
Marusch nickte und machte dazu noch ein bestätigendes Geräusch, dem es auch nicht an zynischem Beiklang mangelte.
Dann schwiegen sie eine Weile. Immerhin war ihr Vater jetzt nicht mehr in Gefahr. Aber ähnlich wie die Wut eben drang nun Freude darüber nicht durch. Wobei: die Freude wollte auch nicht einmal entstehen. Sie dachte gerade nicht besonders positiv über ihn. Was er wohl über sie denken würde? Das eigene Kind eine schwer berüchtigte Diebesperson?
Lajana unterbrach das Schweigen. “Ich weiß nicht, ob ich zurück zu Mama will.”
Aus Maruschs Blick, der auf Lajana haftete, schloss Lilið, dass sie nicht damit gerechnet hatte.
Lajana sah zurück, nahm die Beine mit auf die Bank und wirkte unsicher. “Du willst doch eigentlich auch nicht zurück, oder?”, fragte sie. “Du würdest nur für mich mitkommen.”
“Ich werde immer für dich mitkommen.”, betonte Marusch sanft. “Du wolltest bisher immer wieder zurück. Und nun frage ich mich, warum sich das ändert. Rede ich zu schlecht über sie?”
Lajana schüttelte den Kopf. “Ich habe Mama immer noch lieb.”, sagte sie. “Aber sie ist gemein zu dir. Sie ist gemein zu Lilið. Und du sagst, sie wäre gemein zu mir. Das stimmt irgendwie, aber ich dachte immer, sie kann nichts dafür und sie hat recht mit dem, was sie sagt. Aber nun bin ich hier mit euch und fühle mich das erste Mal normal. Oder in Ordnung, so unnormal wie ich bin. Mit fast siebenundzwanzig.” Lajana schloss die Arme sehr fest um die eigenen Beine, ehe sie zu ihren Knien weitersprach. “Ich wollte Königin werden, seit ich vierzehn bin oder so. Weil eine Königin entscheiden kann, dass es Menschen gut geht, und ich so entscheiden würde. Ich hatte immer Zweifel, ob ich es kann. Meine Mama hat mir immer gesagt, dass ich es nicht kann, und du, dass ich es vielleicht doch kann. Und ich weiß nicht, woran ich glauben soll. Aber ich weiß, dass ich will. Also, dass ich gute Entscheidungen für die Menschen treffen will. Das wollen alle anderen nicht einmal. Außer du vielleicht, aber du willst nicht regieren. Das macht mich, selbst wenn ich es nicht kann, zur besten Wahl.”
“Absolut!”, warf Lilið ein. Sie war nicht allein mit ihrem zustimmenden Kommentar und zu ihrer Überraschung nickte selbst Allil und hob einen Daumen.
Lajana aber lächelte nicht einmal, nahm es kaum zur Kenntnis. “Ich dachte immer, wenn ich Königin werden will, muss ich zurück zu Mama.”, fuhr sie fort. “Und ich habe sie eben auch lieb. Sie ist kein grundschlechter Mensch. Sie hat halt Fehler, aber das darf man ihr nicht sagen, sonst wird sie wütend.” Lajana blickte auf und sah ihnen der Reihe nach ins Gesicht. “Ich habe Angst, wieder bei ihr zu sein.”, sagte sie eindringlich. “Ich stelle mir vor, wie Lilið dabei ist und wie sie dann zu Lilið ist. Ich will das nicht. Ich habe Angst. Mir wird schlecht, wenn ich darüber nachdenke. Und ich will mich nicht mehr minderwertig fühlen.” Lajana schrie den letzten Satz fast. Irgendwelche Leute zwei Liegeplätze weiter auf der anderen Seite des Stegs, die ansonsten wohl kein Wort verstanden aber nun die Wut wahrnahmen, blickten kurz herüber.
Lajana weinte, und sie war nicht allein damit. Lilið konnte auch nicht an sich halten und als sie sich umblickte, stellte sie fest, dass auch Heelem weinte. Marusch wirkte eher wie zu Eis erstarrt.
Drude hob die Hand, – das abgesprochene Zeichen dafür, dass sie nun nicht mehr reden sollten, weil eine Person zu dicht wäre oder sich näherte. Ausgerechnet jetzt. Lilið blickte den Steg entlang. Eine Person in Uniform, die jene als im Hafen arbeitend kennzeichnete, schritt über den schwankenden Steg und hielt auf sie zu. Kam jetzt eine Beschwerde, dass sie zu laut wären? Hatte ihr Gespräch sie trotz Drudes Aufpassen verraten?
Heelem näherte sich dem Heck und hob die Hand zum Gruß.
“Hallo!”, rief die fremde Person. Sie wollte tatsächlich zu ihnen und blieb vor ihrem Heck stehen. “Oh, ich störe! Das tut mir leid. Soll ich später wiederkommen?”
Wahrscheinlich schloss sie das aus Heelems verweintem Gesicht, mutmaßte Lilið.
“Worum geht es denn?”, fragte Heelem.
“Du bist Heelem, Nautika, ehemals im Dienst der Garde von Königin Stern, richtig?”, erkundigte sich die Person.
Heelem nickte. “Genau der.”
“Ich habe hier einen Brief von Königin Stern. Eine Kopie von vielen. Er soll an ihre Kinder ausgehändigt werden und es heißt, du hättest einen guten Draht zum Kronprinzen.” Die Person hielt eine Rolle Papier mit einem Siegel hoch.
Lilið grinste. Wenn es viele Kopien gab, dann war ein Siegel nicht sehr viel wert. Es verhinderte nicht, dass eine der Kopien von dritten gelesen würde, während eine andere Kopie unbeschadet bei Marusch oder Lajana ankäme. Außerdem grinste sie, weil beide Kronprinzessinnen mithörten und die Hafenperson es nicht wusste.
“Ich kann schauen, was sich einrichten lässt.”, sagte Heelem und streckte die Hand aus. Der Blick, den er mit Marusch wechselte, wäre Lilið fast entgangen. Er fügte hinzu: “Kronprinzessin. Das zweitgeborene Kind der Königin ist auch eine Prinzessin.”
Die fremde Person runzelte die Stirn, “äh”, entrunzelte sie wieder und sagte: “Du wirst es wohl besser wissen als ich.”
“Genau.”, bestätigte Heelem.
Die Person verabschiedete sich wieder und Drude gab ein weiteres Zeichen, als sie wieder außer Hörweite war.
Eine kühle Windböe trocknete Liliðs Tränen. Das war ein seltsamer Morgen.
Marusch hielt Heelem die Hand hin und Heelem legte wortlos die Briefrolle hinein.
“Briefe von ihr machen immer nicht so gute Dinge mit dir.”, merkte Lajana an.
Lilið konnte fühlen, wie Recht Lajana hatte, noch bevor Marusch das Siegel brach. Marusch flammte nicht, aber aus ihrer Körperhaltung sprach eine undurchdringliche Härte wie Diamant. Lilið hatte sie vielleicht noch nie so gesehen.
“Du kannst ihn auch vorm Lesen verbrennen.”, schlug Heelem vor. Er wirkte unpassend belustigt.
Marusch zerbrach das Siegel, ohne darauf einzugehen, und entrollte das Papier.
“Oder Lilið fragen, ob sie etwas Makaberes daraus faltet.”, fügte Heelem dazu.
Warum tat er das? Lilið hätte sich an Maruschs Stelle wahrscheinlich nicht ernst genommen gefühlt. Vielleicht provoziert.
Marusch seufzte. “‘Meine lieben Kinder’”, las sie vor. “Dass es das erste Mal ist, dass ich von ihr einen Brief lese, der nicht damit einleitet, mich falsch zu geschlechten, verspricht nichts Gutes.”
“Nicht?”, fragte Lajana zaghaft.
“Sie gibt sich immer dann Mühe, wenn sie entweder was von mir will, was in ihren Augen extrem wichtig ist, was ich aber nicht will, oder wenn sie mir später üble Kritik reinbrettern will.”, antwortete Marusch. “Und wenn ich dann nicht brav jedes Fitzelchen Kritik annehme und sage, dass es mir leid tut, oder nicht mache, was sie will, dann sagt sie, sie habe sich doch bemüht, also könne sie von mir doch erwarten, dass ich das wenigstens ein bisschen ebenso täte.”
Lajana nickte. “Das stimmt.”, sagte sie. “Aber dass sie sich bemüht, ist trotzdem gut.”
Marusch wechselte mit Lajana einen langen Blick und nickte schließlich. “Schon.”
“Ich will nicht, dass du so leidest.”, sagte Lajana.
“Ich wünschte, ich könnte es verstecken.” Maruschs Stimme war ruhig wie vor einer Explosion. Sie atmete nicht. Und dann reichte sie den Brief an Heelem zurück.
Damit der Brief nicht mit ihr in Flammen aufginge, dachte Lilið.
“Was brauchst du?”, fragte Heelem. “Makaberer Humor meintest du sonst oft, aber entweder, ich treffe nicht den richtigen Ton, oder es ist heute nicht das Richtige.”
“Ich weiß nicht, was mit mir los ist.”, antwortete Marusch. “So schlimm ist es sonst nicht.”
“Es ist, weil ich sie nicht mehr brauche.”, wusste Lajana.
Lilið fühlte plötzliche starke Liebesgefühle diesem Geschwisterpaar gegenüber und unbekannterweise Hass auf diese Mutter, die sie immer für eine brauchbare Option als Königin gehalten hatte. Sicher nicht so gut wie Lajana, aber die Seiten, die sie nun kennen lernte…, mit jenen hätte sie nie gerechnet.
Marusch nickte. Sie atmete schwer. “Ich weiß ziemlich genau, was sie will.”, sagte sie. “Es wird irgendein großes Treffen der Mächtigen geben, weil meine Aktion von ihnen so viele entfernt hat, dass sie jetzt ein neues Gerüst bauen müssen. Sie will sich im Vorfeld mit uns treffen und mich mal wieder überreden, dass ich regiere. Sie wird es im Brief anders verpacken, weil er von zu vielen Leuten gelesen werden kann, aber darum wird es gehen. Und von dir, Lajana, will sie natürlich, dass du endlich deinen Verzicht auf Regentschaft aussprächest.”
Heelem las den Brief ohne zu fragen und nickte. “Auf Mazedoge.”, sagte er. “Die Versammlung des Bundesorakels mit Monarchie und Hochadel soll in vier Tagen dort stattfinden, aber ihr sollt am besten schon vorher am Versammlungsort auftauchen. Und euch möglichst zügig melden, wann ihr da seid. Die Königin wünscht sich mit euch im Vorfeld eine Audienz. Sie ist ab morgen dort. Oh, interessant ist noch: Wenn du, Marusch, zufällig mit dem Blutigen Master M in Kontakt stündest, mögest du sie mitbringen.”
Marusch schnaubte, sagte aber nichts dazu. “Danke, dass du mir das Lesen abgenommen hast.”, sagte sie. “Lajana, möchtest du auch lesen?”
“Wenn sie so wie immer schreibt, verstehe ich sowieso nichts.”, lehnte diese ab.
Heelem warf noch einen Blick auf das Papier. “Tut sie.”, bestätigte er.
“Ihr kennt euch wirklich lange, oder?”, fragte Drude.
Heelem lachte. “Ja! Ich bin im Alter zwischen Marusch und Lajana und wir haben den größten Teil unserer Kindheit miteinander verbracht.”, berichtete er. “Damals mochte ich sie noch. Eure Mutter, meine ich. Ihre Gewalt ist für Außenstehende ziemlich kodiert. Das ist alles äußerst unlustig.”
Allil räusperte sich. Sie wartete, bis alle Blicke auf sie gerichtet waren. “Es ist sehr persönlich und intim, was ihr hier alle teilt. Teilen müsst, weil es gerade nicht anders geht. Und das vor mir.”, sagte sie. “Wenn ich das richtig verstehe, ist euer nächster Halt außerdem Belloge, oder ein anderer Ort, wo der Blutige Master M intensiver gefahndet wird, also auch ich wieder gesucht würde. Ihr wollt euch für eine Aktion in Gefahr begeben, mit der ich bisher nichts zu tun habe. Ich hatte mich gefragt, ob ich mich einbringe, aber würde mich eigentlich lieber in Sicherheit bringen.”
“Du schuldest uns nichts, nur weil wir dich aus dem Wasser gefischt haben.”, erwiderte Marusch. Als sie Drude die Arme verschränken sah, fügte sie hinzu: “Ich sage das vielleicht voreilig im Namen anderer. Das tut mir leid.”
“Ich denke nicht, dass sie uns schuldet, sich für unseren Plan in Gefahr zu bringen.”, sagte Drude. “Aber während ich aus dem Wasser fischen noch recht selbstverständlich finde, habe ich mich durchaus nicht übermäßig damit wohl gefühlt, über zwei Tage eine kleine Yacht mit der Fast-Mörderin des mir wichtigsten Menschen in meinem Leben zu verbringen. Ich habe dazu nichts gesagt, weil ich nicht anders entschieden hätte. Es zu sagen hätte die Lage nur unangenehmer gemacht. Aber eh du in meinem Namen sagst, dass das alles selbstverständlich wäre, widerspreche ich dann doch lieber.”
Marusch nickte. “Fair. Das tut mir leid.”
“Nicht schlimm.”, verzieh Drude.
“Dann ist vielleicht umso besser, dass mein Vorschlag ist, dass ich euch hier und jetzt verlasse.”, fuhr Allil fort. “Denn ob ihr danach zurück Richtung Angelsoge oder Nederoge fahrt, steht ja nun auch in den Sternen. Ich glaube, ich unterbreche hier gerade ungünstig ein wichtiges Gespräch, um mich zu verabschieden, aber ich glaube auch, dass ihr es ohne mich vielleicht entspannter weiterführen könnt.”
“Das vermute ich auch.”, sagte Drude. “Ich hasse dich nicht. Entschuldige, wenn das anders rüberkam. Ich fühle, wie üblich, Stimmungen, und dass deine Anwesenheit Angespanntheit mitbringt.”
Lilið schockierte Drudes Direktheit beinahe. Auf der anderen Seite konnte sie nicht leugnen, dass sie Drude recht gab.
“Ich würde dir eine Umarmung anbieten, aber ich halte mich gerade für zu gefährlich.” Marusch lächelte sie traurig an.
“Schon gut.”, sagte Allil.
Sie schwiegen, solange Allil im Bauch der Teeseufel eilig ihre alten, nun trockenen Sachen wieder anzog. Anschließend schritt sie zwischen ihnen hindurch und verließ die Yacht über das Heck. “Ich würde gern zum Abschied ein paar Versprechen da lassen: Ich werde euch helfen, wenn sich die Gelegenheit irgendwann bieten sollte. Und ich werde niemanden von euch je wieder bedrohen.” Sie haderte, bevor sie aufbrach, zog dann doch noch etwas Langes, Dünnes aus ihrer Kleidung und reichte es an Deck. Heelem nahm es stirnrunzelnd entgegen. “Für Lilið. Ein Draht. Ich habe ihn bei einem Erkundungsspaziergang durch die Werft gefunden.”
Lilið nahm ihn Heelem ab und betrachtete ihn. Es war einfach ein Draht, sonst nichts. Sie mochte ihn. “Danke!”, sagte sie. Aber da war Allil auch schon außer Hörweite.
“Was für eine orientierungslose Person.”, murmelte Drude. “Ich verstehe schon, warum du sie magst, Marusch.”
“Weil sie orientierungslos ist?”, fragte Marusch.
“Ja, vielleicht. Und auch, weil du Extreme magst.”, antwortete Drude.
Marusch lachte. Es klang nicht fröhlich in Liliðs Ohren. “Extremes ist manchmal, was mich am Leben hält.”
“Und gerade bräuchtest du etwas Extremes?”, fragte Drude.
Lilið runzelte die Stirn. Das war ein seltsames Gespräch, aber irgendwie auch nicht. Es passte zu Drude und Marusch.
Marusch grinste. “Hast du etwas auf Lager?”
Drude lehnte sich auf der Bank zurück. “Würdest du dich vor mir niederknien?”
Lilið stockte der Atem. Das war in der Tat extrem. Und auch noch in der Hinsicht, dass prinzipiell Menschen auf benachbarten Schiffen hinüberschauen könnten. Sie waren durch die tiefergelegene Sitzecke nur einigermaßen blickgeschützt. Vielleicht würde Drude auch schnell genug wissen, wenn jemand hinsah.
Marusch stand auf und ließ sich vor Drude auf ein Knie nieder. “Interessant.”, sagte sie mit einem Schmunzeln in der Stimme.
“Auf beide Knie.” Drude wirkte unbeeindruckt.
Marusch kam der Aufforderung dieses Mal ohne Zögern nach. “Noch etwas? Hättest du gern einen Titel?”
Drude legte die Beine eng aneinander. “Ich hätte zunächst gern dein Kinn auf meinen Knien.”
Lilið hielt den Atem an und spielte mit dem Draht zwischen ihren Fingern. Wäre es nicht sinnvoll, zuvor irgendwelche Grenzen abzusprechen, wie Drude es mit ihr getan hatte? Noch fühlte sich das Ganze beim Zuschauen sicher an. Und irgendwie sehr gut.
Marusch rückte auf Knien und Händen überraschend elegant näher zu Drude heran, senkte dann das Gesäß auf die Fersen und das Kinn auf Drudes Knie ab. Ihr Nacken war dabei leicht überstreckt. Über Drudes Gesicht huschte ein Lächeln. Maruschs Ausdruck verlor die Frechheit, die sie so oft mitbrachte. Niedlich, dachte Lilið.
“Schön.”, murmelte Drude. “Wie fühlst du dich?”
Nun kam also das Gespräch darüber, das absicherte, dass Marusch sich damit gut fühlte. Lilið lächelte und atmete erleichtert aus. Aber Marusch reagierte nicht. Sie wirkte nicht unglücklich, fand Lilið. Als das Schweigen lang wurde, bohrte Drude weiter nach. Sanft.
“Kannst du reagieren?”, fragte dey.
Marusch nickte. Das Kinn hob sich dabei aus der Knieritze und senkte sich wieder dahinein ab.
“Ist etwas schlecht?”, fragte Drude.
Marusch schüttelte den Kopf.
“Ist die Frage, wie du dich fühlst, zu kompliziert?”, fragte Drude.
Marusch nickte wieder.
Drude war gut!, fand Lilið. Aber war das der richtige Moment für ein solches Spiel?
Lajana fing plötzlich haltlos an zu kichern. “Ich glaube, so etwas hat sie sich immer gewünscht! Als wir klein waren, wollte sie immer Bedienstete spielen und war enttäuscht, dass ich nicht wollte. Sie wollte eigentlich immer ganz viele Befehle und enge Regeln haben.”
“Ist das so? Hast du dir das gewünscht?”, richtete sich Drude an Marusch.
Maruschs Körper durchlief ein Schauer oder so etwas. Jedenfalls bebte sie kurz. “Schon, ja.”, flüsterte sie. “Ich schäme mich ein bisschen.”
“Aber du hast gerade nicht die mentale Stabilität dafür?” Drude legte ihre Hand an Maruschs Kinn, verharrte dort kurz, streichelte über die Kante und ließ wieder los.
Marusch schüttelte den Kopf. “Ich möchte mich dir sehr gern unterordnen.” Ihre Stimme klang warm und bereit. “Aber um mich gerade davon abzubringen, immer wieder destruktive Gedanken zu haben, müsstest du mehr Gewalt gegen mich anwenden. Und dafür bin ich offen, aber ich glaube, das ist in einem ersten Spiel dieser Art in dieser Stimmung gefährlich. Für uns beide.”
Drude nickte. “Sehe ich auch so.”, sagte dey. “Aber gut zu wissen, dass du grundsätzlich willst.”
“Sehr.”, betonte Marusch. “Und es hat mich auch gerade ein wenig sortiert. Danke!”
“Ich könnte noch anbieten, dich mit Hafenwasser zu übergießen.”, schlug Drude vor.
Marusch lachte. “Sollte ich versehentlich ein Feuer legen, herzlich gern!”
“Wir könnten auch zusammen im Meer baden gehen.”, schlug Heelem vor. “Neben dem Hafen ist ein Strand, wie sich das gehört.”
Lajana sprang begeistert auf. “Baden!”
Und so gingen sie im Meer baden, planschten in der Brandung, spritzten sich nass (nur die, die wollten), um Abstand von einer emotionalen Krise zu bekommen, bevor sie sie wieder einholen würde. Lilið erwischte Marusch durchaus ein paarmal dabei, wie sie Flammen über die Wellen rinnen ließ. Sie küssten sich, über und unter Wasser, und es war nicht so merkwürdig wie damals, als Marusch das erste Mal in Liliðs Gegenwart geflammt hatte. Es hatte sich einiges seit dem verändert. Sie kannten sich nun besser, teilten mehr miteinander, und auch wenn Maruschs tiefe Zerstörtheit ein Teil davon war, wollte Lilið alles davon.
Später saßen sie wieder auf der Teeseufel, trockneten und warteten auf ihren Termin mit der Werft.
“So seltsam das ist, ich würde gern zu diesem Treffen. Ich möchte wissen, was politisch nun passiert.”, teilte Marusch überraschend mit. “Wenn du, Lajana, als Königin anerkannt werden willst, sollten wir auf dem Strategietreffen in vier Tagen auf Mazedoge zugegen sein. Und so unangenehm auch ein Besuch mit Muddern werden mag, im Vorfeld Dinge zu erfahren, ist vielleicht hilfreich. Ich denke, ich möchte da hin.”
“Das ist keine so gute Idee.”, murmelte Drude.
“Ich weiß.” Marusch seufzte.
“Weil du dann wieder alles zu Staub machst, wenn etwas passiert?”, fragte Lajana.
Lilið nahm den Draht wieder zur Hand und drehte ihn zwischen den Fingern. Sie beteiligte sich nicht am Gespräch. Sie würde mitkommen, wohin auch immer sie entschieden zu reisen.
“Das war meine Befürchtung.”, stimmte Drude zu.
“Ich halte die Gefahr für relativ gering.”, erwiderte Marusch.
Über Drudes Gesicht huschte ein Grinsen. “Meinst du nicht, dass die Versammlung des Bundesorakels und aller fiesen Mächtigen der halben Welt ausreichend Verlockung für dich darstellen würde? Du könntest vielleicht das gesamte derzeitige System stürzen.”
Revolution, dachte Lilið. Aber nicht auf eine Weise, die sie sich wünschte. Mindestens für Marusch nicht.
“Hältst du für realistisch, dass ein Systemsturz tatsächlich Folge sein könnte?”, fragte Marusch. “Dass es sich nicht irgendwie wieder aufrappelt? Denn so beschissen dieses Adelssystem mit den Orakeln ist, es ist leider schon recht stabil. Ich habe noch keine Vorstellungen darüber, wie das ablaufen würde, aber so weit ich das verstehe, wird einfach Herrschaftsgebiet an übrigen Adel umverteilt und weiter geht’s. Revolution müsste von innen kommen.”
“Ich denke, es könnte reichen, wenn so viel des Adels wegbricht.”, widersprach Drude.
“Hm.”, machte Marusch.
“Ich kann mitkommen und dich davon abhalten.”, versprach Lajana.
“Du hattest gerade überlegt, Muddern nicht wiedersehen zu wollen.”, erinnerte Marusch sie.
“Dann folge ich dieses Mal dir überall hin, weil du mich brauchst.” Lajana zögerte nicht einen Moment, dies zu versichern.
Marusch sah sie an. Liebevoll und gleichzeitig voller Angst, wenn Lilið richtig las. Angst kannte sie von Marusch noch nicht so gut. “In Ordnung.”, stimmte Marusch zu. Dann wandte sie sich Lilið zu. “Du sendest übrigens. Ist dir das bewusst? Mit dem Draht. Gleichmäßige Wellen.”