Staub
CN: Massaker, Horror, Hinrichtung, Misgendern - schlimm, Sexismus, Transfeindlichkeit, Lebensmüdigkeit, Ableismus, Sanism, Luftnot, magisches Würgen, vor Füße spucken - erwogen, religiöse Rituale und Kleidung - mehrfach erwähnt.
Liliðs Hände fühlten sich taub in den Fesseln an. Sie schirmten nicht nur Magie ab, sie waren auch einfach ziemlich eng. Sie stellten ein geringeres oder anderes Problem für Lilið dar, als die Wachen glaubten, vermutete sie: Sie konnte zwar die Fesseln nicht falten, aber mit etwas mehr Anstrengung sich selbst schon. Sie sah immer noch aus wie Lajana. Sie könnte sich vielleicht sogar aus den Fesseln befreien, aber es würde ihr vermutlich nicht viel helfen, weil in dem Augenblick sofort alle Wachen hinter ihr her wären und wüssten, dass sie doch nicht Lajana wäre.
Sie fühlte ein albernes, schlechtes Gewissen, weil sie Lajana angelogen hatte. Von wegen, versuchen, nachzukommen. Natürlich gab sie jetzt alles, entfliehen zu können, aber dieses alles war halt gerade nichts. Und das hatte sie vorher gewusst. Sie saß gefesselt, mit geradem Rücken auf jenem Thronstuhl und ihr einziger Trumpf war, derzeit noch für Lajana gehalten zu werden. Das rettete vermutlich ihr Leben. Aber es half ihr nicht, zu entfliehen.
Die Wache, die immer gedöst hatte, sprach mit ihr, als wäre sie ein kleines Kind. Sie erklärte Lilið, dass es ihr leid täte, aber die engen Fesseln leider eine nun verlangte Vorsichtsmaßnahme wären. Und dass gegen Abend König Sper eintreffen würde. Angesichts der jüngsten Ereignisse, dem missglückten Befreiungsversuch, war es König Sper erlaubt worden, sich mit seiner Garde in diesen Raum einzunisten. Außer zu einer bestimmten Nachtruhezeit. Lilið hoffte, dass zu jener dann vielleicht die Wachsamkeit wieder genügend gesunken wäre, dass sie eine Chance hätte, zu entfliehen. Als Igel oder Ratte. Aber realistisch war das nicht.
Der Tag kam ihr bereits sehr lang vor. Sie hatte doch schon so viel getan und erlebt. Trotzdem war erst früher Nachmittag. Hier drinnen bekam sie davon erstaunlich wenig mit. Das Licht fiel vielleicht anders durch die Fenster, aber Lilið fühlte den Tag nicht.
Eine Wache meldete in beiden Sprachen, dass die beiden Eindringlinge entkommen wären. Lilið atmete erleichtert auf. Damit waren sie und Heelem gemeint, aber es bedeutete, dass Heelem mit Lajana wohl in Sicherheit wären, soweit möglich.
“Das ist doch eine Nachricht, über die du dich sicher freust!”, raunte ihr die Wache zu, die sonst immer döste.
Lilið nickte und gab ein zaghaftes “Ich will nicht, dass jemand stirbt.” von sich. Das würde zu dem Bild der Wache von Lajana passen, überlegte sie.
Sie fühlte das schlechte Gewissen abermals. Sie hatte sich geopfert. Das wurde ihr erst jetzt so richtig bewusst. Sie hatte einfach ihre Möglichkeiten ausgereizt, das Ziel zu erreichen, dass Lajana die Sakrale verlassen konnte, und dazu hatte gehört, ihre eigene Sicherheit zu vergessen. Zu verschenken. Das hatte Lajana nicht gewollt und Lilið hatte es trotzdem getan.
Sie bereute es nicht.
Es war alles so absurd. Drude hatte gemeint, sie könne sich nicht als Königin ausgeben. Und nun tat sie eben dies doch, und das schon seit mindestens einer Stunde erfolgreich. Als Kronprinzessin zumindest, weil sie sich natürlich als die Rolle ausgab, in der die anderen Lajana sahen.
‘Mach Feuer!’ Jäh widerholte ihre akustische Erinnerung Heelems Worte in ihrem Kopf. Feuer. Marusch. Feuer, – das hatte Marusch mehrfach erwähnt –, war eigentlich etwas, was Menschen in der Schule eben lernten, wenn sie vielleicht durchschnittlich oder etwas besser als durchschnittlich in Magie waren. Es hieß nicht, dass Heelems Aufforderung, Feuer zu machen, an Marusch gerichtet gewesen sein musste. Aber Heelem hätte es selbst getan, wenn es hier so leicht gewesen wäre. Marusch konnte Feuer erzeugen, ohne dass es etwas Brennbares zum Anzünden gab. Lilið erinnerte sich an das Flammenmeer auf Espanoge, das Marusch erzeugt hatte, wie ein Weinen. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihr Denken auf Marusch versteifte, weil Heelem um Feuer gebeten hatte. Sie sollte zweifeln, die Schlussfolgerung war einfach zu unsicher, aber die Hoffnung, die eben so jäh in ihr aufstieg wie die akustische Erinnerung an Heelems Aufforderung, ließ sich nicht niederringen.
Sie war in einer aussichtslosen Situation in einer Sakrale und hatte plötzlich einen Glauben daran, dass Marusch noch lebte. Fast eine Gewissheit.
Und wenn Marusch noch lebte, dann würde sie vielleicht veruchen, Lilið hier herauszuholen. Lilið hoffte, dass sie es nicht tun würde. Marusch riskierte zu leicht Dinge. Wahrscheinlich würden sie dann beide enden. Aber vielleicht würde Heelem sie auch dazu anhalten, genauer zu planen.
Was war eigentlich passiert? Wenn Heelem Marusch an ihrer Stelle erwartet hatte, dann war Heelem schon beim Leuchtturm davon ausgegangen, zu Marusch in ein Boot gestiegen zu sein. Das hieß, zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit war Marusch auch am Leuchtturm gewesen, mit einem ebensolchen Boot. Vielleicht dem Boot auf der anderen Seite. Und Heelem war einfach ins falsche gestiegen.
Heelem war in die Sakrale gesegelt. Also hatten Marusch und Heelem dann wohl etwa den gleichen Plan gehabt wie Drude und sie: Im Leuchtturm den Schleusenmechanismus auszulösen, mit einem sakralierten Boot die Schleuse zu benutzen, um in die Sakrale zu gelangen, und anschließend Lajana aus der Sakrale zu befreien. Lilið musste fast bei dem Gedanken grinsen, wie Drude aus dem Leuchtturm gestürzt sein mochte, um dann bei Marusch ins Boot zu steigen. Auf der anderen Seite des Leuchtturms. Nur, dass Lilið Marusch dort nicht gesehen hatte, sondern nur ein leeres Boot. Wo waren sie jetzt? Wie wäre ein Aufeinandertreffen verlaufen?
Lilið amüsierte außerdem der Gedanke, als ihr klar wurde, dass Drudes und ihr Plan dieses Mal nicht an einer feindlichen Ursache gescheitert war, sondern daran, dass zwei andere Personen fast dasselbe geplant hatten und sie sich dabei in die Quere gekommen waren.
Die innerhalb der letzten halbe Stunde erst reparierte Tür zum Saal der Verkündung wurde aufgestoßen und zwei Personen traten ein, die Lilið kannte. Herr Hut und Wache Luanda. Eine denkbar ungünstige Kombination an Personen. Nun war wahrscheinlich alles aus.
“Hallo Lajana!”, grüßte Herr Hut sie. Er wagte es, sie, die vermeintliche Kronprinzessin mit Namen anzusprechen. “Wie schön dich zu sehen! Schön, dass deine Reise hierher trotz aller Komplikationen noch ein Erfolg war.”
Wache Luanda blickte ihr ins Gesicht. Sie wusste, was los war. Ungefähr zumindest. Drude hatte vermutet, dass Luanda Lilið noch nicht wiedererkennen würde, wenn sie Lilið irgendwo auf den Straßen Bellims begegnet wäre, solange Lilið unter einer Sakralutte verborgen gewesen wäre. Aber hier? Vielleicht schon, weil sie sie von der Kagutte kannte und damit rechnete, dass die Person, die sich hier als Lajana ausgab, auch auf der Kagutte gewesen sein könnte. Und dass sie nicht Lajana war, wusste Wache Luanda eben, weil sie Magie erfühlen konnte.
Die Tür schwang erneut auf und weitere Personen sammelten sich im Raum. Die Vorhut des Königs oder so, dachte Lilið.
“Es handelt sich nicht um die Kronprinzessin.” Wache Luandas Verrat tat interessanterweise weh.
“Red keinen Unsinn, ich weiß, wie sie aussieht.”, widersprach Herr Hut.
Wache Luanda atmete tief ein, und mit ihrem langsamen Ausatmen spürte Lilið wie ihr die Faltung entglitt. Die Gefühlstaubheit, die sie in den Händen spürte, durchdrang ihren ganzen Körper, bis er schlaff im Stuhl und in den Fesseln hing. Es war ein unangenehmes Gefühl, die Magie entzogen zu bekommen, obwohl sie Magie eigentlich immer skeptisch gegenüber gestanden hatte. Es fühlte sich an wie damals in der Schule, wenn sie etwas Magisches bewerkstelligen wollte, es aber einfach nicht greifen konnte.
“Lilið?”, fragte Herr Hut. “Lilið von Lord Lurch?”
“Wohl doch mächtiger, als du dachtest!” Die Stimme erkannte Lilið als die von Wache Schäler. Konnte die Situation noch schlimmer werden.
“Sie muss wohl doch auf dem Internat für skorsche Damen gut dazu gelernt haben.”, räumte Herr Hut ein. “Ich hatte gleich den Eindruck, dass sie einen Faible für Illusionsmagie entwickelt.”
Damit mochte er über Allil immerhin recht haben, dachte Lilið. Sie reagierte nicht, fühlte sich innerlich abgestumpft, und wusste nicht, ob es noch am Magie-Entzug lag oder an der Gesamtsituation.
Wache Luanda schnaubte. “Ich werte ungern Leistungen ab, ist einfach nicht meine Aufgabe.”, sagte sie. “Aber du hast nichts hier verloren. Du spürst keine Magie, tut mir leid. Es war astreine, ziemlich mächtige Faltmagie.”
“Das kann ja mal passieren.”, antwortete Herr Hut prompt. Lilið bewunderte ihn fast für sein penetrantes Ansinnen, seine Inkompetenz unterm Hut zu verbergen. “So mächtig kann sie auch wieder nicht sein. Vielleicht hat jemand anderes sie gefaltet.”
“Raus!”, kommandierte Wache Luanda. “Ich habe die Befugnis, dich rauszuwerfen, und ich mache hiermit davon Gebrauch.”
“Weil ich mal einen kleinen Fehler gemacht habe?”, fragte Herr Hut pikiert.
“Du gefährdest die Mission.” Wache Schälers Worte waren unaufgeregt und kalt. “Wenn ich ihm beim Gehen helfen soll, warte ich nur auf deinen Befehl, Wache Luanda.”
“Ich wollte ohnehin nur nach dem Rechten sehen.” Herr Hut verabschiedete sich und zog die Tür auf, um hindurchzugehen, drehte sich aber dann doch noch einmal um. “Eins noch: Es sind Gerüchte im Umlauf, dass Lilið von Lord Lurch und der Blutige Master M eine Person sein sollen. Ich glaube da zwar nicht dran, aber Königin Stern, oder eigentlich der Kronprinz Stern, haben bekannt gegeben, dass sie möchten, dass der Blutige Master M ihnen lebendig übergeben werden soll. Und dass, wer dies tue, in ihrer Gunst stünde. Was auch immer das genau heißen soll. Aber vielleicht hilft es euch doch noch, wenn ihr schon die Kronprinzessin nicht gefangen habt, dass ihr wenigstens glaubhaft machen könnt, ihr habet den Blutigen Master M gefangen genommen.”
Die Tür schloss sich. Wache Luanda und Wache Schäler blickten sich an. “Wo er dann doch mal recht hat.”, meinte Wache Schäler.
Wache Luanda brummte. Es machte auf Lilið den Eindruck einer widerwilligen Zustimmung. Dann wechslelten sie ins Alevische und Lilið verstand sie nicht mehr. Ihre eigenen Gedanken holten sie wieder ein.
Die Frage ‘Konnte es noch schlimmer kommen?’ die sie sich vorhin gestellt hatte, schien nun beantwortbarer. Es war schlussendlich etwas besser gekommen, vorübergehend zumindest. Herr Hut war weg, und das erleichterte Lilið, selbst wenn sein Verhalten in der Vergangenheit eher zuträglich für sie gewesen war. Sie hatte Angst vor Wache Schäler. Sie verknüpfte die kleine Person unweigerlich mit zerschnittenen Körpern. Sie hegte eine gewisse Sympathie für Wache Luanda, und das war wahrscheinlich sehr irrational. Wache Luanda konnte genau so schlimm sein. An der Art, wie sich die beiden unterhielten, ob nun auf Baeðisch oder Alevisch, hätte Lilið ohne Vorgeschehen keine der Wachen als besonders unsympathisch einsortiert. Von Wache Luanda konnte es ein Vorgeschehen an Brutalität geben, das Lilið lediglich nicht selbst erlebt hatte. Letztendlich war es die Aufgabe einer Wache, in gewissen Dimensionen brutal zu sein. Auch Drudes, fiel Lilið ein. Der Punkt, der sie besonders positiv überraschte, war ihre vorübergehende Lebensversicherung. Sie war entlarvt worden und hätte damit gerechnet, dass damit ein schon recht zeitnahes Todesurteil im Raum stehen würde. Morgen oder so. Das wäre ein üblicher Zeitraum, bis eine Hinrichtung an einer gefangenen, kriminellen Person vollzogen würde. Zumindest im Königreich Stern. Aber wenn erst Königin Stern oder der Kronprinz kommen müsste, dann hatte sie etwas mehr Zeit. Eine knappe Woche vielleicht. Aber wohl mindestens drei Tage. Vorausgesetzt, König Sper scherte sich darum, dass sie für diesen Verhandlungszweck am Leben bliebe.
Die Zeit zog sich dahin. Nach und nach kamen weitere Personen in den Saal, der Kleidung nach zu urteilen, Wachen oder Adel in hohen Positionen. Lilið musste bei dem Gedanken innerlich fast grinsen, dass sie heute Gelegenheit haben würde, hohem Adel und dem König selbst vor die Füße zu spucken, wenn sie wollte. Sie würde das nicht tun. Sie hatte Lajana versprochen, zu versuchen zu entkommen, und irgendwem vor die Füße zu spucken verringerte ihre Möglichkeiten.
Die Fesseln schnitten so sehr in ihre Handgelenke, dass es schmerzte. Aber viel unangenehmer empfand Lilið die tauben, prickelnden Finger. Sie hatte schon mehrfach versucht, die Handgelenke etwas zu drehen, damit mehr Blut in ihre Hände ströhmen könnte. Vielleicht sollte sie versuchen, die Handgelenke unauffällig dünner zu falten. Nur ein wenig. Ob die ausgeübte Magie auffiele? Vielleicht würden die Fesseln die Magie ja abschirmen.
Wache Luanda blickte in dem Augenblick streng in ihr Gesicht, als sie es versuchte. Lilið gab sofort auf.
“Die Fesseln sind sehr eng.”, murmelte sie.
“Das gehört so!”, erwiderte Wache Luanda schneidend. “Ich werde dich nicht durch Unvorsicht entwischen lassen. Und nur, falls du dir Gedanken über einen neuen Befreiungsversuch machst: Selbst wenn alle Sakrallosen den Raum verlassen müssen wegen irgendwelcher Regeln. Ich muss es nicht. Ich stehe im Dienst der Sakrale und darf mich aufhalten, wo ich will. Ich werde dir nicht von der Seite weichen.”
Lilið nickte. Sie wackelte mit den Fingern, aber es nützte nicht viel. Sie fragte sich, ob sie lieber ausgepeitscht worden wäre. Ausgerechnet die Hände waren taub. Wieder sprachen die anderen auf Alevisch weiter. Gedämpft und doch aufgeregt. Lilið versuchte, auf anderen Gedanken zu kommen.
Warum wollte der Kronprinz den Blutigen Master M lebend? Hatte es etwas mit dem Teil des Schatzes der Monarchie zu tun? War er vielleicht nicht wieder aufgetaucht, weil Marusch etwas passiert war, und nun wurde sie lebend gebraucht, damit sie ihn zurückgeben könnte? Aber sie hatte keine Ahnung, wo das Buch war, wenn es nicht wieder am Hof von Lord Lurch oder noch bei Marusch wäre. Und Marusch wollte sie nicht verraten.
Die Tür wurde erneut geöffnet, aber dieses Mal änderte sich dadurch schlagartig die Stimmung. Die Wachen und der Adel stellten sich sortierter an den Rand, nahmen eine steifere Haltung ein. Die Person, die hinter zwei unscheinbaren Bediensteten, die nun die Tür flankierten, den Raum betrat, war unverkennbar König Sper. Lilið hatte nicht mit der Angst gerechnet, die es in ihr auslöste. Er trat in den Verkündungsbereich, wo auch sie saß, blieb wenige Meter vor ihr stehen, und hielt eine Ansprache auf Alevisch. Eine lange. Es wurde in Gesprächspausen geraunt, aber Lilið verstand nicht, worum es ging, bis er sie auf Baeðisch wiederholte.
“Meine verehrten Untertanen!”, leitete er ein. “Ich wurde bereits darüber unterrichtet, dass wir die Kronprinzessin Stern verloren haben und unsere Handlungsposition sich verschlechtert hat. Aber das wird uns nicht lange aufhalten. Schuld an der Flucht ist ein Verbrecher, oder sollte ich sagen, eine Verbrecherin, die schon lange gefahndet wird und sich besonders heikle Kunstverbrechen vornimmt. Ich rede von dem Blutigen Master M, oder ab heute bekannt als die Blutige Mistress M.” Leiser fügte König Sper hinzu: “Das klingt auch gruseliger. Wir wissen alle, dass starke Frauen gruselig sind und besiegt gehören. Und was will man von einer erwarten, die schon kurz nach ihrer Geburt vom Orakel Lilið getauft wurde.”
Ein Raunen ging durch die Menge. Lilið verstand es nicht: Sie wussten doch alle, wie sie hieß und wer sie war. Nur, dass ihr nun wieder Weiblichkeit zugeschrieben wurde. Und so sehr sie das unangenehm traf, so sehr fühlte sie sich in dem Bild einer verabscheuungswürdigen, weiblich gelesenen Kreatur wieder. Einer Furie vielleicht. Nur, dass sie kaum die Macht hatte, die ihr zugeschrieben wurde. Immerhin hatte sie dieses Mal das Verbrechen, für das sie angeklagt wurde, auch tatsächlich und mit vollster Überzeugung begangen: Sie hatte Lajana befreit.
“Es ist im Prinzip ein großer Verlust, aber wenn ihr alle nun das Richtige tut, wird hier niemand dafür bestraft. Abgesehen von Herrn Hut, der die Lage mehrfach völlig unterschätzt hat und dafür verantwortlich ist, dass Lilið von Lord Lurch überhaupt an Bord der Kagutte und hierher gelangen konnte. Er verdient seine Strafe, und ich werde sie persönlich ausführen, wenn hier alles vorbei ist. Aber ihr? Ihr habt eine neue Chance!”, fuhr König Sper fort. “Der Kronprinz Stern möchte den Blutigen Master M lebend. Und zu unserer aller Überraschung hat er es geschafft, seine Mutter, unsere geschätzte Königin Stern, zu überholen. Er möchte mit uns hier und heute noch in Verhandlung treten. Seine Identität wurde gründlich geprüft, es ist keine Falle zu erwarten, aber natürlich sollten wir immer auf der Hut sein. Auf der Hut, haha!”
Des Königs Lachen war eigentlich kein freies Lachen, sondern eher das ausgesprochene Wort ‘haha’, aber die Anwesenden fielen mit einem adeligen Lachen ein.
Lilið registrierte es kaum. Wenn Kronprinz Stern schon hier war, dann würde sie vielleicht doch nicht noch drei Tage zu leben haben. Und ihre vage Fluchtidee für die Nacht wäre hinfällig. Sie brauchte am besten sofort eine neue Idee, aber ihr Gehirn fühlte sich geschmolzen an.
“Wir bereiten gerade den Empfang vor.”, verkündete König Sper. Er verkündete ganz schön viel Unsakrales im Saal der Verkündung einer Sakrale. “Er wird, wie sich das für Königliche, die ich in ihre Schranken zu weisen gedenke, die Empfangstreppe zur seeseitigen Tür hinauf nehmen, die gerade zu diesem Zweck angebracht wird. Dadurch wird die Sakrale angreifbarer und ich brauche euch alle hier, um sie zu sichern. Alle. Ich habe alle Antimagae meines Königreichs, die auftreibbar waren, hier herbestellt, und das waren eine Menge, weil ich mich ja schon seit Wochen auf einen Besuch der Königin oder des Kronprinzen einstelle. Wenn der Kronprinz für die Übergabe der Blutigen Mistress M nicht kooperiert, dann werden wir ihn gefangen nehmen und mit ihm das gleiche Spiel spielen, das wir uns für seine Schwester ausgedacht haben. Nur direkter und gegebenenfalls tödlicher.” Er richtete sich an Wache Luanda, die wütend das Gesicht verzog. “Natürlich möchte ich ihn nicht in einer Sakrale ermorden, und eigentlich während eines Staatsbesuchs, in dem ich einen friedlichen Verhandlungsraum verspreche, gar nicht. Es geht mir nur um den Fall, dass er uns gefährlich wird. Wir kennen alle das Potenzial eines hohen Skorems. Schaut mich an. Ich gehe verantwortungsbewusst damit um, aber er? Wenn er König wird und ihm nicht reicht, was ihm die Orakel zusprechen, verspricht das Krieg, der hier und jetzt vermieden werden kann.”
Die Flügeltüren auf der anderen Seite des Raumes öffneten sich und für einen kurzen Moment konnte Lilið das Meer sehen. Für diesen Augenblick beruhigte sie der Anblick, ließ sie atmen. Aber der Klang und das Sein der Welt drang trotzdem nicht mit in den Saal. Er schirmte auch bei geöffneten Türen alles ab.
Herein trat ein kleiner Mensch in der Uniform einer Wache. “Der Kronprinz Stern bittet um eine Audienz.”
“Jetzt schon?”, fragte König Sper. “Er kann es wohl kaum erwarten.”
Lilið musste zugeben, dass sie auch faszinierend fand, jetzt nicht noch eine weitere Stunde oder etwas in der Größenordnung auf den Kronprinzen warten zu müssen. Darauf, dass endlich alles vorbei wäre. Vielleicht sollte sie diesen Augenblick der Ablenkung für eine Faltung nutzen. Aber sie hatte es kaum gedacht, als sie wieder die durch Wache Luanda verursachte Taubheit im Körper und ihren bösen Blick auf sich fühlte.
“Die Audienz sei ihm jedenfalls gewährt.”, sprach König Sper laut und deutlich.
Es wurde von irgendwo viermal auf den Boden geklopft. Ein paar der Wache schritten zeremoniell zur Flügeltür und öffneten sie erneut. Und im Gegenlicht herein trat eine einzelne Gestalt. Lilið hätte schon damit gerechnet, dass etwas Gefolge für den Kronprinzen zugelassen würde. Aber die Gestalt betrat allein den Raum, in einem Gewand, das Lilið überraschend gut gefiel. Es war nicht so pompös wie das von König Sper, und trotzdem strahlte es so etwas wie Macht aus. Es war ein Hosenanzug, fast ein Kleid, glänzte seidig und schillerte an den Seiten, wo das Licht es berührte, blaugrün wie das Meer dahinter. Dann schlossen sich die Flügeltüren wieder und das Schillern verblasste.
Lilið war der Kronprinz in den Zeitungen und den Erzählungen des Volkes nie sonderlich sympathisch erschienen. Sie fragte sich in diesem Augenblick, ob auch für ihn ein falsches Bild gezeichnet wurde, wie das im Falle von Lajana geschah. Auf der anderen Seite gab es bei Lajana die Begründung, dass sie unskorsch und behindert war. Der Kronprinz erfüllte kein Kriterium, für das eine Person üblicherweise niedergemacht wurde. Er wurde als Luftikus abgestempelt, gab das Bild eines Menschen ab, der alles leichtfertig und seine Pflichten nicht ernst nahm.
Aber diese Gestalt stand dort am Anfang der Halle, von allen verlassen, und doch, als könnte sie nichts umwerfen. Lilið konnte nicht umhin, wenigstens den Mut dieser Person zu bewundern. Aber wie albern war es, diesen Mut für einen vermeintlichen Verbrecher aufzubringen?
König Sper brachte sich in eine exponiertere Position und stellte sich lässig hin. “Du kommst allein? Ohne Garde?”
Dann hatte nicht König Sper Gefolge untersagt, sondern der Kronprinz hatte sich dazu entschieden, allein zu kommen?
“Ich möchte niemanden mehr als unvermeidlich in Gefahr bringen.”
Lilið gefror innerlich zu Eis. Das war Maruschs Stimme. Marusch! Jetzt, wo sich ihre Augen wieder an das Licht gewöhnten, erkannte sie auch das Gesicht und ihre Haare. Marusch brachte es und gab sich als Kronprinz aus! Das war zum Scheitern verurteilt.
Lilið versuchte, sich zu beruhigen, als Wache Luandas Blick in ihre Richtung schweifte. Natürlich nahm Wache Luanda ihre verräterischen Stimmungen wahr.
König Sper lachte, dieses Mal zwar immer noch gekünstelt, aber immerhin nicht in Worten. Interessanterweise klang das Lachen in Liliðs Ohren freundlich und nicht hämisch. “Ich kann mich gerade nicht entscheiden, ob du vernünftig bist und dich einfach beliebigen Forderungen fügen willst, sodass du deshalb sicher bist, dass du hier heile wieder herauskommst, ob du dich gnadenlos selbst überschätzt und glaubst, dass du es mit meiner Garde im Alleingang aufnehmen kannst, oder ob du lebensmüde bist.”
“Die letzten beiden Optionen.”, antwortete Marusch und ergänzte: “Bei der Selbstüberschätzung bin ich mir nicht sicher. Entsprechend würde ich mit meiner Forderung eröffnen.”
Lilið schluckte und versuchte, nichts zu fühlen. Damit Wache Luanda nichts ahnen würde. Zu den Gefühlen, die sie unterdrückte, gehörten jähe Liebe für Marusch mit dieser Lebensmüdigkeit, die sie hier in der Rolle des Kronprinzen nicht verbarg.
“Die wäre?”, fragte König Sper sachlich.
“Ihr übergebt mir Lilið von Lord Lurch und ich verlasse mit ihr unbehelligt die Sakrale.”, forderte Marusch. Ebenso sachlich. Als ginge es um eine routinierte Verabredung zum Mittagsspaziergang.
König Sper lachte wieder. “Ich weiß, dass du einen Skorem von Drölfhundert hast.” Er hob dabei die Hände, als ob er versuchte, etwas zu zählen, was unzählbar war. “Aber dass du in einer magiereduzierenden Sakrale voller Antimagae meine Wache restlos ausschalten kannst, ehe du überwältigt oder noch viel früher der Blutige Master M getötet wird, entzieht sich gänzlich meinem Vorstellungsvermögen.” König Sper korrigierte auch dieses Mal mit einem Lächeln in der Stimme: “Die Blutige Mistress M, wie wir herausgefunden haben.”
“Ich würde das Blutige Master M als Bezeichnung wählen.”, korrigierte Marusch. Es war ein interessantes Gefühl, dass sie es vor allen korrigierte, und Lilið zugleich wusste, dass es für die anderen als Abwertung und nicht als Wertschätzung ankommen würde. Für sie war es letzteres.
“Auch gut!” König Sper lachte wieder wohlwollend. “Aber du überschätzt deine Handlungsposition gewaltig.”
“Willst du es darauf ankommen lassen?” So eine sachliche, beiläufige Frage.
“Du meinst es ernst.”, erwiderte König Sper. Alles Lachen und jeder Schalk war aus seiner Stimme verschwunden.
Marusch trat einige Schritte näher an König Sper heran, bis sie mitten im Raum stand, viele Wachen hinter sich, und nickte bloß.
“Ich habe keine Lust auf Krieg.”, hielt König Sper fest, klang fast defensiv dabei. Als sollten sie mal wieder auf den Boden zurückkehren. “Die ganze Sache hier hat den Zweck, Krieg zu vermeiden.”
“Das ist Unsinn.”, widersprach Marusch. “Die Sache hier hat den Zweck, einen Machtkrieg zu führen, der möglichst wenige direkte Opfer fordert. Ein Krieg bleibt es trotzdem. Wenn es dir darum ginge, gar keinen Krieg zu führen, bräuchtest du einfach nicht anzugreifen und dich mit dem zufrieden zu geben, was du hast.”
“Mir steht aber mehr zu, als ich habe.”, donnerte König Sper, mit einem Mal so laut, dass Lilið zusammenzuckte und ihre Fesseln mehr einschnitten.
Marusch hingegen blieb gelassen. Als der Hall verklungen war, erklärte sie: “Das ist bei einem derart aus den Fugen geratenen Gefüge schwer zu sagen. Meine Schwester wäre schon seit etwa zwei Jahren Königin, wenn nach dem Gesetz gehandelt worden wäre, nach dem irgendwem irgendwas zusteht. Sie würde dann von den Regelungen unter Druck gesetzt, Verträge mit dir zu unterschreiben, aber offenbar ist es rechtlich nicht so festgeschrieben, dass sie unterschreiben und sich fügen muss, wie ihr das immer behauptet, sonst hättet ihr nicht so viel Angst davor, dass sie es nicht tut.”
“Ich habe keine Angst davor.”, korrigierte König Sper wütend. “Ich würde in dem Fall einfach einen wahren Krieg führen, den ich gewinnen werde. Eine Wahnsinnige mit Machthunger sollte nicht regieren. Alle werden mir dankbar sein.”
“Ich denke, damit ist hinreichend widerlegt, dass diese ganze Sache nicht nur dem Zweck dient, Krieg zu vermeiden.”, stellte Marusch fest, wie wenn es um einen mathematischen Beweis ginge, und holte dann tief Luft, um eindringlich zu verstehen zu geben: “Ich mag warnend hinzufügen: Ich werde wütend, wenn du meine Schwester als machthungrig oder wahnsinnig bezeichnest. Zum einen, weil es entfernter von der Wahrheit kaum sein könnte, und zum anderen, weil du es abfällig tust. Und Wut macht mich gefährlich. Reden wir also lieber sachlich und nicht abfällig, in Ordnung?”
“Ich mag dir eine Verständnisfrage stellen, denn ich verstehe deine Ziele nicht.”, erwiderte König Sper unbeeindruckt. “Wenn du keinen Krieg willst, warum lehnst du dann das Amt als König ab? Du könntest so viel Land ganz einfach haben.”
“Königin, wenn.” Marusch ließ die Korrektur einen Moment im verwirrten Raum stehen.
Lilið war von der Verwirrung nicht ausgenommen, aber aus einem anderen Grund: Marusch spielte hier keine Rolle. Lilið hatte bis eben geglaubt, Marusch gäbe sich als der Kronprinz aus. Aber dann würde sie jetzt nicht das Maskulinum korrigieren. Marusch war Kronprinzessin?
Maruch fuhr fort: “Ich bin zweitgeborene Kronprinzessin. Und ich möchte nicht regieren. Ich frage mich, warum, wenn ich so viele Inseln haben könnte, ich nicht die Regierung über die Inseln, die Königreich Stern derzeit bilden, an die Person meiner Wahl, meine Schwester, abgeben kann. Warum möchtest du mehr haben, als du hast, wenn sie regieren würde, aber würdest ohne Zögern Inseln abgeben, wenn ich regieren würde, und hältst dieses System irgendwie für sinnvoll?”
Lilið drehte sich alles im Kopf. Es war so ein Unsinn. Das System, dieses Gespräch, es fühlte sich alles nach einer Dynamik an, von der Lilið nie ein Teil sein könnte, weil es sich so falsch anfühlte, dass sie nicht danach handeln könnte.
“Sobald du König wärest, stünde die königliche Garde hinter dir und müsste dir Folge leisten.” König Sper sprach die Worte wütend und laut und Lilið verstand nicht warum, verstand nur, wie sehr das Wort ‘König’ nun endgültig schmerzte, und wollte, dass alles zu Grunde brannte. “Die Bundesorakel”, fuhr König Sper fort, “haben eingeschätzt, dass du mich mit deinem Skorem als Befehlshaber in die Tasche stecken könntest. Was hilft es mir da, mich zu wehren? Du könntest der mächtigste König aller Zeiten werden!”
“Immer noch, wenn, dann Königin.”, dieses Mal schrie Marusch. Lilið hatte diese Stimme nie so laut und beeindruckend gehört, wie nun, hatte gar nicht gewusst, dass das möglich war. “Wenn du je Behauptungen aufstellst, dass du nur zum Schutze oder Wohle des Volkes entscheiden würdest, erinnere dich daran, dass der ganze Sinn dieses Systems ist, Macht an die jeweils Stärkeren zu verteilen und nichts mit Volk und Güte zu tun hat.”
“Du kannst durch die Behauptung, du wärest in Wirklichkeit eine Frau, eure Rangfolge nicht ändern.”, sagte König Sper, nun wieder in sachlichem Tonfall, aber die Worte verbrannten Liliðs letzten Geduldsfaden. Alles tat in ihr weh, alles war so falsch.
“Halt die Fresse!” Marusch hatte das tatsächlich durch den Raum geschrien. Sie atmete einige Male hörbar, um sich zu beruhigen. “Ich bin Kronprizessin, auch da gibt es nichts zu diskutieren. Ich brauche keine Änderung der Rangfolge, um meine Regentschaft abzulehnen. Das habe ich getan, indem ich zu meiner Krönung nicht anwesend war. Ich glaube, ich habe klar gemacht, was ich will. Kommen wir zur Sache?”
“Nun gut.”, brummte König Sper. “Du drohst also ohne königlichen Status mit Krieg, als Einmannarmee, gegen alle hier, sehe ich das richtig?”
“Einpersonenarmee.”, korrigierte Marusch atemlos. Und fügte dann die unverblümten Worte hinzu: “Ich würde eher von einem Massaker reden als von Krieg.”
“Ich möchte, einfach für den Fall, dass ich dich völlig unterschätze, gern eine Machtdemonstration von dir sehen, bei der niemand zu schaden kommt.” König Sper sprach wieder so, als wolle er sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen, und dieses Mal fühlte es sich tatsächlich nach etwas Sinnvollem an. “Meinst du, das ist drin.”
Marusch gluckste freudlos. “Was meinst du, was in dem Moment hier passiert, in dem ich beweise, dass ich gegen alle Antimagae und die Materie der Sakrale Magie ausführen kann? Egal welche.”
“Also sollen wir dir einfach glauben.” König Spers Stimme klang bedrohlich und skeptisch zugleich.
Marusch schüttelte den Kopf. “Ich bin schon bereit dazu.”, widersprach sie. “Egal, wie sehr ich euch und alles hier hasse, wäre doch mein Vorzug, wenn ihr mir Lilið von Lord Lurch übergebt und wir die Sakrale unbehelligt verlassen, wie ich sagte. Ich halte es lediglich für Unfug, eine Machtdemonstration durchzuführen, ohne vorher abgesprochen zu haben, dass ich in dem Moment, in dem mich oder Lilið von Lord Lurch jemand angreift, ohne Rücksicht auf Verluste alle und alles vernichten werde, was zwischen mir und meinem Ziel steht. Ich gehe da kein Risiko für sie oder mich ein. Wir hatten lange keinen Krieg. Ich habe keine Kriegserfahrung. Ich kenne keine Strategien, um Schaden zu minimieren. Ich habe keine Lust auf dieses System und alle Personen, die es unterstützen. Ich halte nichts von dem Unfug, der hier läuft. Ich denke nicht, dass irgendetwas wirklich rechtfertigen darf, was ihr hier abzieht. Ich werde im Falle, dass ich mich unsicher fühle, hier alles zerlegen.”
Eine Weile lag der Raum in Stille, nachdem Marusch geendet hatte. Die Worte verklangen. Das Schweigen tat gut. Dieses Ritual, das Lilið hier durchgeführt hätte, erschien ihr auf einmal um so viel sinnvoller, als was hier ablief. Es hätte sie vielleicht innerlich aufgeräumt. Ein Teil von ihr fragte sich, ob sie der Sakrale doch beitreten wollte. Es war albern. Allein schon wegen ihres Namens. Vielleicht hätte sie sich, statt sich diese Gedanken zu machen, mental eher auf ein Massaker vorbereiten sollen, aber sie konnte nicht.
“Und du glaubst,”, brach König Sper schließlich die Stille, “dass irgendetwas so eine Drohung rechtfertigt, wie du sie hier aussprichst?”
Marusch zuckte mit den Schultern. “Ich habe keine Ahnung.”, sagte sie gleichgültig. “Es wäre schön gewesen, wenn ihr ohne Gewaltandrohung einfach nicht so furchtbare Gräueltaten tun würdet, wie Menschen zu entführen. Es wäre schön, wenn ein so gewaltvolles System, dass meine Schwester dermaßen entwürdigt und niedertritt, ohne Einfluss von Gewalt zerspränge, und das könnten Mächtige wie du bewerkstelligen, wenn sie aufhören, danach zu handeln. Aber nichts läge euch ferner, als Macht abzugeben, um Menschen auch nur die Möglichkeit zu geben, zu heilen.” Marusch machte eine kurze Sprechpause und stellte sich dabei in einen stabileren Stand. “Ich behaupte nicht, dass mein Umgang mit der Situation akzeptabel wäre. Ich weiß nicht, wie ein akzeptabler Umgang aussehen könnte, obwohl ich mich mit der Frage seit Jahren befasse. Aber ich kann nicht mehr. Ich möchte nicht mehr. Ich bin Kronprinzessin, nicht Königin. Ich bin hier nicht als Regierungs- sondern als Privatperson. Und ich möchte die Menschen mitnehmen, die ich liebe, und gehen, und was dabei von euch zurückbleibt, ist mir egal.”
Wieder wurde es still. Bis irgendwo eine Stimme laut wurde, die Marusch des Wahnsinns bezichtigte. Andere Stimmen setzten zustimmend ein. König Sper gab den Befehl, Marusch festzunehmen. “Diese Macht, die er hier verspricht, gekreuzt mit seinem Wahnsinn muss eingedämmt werden.”, schrie er über das Raunen der Menge hinweg. “Ergreift ihn, und wenn er dabei getötet wird, ist das ein Preis, den ich bereit zu zahlen und auszubügeln bin.”
Dann schoss die erste Welle an Wucht durch den Raum. Mehrere Leute stolperten. Marusch blieb ungerührt stehen, es wehte nur ihre Kleidung.
Mit einem Mal konnte Lilið nicht mehr atmen. Physisch nicht. Magie schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich zu überwältigt, um Panik zu fühlen, zu ergeben gegenüber dieser Situation, aber als Angstgefühl doch drohte, einzusetzen, weil ihr wieder so schwindelig wurde, war es auch wieder vorbei.
Lilið nahm die Änderung im Raum von einem Moment auf den anderen wahr, nur über Schwingungen. Es war leise, aber das Schweigen der Welt erstarb. Die kühle Ruhe des abgeschirmenden Gebäudes war durch eine andere Ruhe ersetzt worden. Eine Ruhe aus Tod und Staub. Es war ein unheimlicher Moment. Lilið wusste, dass alle außer Marusch und ihr nun tot waren, bevor sie es sehen konnte. Sie hörte kein Atemgeräusch mehr. Vor allem fühlte sie, dass sich die chemischen Verbindungen aufgelöst hatten, die alles zusammenhielten und definierten. Sie blickte sich um und sah keine Menschen mehr, sondern bloß perfekte Abbilder von Menschen. Sie fielen nicht um, dazu war zu wenig an ihnen noch Wesen. Die Körper zerrieselten. Nicht auf einen Schlag, sondern zunächst fast unauffällig. Zuerst die Dinge, die überstanden und von der Schwerkraft nicht aufeinander gehalten wurden. Nasen rieselten aus Gesichtern. Haare zerstoben gelegentlich, manche Ohrmuschel gab nach. Dann fielen halbe Gliedmaßen von Körpern und zerschellten lautlos auf dem Boden zu Haufen aus Staub.
Lilið blickte in eines der Gesichter, als es zerfiel, und war vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben froh, dass sie kein gutes Gedächtnis für Gesichter hatte. Sonst wäre es vielleicht persönlicher gewesen. Dann blickte sie zu Marusch. Einen kurzen Moment hatte sie Angst, dass Marusch auch nicht mehr lebte, weil sie so starr dastand. Aber sie fühlte das Leben. Es war nicht schwierig, im Staub um sie herum das eine bisschen Leben zu erfühlen, das noch da war. Das einzige Leben, dass ihr örtlich nah war. Denn anderes Leben fühlte Lilið durchaus, dessen Gefüge das Gebäude vor der Verwandlung abgeschirmt hatte. Sie fühlte wieder das Wetter und das Meer um sie herum. Maruschs Magie hatte vor der Sakrale nicht halt gemacht. Ein Gebäude, dem Heelem nichts hatte anhaben können, der Türen aus der Ferne zerschneiden und aufwickeln konnte, hatte Marusch in einem Wimpernschlag vollständig zu Staub zerlegt. Die Mauern hielten länger als die Abbilder der Menschen, aber auch sie begannen, wegzuwehen. Der Wind packte den noch haftenden Staub und riss die Stockwerke über ihnen davon, ohne dass es ein besonderes Geräusch verursachte. Kein Knarzen oder Ächzen. Nur das Geräusch von Wind und Meer um sie herum. Es war seltsam erleichternd, dass das Wetter seit vorhin der Flaute entkommen und lebendiger geworden war. Marusch schritt über den unter ihr wegrieselnden Boden auf Lilið zu. Irgendetwas machte sie wohl mit dem Boden zu Liliðs Füßen, der sie noch hielt.
Lilið schüttelte die Fesseln ab, die nur Momente später nicht mehr als solche erkennbar waren, und blickte ein letztes Mal auf die Überbleibsel von Körpern, die der Wind noch nicht mitgenommen hatte. Als die Mauern weggebrochen waren und den Wind nicht mehr aufhielten, ging alles ganz schnell. Marusch stand ihr gegenüber, nur noch einen Schritt von ihr entfernt, als die Überreste vollends in Staub zerstoben und aufs Meer hinausgetragen wurden. Marusch hatte nicht die ganze Sakrale zerstört. Ein Teil des Gebäudes stand noch, die offenen, leeren Räume klafften als dunkle Krater, weit hinter ihnen. Das Abendrot tauchte das Bild in ein romantisches Licht.
Lilið fragte sich, was in dieser Situation berechtigte Gefühle gewesen wären. Sie war sich ziemlich sicher, dass Schönheit über das Vergehen und den Zerfall zu fühlen, eher kein Gefühl war, dass Zuhördende einer Geschichte in diesem Zusammenhang unkritisiert stehen lassen würden, vor allem dann nicht, wenn es sich um den Bericht von etwas Realem handeln würde. Es waren gerade viele Menschen gestorben. Und ihre Freundin war die Mörderin. Das waren die Fakten. Aber sie fühlte stattdessen so etwas wie schwere Erleichterung. Sie fühlte den Wind, hörte das Meer, roch das Salz und sah Marusch. Den Menschen, den sie gerade oder auch immer bei sich haben wollte, unabhängig davon, was geschehen war oder was Marusch getan hatte. Es war vorbei. Es hatte alles keinen Sinn ergeben. Es war ein undurchdringliches Gestrüpp aus Politik gewesen, die vorgaukelte, wichtig zu sein, in Wirklichkeit aber allen schadete, ohne dass es völlig offensichtlich greifbar wäre. Eine fremde Welt aus Fremdbestimmung, in dem sie nie als sie selbst hätte interagieren können, weil sie nicht darin vorgesehen war. All das war verweht. Hatte sich fast zart im Wind aufgelöst, war zerrieselt wie eine Sanduhr, war zerfallen und vergangen. Was wäre schon ein guter Ausweg gewesen? Dies war ein ästhetischer. Einer, der Lilið mit einer Gewissheit des Möglichen zurückließ, einer inneren Ruhe, dem Rauschen des Meeres, das sinnvoller war als irgendein System, und mit Marusch.
Sie konnte nicht ausmachen, von wem der Impuls ausgegangen war, aber sie überbrückten den letzten Abstand zwischen ihnen, bis ihre Körper sich berührten, gegeneinander lehnten. Erst dann umarmeten sie sich, langsam und sanft.
“Es tut mir leid.”, flüsterte Marusch.
“Dass du keinen Weg gefunden hast, mir mitzuteilen, dass du noch lebst?”, fragte Lilið, denn was hier passiert war, verzieh sie viel leichter. “Dass Lajana deine Schwester und die Identität, die du mir nicht offenbaren wolltest, die des vermeintlichen Kronprinzen, also der anderen Kronprinzessin, ist? Oder immer noch die Sache mit Allil?”
“Dass ich das Buch ohne dich übersetzt habe.”, raunte Marusch.
War das Schalk? In dieser Situation? Fühlte Lilið Neugierde? Jetzt?
“Worum ging es?”