Schweigen

CN: Herzprobleme - erwähnt, emotionaler Druck, Ratte, Eingesperrtsein - vielleicht an Klaustrophobie erinnernd, Religion mit Tradition und Kleiderordnung sowie einem Ritual, vermutlich am ehesten auf katholische Rituale anspielend.

Auf dem Weg zum Hafen hinab malte Lilið sich aus, was alles wie scheitern könnte. Was, wenn die Fälschung des Buchs auffliegen würde? Oder ihr einfach kein Boot gegeben würde, weil ihr Vorhaben als zu dreist empfunden würde? Was wenn Drude im Leuchtturm erwischt würde? Was, wenn sie in der Sakrale waren und die Wachen sie entlarvten?

So unkonkret halfen die Fragen nicht. Lilið malte sich also genauer aus, wie sie das Buch zur Unterschrift abgeben würde, das Zeichen für das Reinigungsritual täte und die Person, die ihr das Boot übergeben sollte, stattdessen versuchen würde, mit ihr zu diskutieren. Sie würde einfach das Zeichen wiederholen. Und wenn sie das Boot nicht bekäme? Würde sie eines zu stehlen versuchen. Alles sehr heikel.

Drude holte sie aus den Gedanken. “Hier trennen sich unsere Wege vorerst.”

Lilið blickte auf. “Wo muss ich hin?” Es roch bereits nach Hafenwasser. Etwas fischig, etwas weniger nach Natur und doch nach Salz. Die Öwenendrachen dominierten mit ihrem langgezogenen Gequietsche die Geräuschkulisse.

“Durch diese Häuserreihe hindurch, dann siehst du direkt das Bootshaus. Ich habe dich fast hingebracht.”, erklärte Drude. Sie standen in einer sehr schmalen, menschenleeren Gasse. Es gab keine Fenster in den Gebäudewänden, die sie einzwängten. Drude zog dere Sakralutte aus und reichte sie Lilið.

Lilið faltete sie mit einer verdrehten Fächerfaltung. “Wenn du sie entfaltest, einmal so zwirbeln”, sie deutete eine Drehung an, “dann schütteln. Wenn du dich nicht sehr zackig bewegst, sollte die Faltung nicht von allein aufgehen.” Und, wie Drude erklärt hätte, würde die Magie der Faltung auch nicht spürbar sein, solange keine aufgewendet werden musste, um sie zu halten.

Drude bedankte sich mit aneinander gelegten Händen und einer angedeuteten Verbeugung, wie Lajana das mal getan hatte, und steckte das kleine, feste Stoffbündel in die wasserdichte Tasche, die sie unter der anderen Kleidung trug. Dann zog sie Lilið noch einmal in eine feste Umarmung. Lilið erwiderte sie, spürte den großen Körper schwer gegen sie atmen. Sie sprachen kein weiteres Wort, bevor Drude die andere Richtung einschlug und verschwand.

Drude hatte Recht gehabt: Die Bootshalle war nicht zu verfehlen. Der Himmel war bedeckt, die See spiegelte die grauen Wolken in der ungewöhnlich glatten Wasserfläche vor ihr, von der sie an manchen Stellen am Horizont nicht ausmachen konnte, wann das Grau in den Himmel überging. Flaute. Segeln würde verhältnismäßig langsam gehen. Öwenen kreisten im Hafen. Sie waren vielleicht etwas größer als die, die Lilið von Nederoge kannte. Der Leuchtturm erhob sich in nicht allzu weiter Entfernung aus dem Wasser, schwarz und weiß gestreift, und mit dem interessanten Grundriss eines vierzackigen Sterns. Zwischen den Strahlen war es jeweils möglich, mit einem kleinen Boot anzulegen. Das konnte sie von hier sehen, weil gerade eines am Leuchtturm befestigt war. Es war so klein, dass Lilið vermutete, von hier bei diesem Wetter eine knappe halbe Stunde zum Leuchtturm zu brauchen, wenn sie auch ein solches hier bekäme. Auf der einen Seite wäre sie gern schneller gewesen, auf der anderen war das wahrscheinlich eine gute Sache, weil Drude sicher auch Zeit brauchen würde, den Schleusenmechanismus zu betätigen. Es könnte hinkommen, dass sie etwa gleichzeitig am Fuß des Leuchtturms ankämen.

Lilið atmete tief durch, fühlte die Salzluft und den Dreck des Hafens in der Lunge, aber auch den typischen Duft von Sakralen, und betrat das Boothaus. Hinter einem Schreibtisch saß eine Person in einer Sakralutte, einer blauen, die aber interessanterweise hochgeschlossen war, und schüttelte grinsend den Kopf, als sie Lilið erblickte. Lilið wusste nicht, wie sie es deuten sollte. Egal. Einfach so tun, als hätte alles schon dere Richtigkeit. Sie trat an den Tisch heran, machte das Zeichen, das Drude ihr gezeigt hatte, und händigte das Buch aus.

Die Person schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal lachte sie sogar, nahm aber das Buch entgegen, füllte rasch, und ohne viel zu überprüfen, eine Zeile aus, und beförderte es in eine Schublade. “Ihr Halunken.”, sagte sie.

Lilið verstand das Gesagte, weil sie das Wort ‘Halunke’ im Alevischen sehr mochte und es sich deshalb gemerkt hatte. Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, als die Person den Finger auf die Lippen legte, Lilið Zeichen gab, ihr zu folgen, und mit ihr ein schmales, kleines Boot aus einer kleineren, noch mehr nach Sakrale riechenden Halle neben dieser Hauptbootshalle zum Wasser trug. Es war, wenn Lilið nicht alles täuschte, wirklich ein ebensolches Boot, wie es am Leuchtturm angelegt hatte.

War das Lachen und die Beschimpfung vielleicht einfach ein lieb gemeintes ‘Ich sehe, dass ihr das Ritual doch ausführen wollt, und schüttele deshalb euch belächelnd den Kopf darüber.’? Das könnte passen. Lilið wünschte sich so sehr, dass sie mit dieser Einschätzung recht hatte.

Die Person hielt das Boot am Steg fest, bis Lilið eingestiegen war, das kleine Segel gehisst und bereit zum Ablegen war. Dann ging die kleine Gestalt zurück ins Bootshaus und Lilið segelte aufs Meer hinaus. Allein.

Das sakralierte Boot würde nicht ihr Lieblingsboot werden, dachte sie. Es war filigran, könnte leicht kaputt gehen, und bot im Ausgleich dafür nicht einmal Schnelligkeit oder Wendigkeit wie die leichten Boote, die Lilið bisher gesegelt hatte. Aber es war ein leises Boot. Es glitt durchs Wasser wie ein Fisch. Es konnte kaum die Rede davon sein, dass es das Wasser vor ihm durchschnitte. Es fügte sich einfach ein, glitt still und gemächlich dahin. Und das hatte eine ganz eigene Schönheit.

Dadurch, dass Lilið schwieg und sich des Schweigens bewusst war, hörte sie die Natur um sich herum um so deutlicher. Statt die Wellen gegen das Boot schwappen zu hören, was sonst beim Segeln ein dominantes Geräusch sein konnte, hörte sie sie unabhängig von ihrer eigenen Existenz und der Existenz des Bootes um sie herum schwappen. Die Öwenen flogen hier freier, stießen manches Mal Feuerstöße in den Himmel. Lilið fühlte auch viel genauer in die Natur hinein und genoss sie. Es war seltsam, was so ein Schweigen mit sich brachte.

Trotz der Ruhe und Entspannung, die die Fahrt in ihr ausgelöst hatte, fühlte sie sich durchgeschwitzt, als sie am Leuchtturm ankam. Sie entschied sich, zwischen den dem Land abgewandten Zacken des Sterns anzulegen. Sie wusste nicht, ob das Boot, das auf der gegenüberliegenden Seite immer noch vertäut war, dort einfach dauerhaft lag, oder ob irgendwann eine Person zurückkommen und damit wegsegeln würde. Sie konnte auf eine Begegnung mit Fremden verzichten. Die dem Land abgewandte Seite hatte außerdem den Vorteil, dass sie vom Land aus nicht ewig hier abwartend gesehen werden würde. Aber als sie sich am Steg festgemacht hatte, zweifelte sie an ihrer Entscheidung. Weniger weit entfernt von hier als das Land auf der anderen Seite des Leuchtturms lag eine Kagutte vor Anker. Lilið war sich nicht sicher, ob es die Kagutte war, mit der sie hergereist war. Wenn, dann war sie sehr überholt worden. Sie hatte Ähnlichkeiten, sah aber viel neuer aus.

Lilið hielt den Atem an, beobachtete, und entschied dann doch wieder zu atmen. Sie blickte zur Sakrale hinüber. Sie war vielleicht noch einmal eine knappe halbe Stunde von ihr entfernt. Hoffentlich waren sie für das Ritual nicht zu spät, aber es sollte eigentlich zeittechnisch alles passen. Wenn Drude nur bald käme.

Lilið atmete erleichtert aus, als sie von hier aus beobachten konnte, wie eine Wand unterhalb der Sakrale heruntergelassen wurde. Das musste die Schleuse sein. Drude hatte es also geschafft. Irgendwann würde Lilið demm fragen, wie. Nun erst einmal bereitete Lilið das Boot zum Ablegen vor, damit sie im Zweifel, sollte Drude es besonders eilig haben, fast sofort weg sein könnten.

Nur Momente später eilte die hochgewachsene Gestalt aus dem Leuchtturm zu ihr. Die Sakralutte hatte dey also erfolgreich entfalten können. Drude stieg zu Lilið ins Boot und verscheuchte sie von der Pinnensteuerung. Das überraschte Lilið. Aber es würde wohl einen Sinn haben. Sie rechnete damit, es bei der Schleuse zu erfahren. Drude wusste vielleicht etwas über das Hineingelangen, was Lilið noch nicht wusste.

Sie stießen sich vom Steg ab und Drude steuerte sie auf die Sakrale zu, führte auch das Segel. Lilið fühlte sich mit einem Mal zittrig und angespannt. Die innere Ruhe, die die erste Hälfte der Fahrt mitgebracht hatte, war verflogen. Dabei hatten sie nun schon so viel geschafft! Und sie hatten einander wieder! Lilið versuchte, langsam und tief ein- und auszuatmen, um sich zu beruhigen. Ihr war gar nicht klar gewesen, dass Drude so gut segeln konnte, fiel ihr auf. Vielleicht sogar besser als Lilið. Wieder fühlte sie den Schweiß unter ihrer Sakralutte über ihren Körper und ihr Gesicht rinnen. Angstschweiß. Drude musste es fühlen. Vielleicht wünschte sich Lilið, dass Drude ihre Hand drücken würde oder so etwas. Aber das tat dey nicht.

Dann verstand Lilið, woher nun die Anspannung kam: So gut Drude auch segelte, Lilið wäre lieber selbst gesegelt. Es hätte sie beruhigt, etwas in der Hand zu haben. So blickte sie einfach gen näherkommender Sakrale, beobachtete das ruhige Meer um sie herum und musste mit sich machen lassen. Sie vertraute Drude, das war dieses mal nicht das Problem. Sie hätte einfach nur gern etwas zu tun gehabt.

Ein kleiner schwarzer Drache schoss über sie hinweg. Lilið blickte auf. Auch Drude hob kurz den Kopf, aber senkte ihn direkt wieder. Die Abe schwebte über sie hinweg, ließ ein kurzes Funkengestöber hinter sich und flog dann, Tempo aufnehmend, wieder aus ihrem Sichtfeld gen Leuchtturm. War es die Abe Lil? Entweder war sie es nicht und kam deshalb nicht zu ihnen ins Boot, oder die Abe erkannte, dass sie gerade nicht stören sollte.

Lilið versuchte fast krampfhaft, die Angst wegzuatmen, die sich zunehmend mehr aufbaute, und die sie kaum mehr aushielt, als sie endlich die Sakrale erreichten. Irgendetwas stimmte nicht, dachte sie. Stimmte wirklich etwas nicht, oder war das nur die Angst? Bisher lief alles sehr gut. Vielleicht war es das. Vielleicht dachte sie, dass nicht einfach alles gut gehen konnte. Das war auch bei ihrem ersten Befreiungsversuch der Fall gewesen.

Drude steuerte sie unter die Sakrale in das Becken nahe des seeseitigen Eingangs. Lilið merkte sich, in welcher Richtung der Ausgang sein musste, wenn sie oben ankamen, um, wenn es so weit war, rasch fliehen zu können.

Drude tat nichts, was Lilið überrascht hätte. Dey steuerte nicht von irgendeiner anderen Seite hinein und machte auch sonst keine aufregenden Manöver. Dey steuerte einfach auf die Stange zu, an der sie sich festhalten konnten, wenn der Wasserpegel stieg, und zog an einem Seil, das den Schleusenmechanismus in Gang setzte. Lilið wurde schwindelig, als sich das Schleusentor langsam schloss.

Und fühlte sich so eingesperrt, wie sie sich noch nie im Leben gefühlt hatte. Dabei war der Raum groß. Und sie befand sich mit einem Segelboot auf Wasser. Das war ihr Zuhause, alles was sie brauchte, hatte sie immer geglaubt. Aber das Schleusentor verschloss nicht nur einen abgedichteten Raum, in dem Wasser aufsteigen konnte, sondern sperrte auch die Welt da draußen aus. Lilið hatte kein so starkes Gefühl für die Beschaffenheit der Dinge gehabt, wie Marusch damals beschrieben hatte, dass es möglich wäre. Aber sie spürte, dass sie eben doch zuvor eine Verbindung zu all dem gehabt hatte, die nun fehlte. Das Schleusentor und die Wände der Sakrale sperrten Magie aus. Das ganze Sein der Welt. Lilið weinte fast, weil es ihr sofort fehlte. Und noch etwas fehlte, von dem Lilið sich nicht einmal bewusst gewesen war, dass sie es die ganze Zeit wahrgenommen hatte: Das Igeldings der Prinzessin. Die Schwingungen dieser Kreatur hatten wie ein ständiges Rauschen unter ihrer Haut sachte vibriert. Waren mal etwas stärker, mal schwächer gewesen. Und nun war es still. Die Welt schwieg hier drinnen.

Was bedeutete das? Dass sie das Igeldings draußen wahrnahm, aber hier drinnen nicht, musste heißen, dass es nicht hier drin war. Lilið durchströmte eine plötzliche Angst, dass alles umsonst gewesen wäre, dass auch Lajana nicht hier wäre. Freiwillig hätte sie sich sicher nie vom Igeldings getrennt.

Das Schleusentor war selbst nicht leise gewesen. Für ein Schleusentor vielleicht schon, aber es war immer noch ein monströses, schweres Tor, das nicht vermeiden konnte, ein leichtes Donnern durch den Raum erschallen zu lassen, als es einrastete. Der Wasserspiegel hingegen stieg lautlos an. Das Wasser flüsterte nicht, schwieg. Lilið konnte Alawin auf der anderen Seite vielleicht doch verstehen. Auch wenn sich das Schweigen der Welt für sie beklemmend anfühlte, bewunderte sie diesen Raum sehr. Er roch feucht und nach Stein, dem typischen Geruch von Sakralen, aber reiner. Die Akustik war hallend wie in einer Tropfsteinhöhle. Eigentlich wusste Lilið nicht, wie eine Tropfsteinhöhle klang. Aber so stellte sie es sich vor. Es gab nur wenige Geräusche, die hallen konnten, aber das machte diese umso schöner und spürbarer. Es war relativ dunkel, aber über ihnen fiel fahles Licht in die Sakrale, dem sie sich mit dem Steigen des Wasserspiegels näherten. Auf der einen Seite hatte Lilið das Gefühl, diesen Ort niemals verlassen zu können, wenn er es ihr nicht selbst erlaubte (was auch immer das heißen sollte), auf der anderen verstand sie, dass hier geschwiegen werden sollte, weil ihr die Atmosphäre dadurch etwas gab, was sie nie zuvor gefühlt hatte. Etwas Magisches, hätte sie gesagt, wenn Magie nicht gerade das gewesen wäre, was fehlte. Etwas Überirdisches, das zugleich sehr Hier und Jetzt war.

Der Wasserspiegel hörte sanft auf zu steigen, als er mit dem Beckerand abschloss. Einige flache Wellen schlugen über den Rand hinweg und nässten den Boden der Sakrale um sie herum. Drude stieg aus und knotete das Boot fest. Lilið folgte demm. Sobald ihre nackten Füße den Boden der Sakrale berührten, wurde das unbehagliche Gefühl, gefangen zu sein, stärker. Der Boden fühlte sich falsch an, als wäre er nicht fühlbar. Als böte er ihren Füßen nur physischen Widerstand. Das war nicht ganz richtig, eigentlich fühlte sie ihn schon. Aber der Boden hatte keine Temperatur. Keine Schwingungen, keine Magie. Auch der Boden schwieg. Lilið wünschte, er wäre kühl gewesen. Immerhin war das Wasser kühl, mit dem Teile davon benetzt waren. Wenn sie doch Magie brauchen würden, würde Drude es vielleicht benutzen können.

Lilið hoffte, dass sie in dieser Sakrale überhaupt falten könnte. Sie überlegte, es auszuprobieren, aber Drude hatte sie gewarnt: Erst Magie ausüben, wenn es nicht mehr anders ginge. Magie würde die Wachen wieder auf den Plan rufen. Eine Wache, die Magie erfühlen und vielleicht sogar unterdrücken konnte, war mit Sicherheit dabei.

Lilið folgte Drude aus dem Halbdunkel des Schleusenraums durch eine schwere Flügeltür in einen Raum mit Ausmaßen, über die sich Lilið vielleicht im Vorfeld hätte klarer sein müssen. Pompös war eine passende Beschreibung. Das weiße Material mit der rostbraunen Maserung wurde hier durch ein paar schmale, sehr hohe Fenster in diesiges Licht getaucht. Die ganze Inneneinrichtung, einschließlich der Bänke, bestanden daraus. Es war ein Saal der Verkündung, erkannte Lilið. Aber einer, der vermutlich nie von niederem Volk betreten wurde, wenn es nicht gerade Sakrals-Dienende waren. Und hinten in diesem Raum befand sich tatsächlich Lajana, sicher zwölf Meter vom Ausgang auf die Terrasse auf der anderen Seite der Halle entfernt. Drude würde also die Wachen aus dem Raum bitten. Sie würden Lajana fesseln, wenn sie gingen. Lilið würde die Schlösser der Fesseln knacken, sie würden auf die Terrasse eilen und erst dort würde Lilið das erste Mal Magie anwenden, um Lajana und sich zu falten. Der Plan wirkte nun so greifbar. Vorausgesetzt, die Wachen ließen sich auf Drudes Aufforderung zu gehen, ein.

Lajana saß dort, wo sonst Sakraleten ihre Ansprachen hielten, auf einem schweren, verzierten Stuhl mit blauer Polsterung, der nicht zur Einrichtung des Rests des Raums passte. Neben ihr saßen in weniger verzierten, aber ebenso unpassenden Stühlen zwei Wachen, von denen zum Glück keine Wache Schäler war. Die eine war die Wache, die an Bord immer gedöst hatte. Lilið fand interessant, dass diese hier sein durfte. Die andere kannte Lilið nicht. Zumindest erinnerte sie sich nicht an das Gesicht. Aber die Wache war größer, als Wache Schäler es war. Drude tat einige Schritte voraus, der Gang selbstbewusst, als wäre dey hier zu Hause. Lilið folgte und versuchte, ein ähnliches Bild von Selbstsicherheit abzugeben. Die Wachen blickten ihnen mit skeptischen Gesichtsausdrücken entgegen und standen auf.

Die Wache, die Lilið nicht kannte, sagte etwas auf Alevisch. Vielleicht, dass sie hier nicht sein durften. Das könnte zu den Vokabeln passen, die Lilið verstand.

Die Person neben ihr sprach in der selben, ihr fremden Sprache, wie erwartet, aber mit einer Stimme, die ganz sicher nicht Drudes war.

Liliðs Herz schlug bis zum Hals und verhedderte sich dabei ein paarmal. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Für einen Moment wagte sie zu hoffen, dass Drude einfach dere Stimme erfolgreich sehr verstellt hatte (etwa eine Oktave tiefer), aber ihr kam die Stimme bekannt vor. Vertraut.

Die Wache antwortete, etwas streng und trotzdem gelassen und endete auf eine Frage.

Die Gestalt in der Sakralutte, die nicht Drude war, antwortete knapp mit einer Bestätigung. Heelem. Das war Heelems Stimme. Was machte Heelem hier? Und wusste er von Drude? Was war passiert?

Die Wache seufzte tief, die andere murrte genervt, aber beide standen auf und teilten Lajana auf Baeðisch mit, dass sie sie fesseln würden, solange die beiden Sakrals-Dienenden den Raum reinigen würden. Lilið hörte das Klicken der Fesseln von den Wänden abprallen. Dann verließen die Wachen den Raum.

Wenn es Drude gewesen wäre, neben der sie wie vom Donner gerührt stand, hätte sie schon wieder gedacht, alles liefe zu gut. Lilið realisierte, dass sie mit Heelem seit dem Leuchtturm in einem Boot gesessen hatte. Es war nicht Drude gewesen. Nun ergab auf einmal Sinn, dass Heelem steuern gewollt hatte. Als Nautika konnte Heelem das sehr gut. Das hätte er nicht ihr überlassen. Oder hätte er? Wusste er, dass sie Lilið war? War es doch Drudes Abe gewesen und sie hatte sich nicht zu ihnen niedergelassen, weil Drude ja gar nicht an Bord gewesen war?

Lilið verpasste die Möglichkeit, Heelem Bescheid zu sagen, dass sie womöglich nicht war, wen er erwartete, weil er in dem Moment durch den Raum schritt, in dem die Wachen die Türen verschlossen hatten. Er verriegelte sie rasch von innen, eilte dann zu Lajana und öffnete ihre Fesseln. Mit Magie. Lilið schluckte.

Dann brach das Chaos herein. Heelem schloss mit der verdatterten aber geistesgegenwärtig folgenden Lajana im Schlepptau zu ihr auf und deutete Richtung Tür, hinter der die Wachen lauerten und gegen diese hämmerten. Lilið fragte sich, was sie tun sollte. Sollte sie in Richtung jener Türen gehen? Das hielt sie für nicht so sinnvoll, denn das Holz knackste bereits und gab nach.

“Mach Feuer!”, rief Heelem ihr leise zu.

Also hatte Heelem nicht sie erwartet, sondern eine Person, die Feuer machen konnte. Lilið wusste nicht, wie sie antworten sollte, also schlug sie die Kapuze zurück. Heelem blickte ihr entsetzt ins Gesicht. Er hatte wohl so gar nicht mit ihr gerechnet.

Die Türen barsten auf und von allen Seiten näherten sich Wachen. Einige rasten, in Geschwindigkeiten, die nur mit Magie möglich waren, an ihnen vorbei, um sie einzukreisen und ihnen den Weg zur Tür ins Freie abzuschneiden. Heelem machte Bewegungen mit den Armen und Lilið war recht sicher, dass er sie irgendwie auf Abstand hielt, sie daran hinderte, sich zu bewegen. Die Wachen strauchelten und teils wurden sie weggedrückt, wie von einer unsichtbaren Kraft über den Boden geschoben. Heelem war mächtig, wenn er gegen sie ankam, aber hatte es eben auch mit gut ausgebildeten Wachen zu tun und hatte damit gerechnet, dass sie sie mit Feuer zurückhalten könnte.

Lajana stand still und voller Angst so dicht bei ihnen, dass sie sie berührten. Heelem wurde von irgendeiner Wucht zurückgedrängt, sodass sein halber Rücken gegen Liliðs stieß.

Lilið fing die Wucht mit einem Ausfallschritt ab und hinderte Lajana am Fallen. Sie selbst hatte noch keine Welle eines Angriffs erwischt und sie wusste nicht, warum sie noch lebte. Schützte Heelem sie alle? Schützte Lajanas Anwesenheit, weil sie nicht sterben durfte? Führten die Wachen daher nichts allzu Gefährliches aus?

“Was machen wir jetzt?”, raunte Heelem ihr zu.

“Konntest du nicht Herzen stehen lassen?”, raunte Lilið zurück. “Zum außer Gefecht setzen?” Das musste doch sogar gehen, ohne zu töten.

“Deins vielleicht, weil du dich nicht wehren kannst.” Heelems Körper schlug abermals gegen ihren.

Wie freundlich, dachte Lilið. “Du kannst der Sakrale nichts anhaben, weil sie Magie abweist? Anders als die Tür?”, riet sie.

“Exakt.”, antwortete Heelem. “Ich kann höchstens eine Staubwolke aus Teilmaterie erzeugen. Für ein paar Minuten Tarnung. Einmallig, denn so viel loser Staub ist nicht im Material. Wenn du eine Idee hast, was du damit machst, mache ich das.”

“In Ordnung! Mach das!” Hoffentlich war das die richtige Entscheidung. Sie griff Lajana am Arm, vermutlich nicht wenig schmerzhaft, und zog sie in eine Umarmung. “Lajana, ich werde dich in eine Ratte falten und dich in Heelems Tasche stecken, ja?”, flüsterte sie in ihr Ohr. Nicht einmal Heelem würde sie hören können.

Sie nahm das Weinen in Lajanas Stimme wahr, als diese antwortete: “Ich will nicht, dass dir was passiert!”

Was sollte sie antworten? Es war fast unmöglich, dass ihr nichts passierte. “Ich werde mir Mühe geben. Ich würde dich ungern falten, ohne dass du es mir erlaubst.”

Sie fühlte den feinen Sandstaub auf der Haut, der aufwirbelte, als Heelem die Sakrale zum Erzittern brachte. So wenig Zeit.

“Faltest du dich mit?”, fragte Lajana.

Lilið hatte darüber nachgedacht. Aber wenn Heelem jetzt gerade nicht im Stande war, mit ihnen zusammen zu fliehen, dann brauchte es ein Ablenkungsmanöver. Und dazu konnte Lilið nicht auch Teil der Ratte sein. “Ich versuche, nachzukommen.”, flüsterte sie. “Darf ich? Es eilt.”

“Ja.”, war die zaghafte Antwort.

Lilið hasste, dass sie Lajana dazu emotional unter Druck gesetzt hatte. Aber wie könnte sie auch im Kampf ethisch korrekt agieren?

Sie faltete Lajana, liebevoll, in der Umarmung, in der sie noch verweilten. Sie hatte Lajana vermisst. Sie liebte ihre Königin. Die einzige, die sie je akzeptieren würde. Die einzige, für die sie je eine Monarchie verzeihen würde. Selbst wenn Marusch an Stelle von Lajana wäre, sie würde sie nicht als Königin wollen. Nur Lajana.

Sie steckte Lajana, nun in Rattenform, von hinten in eine Innentasche von Heelems Sakralutte. Sie war erstaunlich leicht, vielleicht sogar leichter, als Ratten normalerweise waren. “Ich stecke dir Lajana in die Tasche.”, flüsterte sie ihm zu. “Nicht erschrecken, wenn du mich siehst. Ich hoffe, das alles bringt genug Chaos, dass ihr wegkommt. Ich hoffe, ich bin lange genug sicher, dass ich euch folgen kann.” Dann nahm sie Abstand von Heelem und ging Richtung Stuhl, auf dem Lajana gesessen hatte. “Lasst sie gehen!”, brüllte sie durch den Raum. Ihre Stimme fühlte sich anders an, aber ob sie wirklich nach Lajanas klang, da war sie sich nicht ganz sicher. Vielleicht spielte ihr in die Hände, dass Lajana wahrscheinlich nie laut gesprochen hatte, sie aber jetzt schon, die Umstehenden also auch eine nicht vertraute Stimmlage erwarten würden. “Ich ergebe mich, aber lasst sie gehen.”

Der Staub löste sich in einem Wind auf, den vermutlich eine der Wachen verursacht hatte. Heelem war in der kurzen Zeit weiter an den Rand des Raums gelangt, wo die Tür auf die Terrasse führte, als Lilið vermutet hätte. Gut so.

“Wo ist der dritte?”, schrie eine der Wachen auf Baeðisch.

Andere wiederholten es auf Alevisch, vermutete Lilið. Neben sie stellten sich zwei Wachen, packten sie an den Handgelenken und ließen sie nicht aus den Augen. Einige der Wachen suchten den Raum ab, eine verließ sogar den Raum durch die zerstörte Tür, um Lilið zu suchen. Weil ja nun eine Person fehlte, eine in einer Sakralutte. Und Lilið nicht nach der Person aussah, die fehlte.

Heelem sah sich nur noch mit zwei Wachen konfrontiert. Das war, was Lilið zu erreichen gehofft hatte. Konnte er es schaffen? Sie zitterte am ganzen Leib, was sie nun als Lajana auch durfte. Sie hoffte, dass sie das Gesicht erfolgreich Lajanas angepasst hatte. Die Faltung war nicht einfach gewesen, aber sie hatte Lajana im Arm gehabt und sie so sehr gefühlt, dass sie glaubte, alles in der Faltung übernommen zu haben, was wichtig war. Vielleicht sogar die Stimmbänder. Die Hautfarbe passte wahrscheinlich nicht, aber im verzerrenden Licht der Sakrale spielte das keine so große Rolle. Jedenfalls schienen die Wachen darauf hereinzufallen.

Der Kampf zwischen Heelem und den beiden Wachen schien ausgeglichen. Heelems Sakralutte flog um ihn herum, wenn er sich mal der einen, mal der anderen zuwandte. Es reichte nicht, dachte Lilið. Sie trat nach dem erstbesten sakralen Gegenstand, den sie mit den Füßen erreichen konnte, sodass er geräuschstark über den Boden kullerte. Sie hatte keine Ahnung, was das für ein Gegenstand war. Als Belohnung bekam sie einige Momente die volle Aufmerksamkeit. Genügend, dass Heelem nach einem letzten, entsetzten Blick auf sie, die Flucht ergreifen konnte, die Flügeltür ins Freie öffnete, und von der Terrasse sprang. Gut zwölf Meter in die Tiefe, schätzte Lilið. Unangenehm, aber überlebbar. Und ab dort? Die Türen fielen wieder zu, bevor Lilið ein Platschen hätte hören können. Würde er es schaffen? Und wie lange würde es brauchen, bis aufflog dass sie nicht Lajana war.