Nora Bendzko - Die Götter müssen sterben

"Die Götter müssen sterben" von Nora Bendzko ist ein gewaltiger Dark-Fantasy-Roman über Amazonen und griechische Mythologie. Zentrale Bestandteile sind ein vielfältiges Charakter-Setup, Zwischenmenschliches/-göttliches und eine kämpferische, promiske Kultur mit göttlichem Erbe. Damit gehören ausschweifende Gore- und Erotik-Szenen, sowie individuelle und chaotische Magie dazu. (Homepage, Twitter).

Wirklich bewundert habe ich an diesem Buch, wie auf nur relativ wenigen Seiten viele Charaktere individuell eingeführt wurden, sodass ich sie am Charakter unterscheiden konnte und nicht überfordert war. Das gibt der Atmosphäre im Werk schon früh den Charakter einer sich real vollständig anfühlenden Umgebung in einer Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die darüber hinaus weder klassisches Patriarchat ist, noch einer ideal-gedachten Gemeinschaft nahekommt, was sich auch nach verhältnismäßig kurzer Zeit vertraut und natürlich anfühlt, abgesehen von ein paar Elementen, auf die ich später eingehe. Kampf und Gewalt, Promiskuität und Polyamorie ist Teil der Kultur. Das zeigt sich darin, dass Wettbewerbe mit teils starken Verletzungen und Narben zu traditionellen Festen gehören, und dass sexuelle Interaktion außerhalb von Paarbeziehungen von einigen frei ausgelebt wird. Einzig einen zentralen Randcharakter nervt, wie sexuelle Anziehung als normal vorausgesetzt wird und die Omnipräsenz des Themas Sex. Während ich den Kampfteil in einer Kultur nicht so begrüßen würde, finde ich abgesehen von jenem Normativitäts-Aspekt allerdings die gelebte Promiskuität eine gelungene Perspektive auf eine Welt, auf die ich mir wünschen würde, mehr zuzusteuern.

Die Geschichte ist aus der Sicht dreier Amazonen und zeitweise der Göttin Artemis erzählt, die verschiedene, aber sich überschneidende Umfelder haben. Es geht um Krieg und Blutdurst, oder auch Kampf gegen Blutdurst, um die Bewältigung ihrer Vergangenheiten, oder mit sich selber, um das Regieren eines der Amazonenvölker bei einer der drei Frauen, und eine romantische, sexuelle Beziehung zwischen den anderen beiden. Auf ihrem Weg mit ihrem Heer kämpfen sie teils mit göttlichen Artefakten gegen Göttliche und Halbgöttliche, mit jenen Zusammenarbeitende oder von jenen Unterworfene. Dabei kommt es zu schauerlichen Erscheinungen (ich denke, "schauerlich" ist hier das richtige Wort, ich habe da weniger Bindung zu) und übler Gewalt. Die Handlung spielt meist an irdischen Orten, aber auch der Olymp und die Unterwelt kommen vor. Große Teile des Inhalts gehen aber auch nicht um jene Gewalt. Es kommen sich Personen näher, werden aufgefangen, es geht um ihre psychischen Probleme, um Halt, um Eltern-sein, Kind-sein, geliebt werden und lieben.

Ein Buch über Amazonen kommt wahrscheinlich kaum aus, ohne feministische Ideen zu thematisieren. Geschlecht, Queerness, Genitalien und Körper spielen außerdem eine sehr zentrale Rolle im Roman. Allein diese Präsenz von Geschlechtsbezügen überall im Text führt vermutlich auch bei anderen als nur bei mir zu verletzten Gefühlen, wenn Problematiken in Narrativen nicht gut gelöst sind (einiges ist gut gelöst). Ich möchte dieses Werk am liebsten nicht so sehr dafür kritisieren, weil dieselben Biologismen, Narrative, dieselbe oder sogar mehr Transfeindlichkeit und Binarität sich in den meisten Büchern findet, nur unsichtbarer, weil sie nicht so sehr thematisiert werden. Und gleichzeitig ist es mir wichtig, dies zu tun, eben weil durch Bücher wie dieses eine Grundlage geschaffen werden kann, wie zum Beispiel Repräsentation nicht-binärer Charaktere (es kommt einer vor, ein weiterer sehr am Rande) umgesetzt werden kann, was sensibel ist, und was eher verletzt. Wir werden lange an dem Thema arbeiten müssen, queere Menschen werden sich auch erst mit zunehmender Akzeptanz selbst finden und lernen, sich zugestehen zu dürfen, zu sein.

Für die Rezension beschränke ich mich auf den einen Aspekt, der mich am meisten ankratzt: Das unkritisierte Verwenden des Femininums oder teils sogar des Begriffs "Frauen", in das nicht-binäre Personen einfach mit eingeschlossen wurden, oder auch die binäre Aufteilung in Frauen + nicht-binäre Personen versus Männer. Das ist vor allem deshalb schmerzhaft, weil generisches Femininum und entsprechende Begriffe von vielen Menschen als Feminismus und gute Ideen gefeiert werden, während es ein zentraler Struggle vieler nicht-binärer Personen ist, dass sie irgendwie immer in die Ecke Frau gestellt werden. Es ist außerdem eher random, Männer grundsätzlich zu gatekeepen, aber alle nicht-binäre Personen nicht. Auch das gehört zu dem, was viele aktivistische nicht-binäre Personen nicht müde werden stets zu wiederholen. Der Plot im Roman muss es aus meiner Sicht nicht ideal handhaben, aber es unkritisiert zu lassen, während das Problem real und groß ist, dass viele binäre cis Personen uns dies versuchen, immer wieder als etwas Gutes überzustülpen, hat mich doch verletzt. Einen sympathischen, nicht-binären Charakter mit Neopronomen zu lesen, dessen Akzeptanz in der Gemeinschaft immer wieder mindestens indirekt betont wird, war wirklich schön, wirkt aber zusammen mit der ständigen Binarität im Text unstimmig. Weitere kritische Aspekte bezüglich dieser Repräsentation und bezüglich Sanism werde ich in den Content Notes zur Geschichte weiter beleuchten, die am Ende verlinkt sind, weil ich denke, dass sie als solche auch gut helfen können, beim Lesen einen kritischen Blick darauf zu haben und zu hinterfragen, oder für zum Beispiel nicht-binäre, inter, trans oder agender Personen eine Hilfe sein kann, sich auf das Buch sinnvoll einzustellen.

Ich habe dieses Buch in vier Tagen gelesen, während ich nicht viel anderes getan habe. Es war an vielen Stellen sehr spannend und hatte einen wundervollen Sog, wieder einmal in einer anderen Welt zu leben, die trotz all der Gewalt und besagter Kritik empowernt war.

Link zu Content Notes zur Geschichte

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