Brolidarität
Content Notes: Tone Policing, WhatAboutism, Gaslighting, diese Dinge
Definition
Ursprung
Den Begriff Brolidarität hat @EinfachFreddy erfunden. Es ist ein Begriff in der Entstehung, den verschiedene Personen jeweils etwas verschieden einordnen würden, wie das mit vielen neuen Begriffen für gesellschaftliche Phänomene der Fall ist: Wie sollen diese abgegrenzt werden, was gehört dazu und was nicht? Im Folgenden nenne ich meine persönliche Einordnung, die ich mit ein paar weiteren marginalisierten Personen teile. Wenn ihr ähnliches erlebt, seid ihr eingeladen, euch eure eigenen Gedanken dazu zu machen, wie ihr ihn auslegt.
Abstrakte Definition
Brolidarität beschreibt den Impuls und die Einstellung, Menschen zu Hilfe zu eilen und sie zu verteidigen, die dafür kritisiert worden sind, diskriminiert zu haben. Kritik, die sich auf die eigenen verinnerlichten -ismen (Diskriminierungsmuster) bezieht, trifft viele Menschen hart. Vor allem Menschen, die wenig Diskriminierung ausgesetzt sind, finden sich dann in anderen Kritisierten eher wieder, als im Schmerz der marginalisierten Person, die das verletzende Erlebnis schildert. Sie informieren die Person darüber, dass die diskriminierende Handlung nicht böse gemeint gewesen war, keine Absicht war, welche verinnerlichten Muster dahinterstecken könnten und dass es ihnen auch passiert sein könnte.
Auslegungen
Im Englischen gibt es mit dem Neologismus Himpathy einen Begriff mit ähnlicher Bedeutung. Mit der Anspielung auf das Pronomen "he/him" bekommt es einen spezifischen Bezug auf das oben beschriebene Phänomen ausgehend von dya cis Männern, die zum Beispiel einem für Sexismus oder Transfeindlichkeit kritisierten anderen (meist dya cis) Mann enthusiastisch zur Seite springen, mit der Argumentation, dass jener doch ganz toll wäre, niemals Böses im Sinn hätte, ihm mit der Kritik Unrecht getan würde.
Ich persönlich mag den Begriff lieber allgemeiner, weil ich finde, dass es im Rahmen der Solidarisierung unter maginalisierten Gruppen ein andernfalls verschenkter Begriff wäre, der ein verallgemeinerbares Diskriminierungsmuster auffasst, das noch dazu eines derjenigen ist, die denn Alltag vieler mit am meisten negativ beeinflussen.
Entsprechend finde ich den Begriff Brolidarität also besser, als den Begriff Himpathy, würde mir eher brolidarity auf Englisch wünschen. Auch weil bei den Pronomen "he/him" für viele queere Menschen wichtig ist, dass sie eine möglichst neutrale, nicht abwertenden Bedeutung behalten.
Der Begriff Bro kann unabhängig vom Geschlechtskontext eine bestimmte Stimmung suggerieren, aber für manche und in vielen Kontexten hat er auch eine toxisch männliche Konnotation. Freddy fasst mit dem Hintergrund den Begriff Brolidarität enger, ich fasse ihn weiter. Wir sprachen darüber und finden beide valide, dass sich verschiedene Konzeptionen des Begriffs entwickeln dürfen. In diesem Artikel geht es also um eine bestimmte Auslegung des Begriffs, über die sich nicht alle einig sind, aber der Kern ist in jedem Fall ähnlich.
Zweck, wem dient der Begriff?
Es ist ein Begriff wie Tone Policing, WhatAboutism, Derailing, Gaslighting, ähnliche (die ich erkläre, sobald sie im Text vorkommen), die vor allem marginalisierten Menschen helfen, bestimmtes Verhalten im Rahmen ihrer Diskriminierungserfahrungen zu benennen und damit besser zurechtzukommen. Ziel ist natürlich auch, dass Personen, die solche Muster an den Tag legen, diese ebenfalls mit dieser Definition wiedererkennen, hinterfragen und vermeiden können. In diesem Artikel versuche ich Anregungen zum Verständnis der Entstehungsprozesse hinter Brolidarität zu geben, und lade alle ein, zu reflektieren, oder sich des Begriffs zu bedienen, um besser klarzukommen.
Definition am Beispiel
Content Notes für das Beispiel: Misgendern
Ich teilte einst auf Twitter die Geschichte: Die Antwort, als
ich die neue Geburtsurkunde für den geänderten
Geschlechtseintrag zu "divers" beim Standesamt beantragte,
begann mit einer mich misgendernden, binären Anrede. Zweimal: Auch
die Mail mit der Rechnung. Ich erklärte auch, dass in
meiner Signatur steht, wie meine Pronomen und Anrede lauten.
Eine Person reagierte darauf und erklärte mir,
- dass es ihr egal wäre, wenn jemand sie ausversehen misgenderte,
- dass sich niemand meinen persönlichen Schmerz als trans Person mit Misgendern selbst herleiten könne,
- dass es von der Person im Standesamt zu viel verlangt wäre, darauf Acht zu geben,
- dass das sicher nicht mit Absicht passiert wäre
- und dass das am IT-System läge und die Person da nichts für könne.
Der Impuls, so zu reagieren, ist wahrscheinlich vielen bekannt, aber betrachten wir mal, was hier passiert:
- Die Person im Standesamt, die hier kritisiert wird, ist nicht weiter benannt. Sie wird höchstwahrscheinlich weder von der Kritik noch von der Verteidigung mitkriegen.
- Ich erzähle die Geschichte nicht, um einer Person einen reinzuwürgen, sondern um ein systematisches Problem anzusprechen.
- Eine fremde Person redet mir ins Gewissen, dass ich einer Person Unrecht tue, die (wahrscheinlich ausversehen oder gedankenlos) diskriminiert hat.
Randbemerkung, die immer wieder gesagt werden sollte: Diskriminierung braucht keine Absicht. Diskriminierung ist natürlich auch das, was an mutwilliger Gewalt passiert, aber Diskriminierung beschreibt ein systematisches Problem, das (fast) alle verinnerlicht haben, dass Menschen, die zu bestimmten Personengruppen gehören, gegenüber anderen benachteiligt. Es beschreibt ein Machtgefälle. Und ja, als eine Person, zu der Misgendern zum Alltag gehört, bin ich diskriminiert dadurch. Viele meinen es nicht böse, aber leben es eben aus. Sogar selbst in Berufen und in Positionen, in denen sie über Geschlechtseinträge Mailaustausch haben, und das ist bitte eine der ersten Stellen im System, die da dann massiv Fortbildungsbedarf hat.
Ich schweife ab. Das Verteidigungsverhalten von (auch unabsichtlichen) Täter_innen nennt sich Brolidarität.
Warum ist Brolidarität so schlimm für Betroffene?
Das Problem des Misstrauens, wenn einer Person etwas Schlimmes passiert ist, ist nicht auf Diskriminierung beschränkt. Natürlich ist üble Nachrede auch ein Problem. Aber dieses grundsätzliche, verletzende Misstrauen ist schon etwas, was die meisten Menschen irgendwann mal erlebt haben. Bei den meisten Menschen, die in Situationen mit Machtgefälle Gewalt erlebt haben, gehört dieses Absprechen fest zum Leben. Es wird gefragt "Und was hast du getan?". Es wird erstmal gecheckt, ob der Vorwurf oder die Kritik ungerecht sein könnte. Besonders Menschen, die Mobbing erlebt haben, wird viel zu selten einfach geglaubt. Oft wird ihnen selbst nach ausführlichem Erklären noch nicht geglaubt.
Bei Personen, die Diskriminierung ausgesetzt sind, steht dieses Abstreiten der Gewalt und vor allem das Absprechen von Verletztheit an der Tagesordnung. Das liegt unter anderem daran, dass für Personen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, die Erfahrungen kaum vorstellbar sind, zumindest nicht durch eben Mal am Rande schnell zuhören.
Es ist zum einen ein Problem, weil es sehr schwer ist, an Alltagsdiskriminierung etwas zu ändern, wenn immer, wenn diskriminierte Personen über Diskriminierungserfahrungen reden, sie zunächst in eine Täter_innen-Rolle gedrängt werden. Kritik wird als Gewalt, Angriff oder mutwilliges, unnötiges Verletzen aufgefasst. Der Kampf gegen Diskriminierung ist durch diesen Mechanismus, für den sich marginalisierte Menschen immer wieder rechtfertigen müssen, sehr gehemmt und erschwert. Zum anderen geht es aber auch nicht an uns vorbei, in diese Rolle geschoben zu werden. Für viele Gruppen marginalisierter Menschen, die sich wehren, entsteht häufig ein Narrativ oder Stereotyp einer irrational wütend angreifenden Person. Es gibt das Stereotyp der Angry Black Woman (wütenden, Schwarzen Frau), ich habe oft den Begriff wütender trans-Mob in Bezug auf mich und andere trans Menschen gelesen und auch generelle Bezeichnungen wie Löwenkäfig fallen, sobald wir mal zu mehreren Kritik üben.
Zum Schluss gibt es noch das Problem des Gaslightings. Der Begriff beschreibt eine Form psychischer Manipulation, bei der eine Person oder eine Gruppe Zweifel sät, die betroffene Personen ihre Erinnerungen, ihre Wahrnehmung oder ihre Beurteilungsfähigkeit heftig infrage stellen lassen. Diskriminierte Menschen sind es gewohnt, ihre Diskriminierungserfahrungen ständig infrage gestellt zu bekommen. Ihre Urteilsfähigkeit, ob die Person, die sie kritisieren, zu reflektieren gewillt ist oder nicht, wird abgesprochen. Teils passiert das direkt, aber im Fall von Brolidarität auch häufig indirekt. Auch, aus dem Bekanntenkreis, in denen Personen sich mit den kritisierten vergleichen und sagen, das würde mir auch passieren, und mir verzeihst du das ja auch.
All das führt dazu, dass es viel, viel komplizierter ist, Diskriminierung (oder andere Gewalt) anzusprechen, und auch eher erst passiert, wenn es nicht mehr irgendwie aushaltbar ist.
Warum sind Leute brolidarisch?
Die Schuldfrage
Ich kann über die Frage natürlich vorwiegend nur aus meiner Sicht und den Antworten, die mir darauf gegeben worden sind, sprechen. Bestimmt gibt es viele Gründe. Das soll hier keine allgemeine Aussage darüber werden, wie Psychen funktionieren, sondern lediglich zwei Mechanismen vorstellen, die ich kenne, und anregen, euch zu fragen, ob ihr die in euch wiederfindet.
Zum einen sind viele Menschen in meinem Umfeld so sozialisiert worden. Ich bin groß geworden mit Sprüchen wie "Schuld ist nie eine Person allein", was bei mir zumindest lange bewirkt hat, Streit oder Gewalt so zu betrachten. Das ist als Gesamtkonzept eklig und zerbricht schon früh, wo es eindeutig klar ist, bei Schwerverbrechen etwa. Aber der Reflex, Antworten auf diese Frage zu suchen, zerbricht nicht sofort, wenn die Lage weniger offensichtlich wirkt. Also ist die Frage nach Schuld auf beiden Seiten eine häufige, spontane Reaktion.
Die Schuldfrage bringt aber auch auf eine andere Weise ein Problem mit sich. Denn es ist tatsächlich nicht selten, dass Personen, weil sie verinnerlichte Diskriminierungsmechanismen haben, unbeabsichtigt schlimm verletzen. Es ist sehr verletzend, als erheblich weniger wert behandelt zu werden, als der privilegiertere Rest der Welt. Wenn diese Verletzung zum Ausdruck gebracht wird, dann fühlt es sich für beobachtende Personen vielleicht so an, als gäbe es also eine entsprechend große Schuld, die aufgeteilt werden muss. Der Reflex mag sein die Schuld bei der verletzenden Person zu suchen, oder sie auf die Verletzten schieben zu müssen, weil die andere Seite ja keine Absicht hatte. Die logische Schlussfolgerung aus letzterem erscheint, der betroffenen Person zu erklären, dass doch gar nichts so Schlimmes passiert wäre, und ihr die Verletztheit abzusprechen, die verletzende Person zu verteidigen.
Die Verletzung ist aber da. Sie ist richtig, sie gehört dahin. Das Verhalten gehört geändert. Das muss passieren, damit diskriminierte Menschen nicht über und über lernen müssen, dass sie nicht dazu gehören, dass sie weniger wert wären.
Eine Möglichkeit ist, die Schuld zu einem großen Anteil im System zu suchen. Das sollte aber auch nicht davon ablenken, dass die Person, die unbeabsichtigt diskriminiert hat, ihr Verhalten zu ändern lernen muss, wenn das Ziel sein soll, dass wir irgendwann gewaltfreier leben können. Und, dass zu diesem Zweck kein Weg an Kritik vorbei führt.
Bin ich auch gemeint? - Gewissen
Zum anderen finden sich brolidarische Personen in der kritisierten Person wieder. Meistens realisieren sie, auch schon einmal etwas Diskriminierendes getan zu haben. Eventuell sogar auch unbeabsichtigt. Sie fühlen sich mitkritisiert und manchmal sind sie es vielleicht sogar.
Kritik tut vielen Menschen weh. Das liegt vermutlich an der Leistungsgesellschaft, in der unsere Fehler mit unserem (wirtschaftlichen) Wert verknüpft werden, an einer großen Portion Grund-Ableismus und Grund-Sanism, die uns alle betrifft. Sanism oder Sanismus beschreibt die Abwertung von Personen für eine mentale oder kognitive Eigenschaft, die sie haben, oder die ihnen zugeschrieben wird. Im Artikel "Sanism" schreibe ich mehr darüber.
Unabhängig davon, warum Kritik den Selbstwert ankratzt oder verletzt oder andersartig schlimme Gefühle auslöst, etwa auch einfach ein Gewissen, empfinden brolidarische Personen die Gefühle der kritisierten Person nach. Der Reflex, zu sagen, das könnte mir auch passieren, ist sogar oft auch dann da, wenn das überhaupt nicht stimmt. Dazu erzähle ich im nächsten Abschnitt ein Beispiel.
Falsche Vermutung, dass es einem auch passiert wäre
Content Notes für diesen Abschnitt: Trans-, Inter- und Nicht-binär-Feindlichkeit.
Kürzlich startete ein Projekt, bei dem ausschließlich
"weibliche und diverse Autor_innen" bevorzugt oder überhaupt
vorgestellt werden sollen. (Wenn sich eine Person hier wiedererkennt: Auch
das ist systematisch und wiederholt sich in ähnlicher Weise häufig, meist
mit etwas überschaubarerer Reichweite). Darüber
hinaus steht der Ausdruck "weibliche und diverse Autor_innen" in
großen Buchstaben auf der Ladenfassade des Projekts. "Divers"
soll dabei für "nicht-binär" stehen. Hier
wurde also eine Fremdbezeichnung benutzt, die von den meisten
nicht-binären Menschen abgelehnt wird und die darüber
hinaus häufig allgemein für Diversität steht, manchmal
für Schwarze Menschen und People of Color, manchmal
nur für Frauen. Hinter dem Begriff als Geschlechtseintrag steht
eine Menge schmerzhafter, trans-, inter*- und nicht-binär-feindlicher
Politik. Manche von uns haben diesen Eintrag, aber
meistens ist es kein gewünschtes Label. Als es von nicht-binären Menschen
angesprochen und kritisiert wurde, hieß es, unter dem Begriff
"divers" könne sich aber jede Person etwas vorstellen. Deshalb unter
anderem bleibe die Projektgründerin bei der Entscheidung.
Ich finde das sehr schlimm, verletzend, entmündigend und gewaltvoll. Aber wenn ich es Leuten erzähle, ergibt sich: Die meisten selbst betroffenen Personen, oder manche, die lange im Diskurs sind, verstehen mich sofort und finden es schlimm. Die meisten Personen, die nicht betroffen sind, relativieren und sagen nicht selten, das hätte ihnen auch passieren können. Mir nahestehende Leute, die mich lange kennen, sagen das. Und es stimmt nicht. Sie reduzieren die ganze Handlung nämlich darauf, dass eine Person "divers" statt "nicht-binär" gesagt hat. Es kommt ihnen so vor, als wäre das das Problem, um das es hier ginge. Das hätten sie vor 2 Jahren vielleicht tatsächlich noch falsch gemacht. Aber das ist weit entfernt von dem Problem hier. Die schmerzhaften Hintergründe sind kein Wissen, das ich als Allgemeinwissen voraussetze.
Ich bin mit einer der Personen, die meinte, es hätte ihr auch passieren können, mal ein Beispiel durchgegangen. Ich habe das Problem übertragen darauf, dass wir mal davon ausgehen, die andere Person, nennen wir sie A, würde gern ein Projekt starten, das eine bestimmte marginalisierte Perspektive highlightet. Sagen wir, der Laden soll als Schwerpunkt jüdische Perspektiven sichtbar machen. Wir sind beide nicht jüdisch, darum geht es dabei. Ich habe A gefragt, was A vorbereitend machen würde, wenn das As Idee wäre, bevor A zur Umsetzung übergeht. Die Antwort war klar: Erst einmal ins Gespräch mit jüdischen Menschen kommen. In Schutzräumen oder Organisationen jüdischer Menschen anfragen, wie ein gutes Vorgehen wäre, und natürlich, ob das überhaupt eine gute Idee ist. Und ja, A sagte auch, bevor A irgendwas auf den Laden schreibt, würde A den Entwurf mehreren jüdischen Personen vorlegen und fragen, ob das so in ihrem Sinne ist, und ihnen das letzte Wort lassen, und auch darüber hinaus weiter offen für Kritik sein.
Ich bin mir absolut sicher, dass bei einem ähnlichen Vorgehen in diesem Fall hinsichtlich des Begriffs "divers" und in Zeiten des Internets das Ergebnis gewesen wäre, dass "divers" auf den Laden zu schreiben, keine sensible Entscheidung im Sinne nicht-binärer Personen ist. Ich lese viele Perspektiven, viele Artikel dazu, es gibt die zwei großen Standard-Wikis dazu, die sehr häufig verlinkt werden, ich war in den Safe Spaces lokaler Stützpunkte. Es ist sehr schwierig, an der Information vorbeizukommen, wenn eine entsprechende Planung, wie oben beschrieben, investiert wird.
Nein, ehrlich, ich traue es den meisten Leuten in meinem engeren Umfeld nicht zu, dass sie so etwas entmündigendes Abziehen würden. Aber es ist sehr schwer für mich, damit zu leben, dass sie brolidarisch erstmal vermuten, sie würden, und sich die Gesamtsituation nicht klar machen.
Und das wiederum liegt vielleicht daran, so zumindest klingt es in Gesprächen, dass Menschen, die nicht so sehr Diskriminierung ausgesetzt sind, sich beim besten Willen nicht vorstellen können, wie gewollt diese eigentlich ist, wie viel bodenlos ignorante, entmündigende Entscheidungen doch bewusst gefällt werden. Natürlich in dem Glauben, man täte was Gutes, mit der Versicherung, dass man gewillt wäre, zuzuhören und zu lernen, aber weil man nicht zu den Bösen gehören möchte, nicht weil das Problem ernst genommen würde. Es ist so wenig vorstellbar und so wenig vereinbar mit der eigenen Weltsicht, dass im Zweifel lieber der Person, die die Diskriminierung erlebt, ihre Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit abgesprochen wird.
Welches Verhalten wäre besser?
Ein Hinterfragen, ob Kritik gerechtfertigt ist, ist nicht grundsätzlich falsch. Aber erst einmal ist es wichtig, anzuerkennen, dass wir im Fall einer Diskriminierungsform, die wir nicht selbst erfahren, vermutlich wesentlich weniger Ahnung vom Thema oder Verständnis der Situation haben, als die diskriminierte Person. Es ist wichtig, sich nicht selbst in eine gefühlt überlegene Position zu versetzen, in der man den Eindruck hat, man stünde außen. Niemand steht außen, besonders nicht Personen, die in dieser Welt sozialisiert worden sind, und nicht durch die tägliche Gewalt, die Diskriminierung darstellt, gezwungen wurden, es zumindest teils zu dekonstruieren. Objektivität ergibt sich nicht daraus, diese Erfahrung nicht selbst zu machen. Wichtig ist, die Person vor sich für voll zu nehmen, ihr zuzutrauen, zu wissen, wovon sie redet.
Stell dir vor, du erlebst Diskriminierung und redest mit einer Person darüber. Die Person hört zu und, obwohl sie nie etwas Vergleichbares erlebt hat, es auf sie deshalb zuerst unrealistisch wirkt, glaubt sie dir, glaubt an deine Kompetenz und stellt das eigene Weltbild infrage. - tweet
Das wäre ein Traum vieler marginalisierter Menschen.
Wichtig ist auch die Frage, worum es der Person geht, die von der Diskriminierungserfahrung spricht, und was sie gerade möchte. Eine häufige Motivation hinter dem Teilen von Diskriminierungserfahrungen ist das schaffen von Awareness. Es werden oft nicht einmalige Sachen geteilt, sondern Erfahrungen, die einem Muster folgen. Lesende, wenn sie sich mit der Thematik auseinandersetzen wollen, können dann reflektieren, ob sie tatsächlich ähnliches Verhalten zeigen und lernen, es für sich zu dekonstruieren. Außerdem können sie darauf achten, wenn so etwas im Umfeld passiert, und es ansprechen. Personen, die sich immer gefragt haben, ob ein bestimmtes Verhalten eigentlich -istisch ist, dass sie oft erlebt haben, und es nicht ansprechen, weil sie nicht sicher sind, ob sie es richtig einordnen, haben nun etwas in der Hand und können sagen, doch, das trifft marginalisierte Personen durchaus.
Manchmal ist Trost erwünscht, aber nicht immer. Das ist eine komplexe Geschichte. Trost von Seiten privilegierter Menschen kommt auch häufig nicht gut an, weil sie sich nicht in die Situation reinversetzen können, oder ihnen bestimmte Urteile nicht zustehen. Wenn eine marginalisierte Person aus dem engeren Umfeld aber etwas anspricht, lässt sich vielleicht auch einfach fragen: Was brauchst du gerade?
Frust-Fazit
Dann gibt es immer noch diese Menschen, die einem erzählen, sie wären ja lösungsorientiert. Und Kritik müsse immer konstruktiv sein. Ich male hier teils ein ziemlich düsteres Weltbild. Die Idee der meisten ist, fast alle Leute wollen eigentlich, sie haben nur Schwierigkeiten. Für meine psychische Gesundheit ist es wesentlich gesünder, nicht davon auszugehen, dass Leute gesamtmehrheitlich eigentlich wollen. Wenn ich davon ausginge, dann folgte für mich daraus, dass ich mich viel länger und geduldiger mit ignoranten Menschen befassen müsste. Nicht mit Leuten, die in den Augen der meisten offensichtlich Gewalt ausüben, sondern mit Leuten, die versichern, dass sie zuhören wollen und zu den Guten gehören, die Diversität auf ihre Projekte schreiben und die dafür in Communitys spürbaren Rückhalt haben, die mir aber in jeder Entscheidung zeigen, dass ich nichts oder viel weniger wert bin.
Lösungsorientierte Menschen: Prove me wrong. Aber nicht, indem ihr die Last des Lösens des Problems weiter diskriminierten Menschen überlasst, sondern versucht es selbst.
An all die anderen (vermutlich liest kaum eine "lösungsorientierte" Person den Artikel), danke, dass ihr bis hierhin durchgehalten habt. Das beste Fazit ist vielleicht die Utopie im Zitat.