Die Schönheit der Schreibfehler

Emotional krasse Reaktionen auf Schreibfehler

Rechtschreibfehler in Büchern, zumindest wenn es zu viele sind (z. B. drei pro Seite) regen viele Lesende extrem auf. So sehr, dass sie das Buch abbrechen, oder darüber lange Posts verfassen, in denen sie ihrem Unmut Luft machen. So sehr, dass sie den Schreibenden Unverschämtheit oder Respektlosigkeit unterstellen und sich selbst sehr angegriffen fühlen.

Es fühlt sich von der emotionalen Reaktion für mich oft so an, wie wenn ich einer Person in der Öffentlichkeit zum dritten mal versehentlich auf den Fuß trete, weil ich ungeschickt bin, oder in einem Zug einfach ihren Rucksack vom Nachbarsitz nehme und mich dahinsetze, weil ich nicht mehr stehen kann. (Die Beispiele sind vielleicht provokativ formuliert.) Die Art der emotionalen Reaktion erinnert mich auch an Leute, die genderneutrale oder genderinklusive Sprache ablehnen.

Meine Perspektive ist die einer autistischen Person mit Legasthenie, die generell eher den Drang hat, für die Freiheit zu kämpfen, so sein zu dürfen, wie wir eben sind, anstatt sich anzupassen.

Es gibt zum einen auch Leute, die ähnliche Erfahrungen machen, weil sie zum Beispiel Deutsch als Zweitsprache lernen oder weil auf andere Weise andere Spracheinflüsse stattfinden. Und zum anderen gibt es Menschen mit Legasthenie, für die sich die Behinderung ganz anders darstellt und nichts mit Identität zu tun hat. Meine Faszination in Hinblick auf Schreibfehler betrifft jedenfalls nicht nur Legasthenie, sondern eine Bandbreite an möglichen Hintergründen.

Meine Schwierigkeiten

Ich habe Legasthenie. Legasthenie ist ein Spektrum, sodass das in meinem Fall nicht heißt, dass ich große Probleme habe, einen Text halbwegs fehlerfrei zu schreiben. (Auch wenn sich gewisse Fehler oder Fehlertypen immer wieder einschleichen.) Ich habe zu Schulzeiten sehr doll geübt, auch außerhalb des Unterrichts, und auch das ist etwas, was Legathenie für manche halbwegs ausgleichen kann, und für andere nicht tut.

Meine Schwierigkeiten sind:

  • Ich kann wirklich langsam und schlecht lesen. Meine Lesegeschwindigkeit liegt etwas unterhalb normaler Vorlesegeschwindigkeit, an guten Tagen. Ich verrutsche ständig in den Zeilen, vor allem bei Zeilenwechsel. Buchstaben flirren und sind schwer zu erkennen. Mir helfen teils Legasthenie-freundliche Schriften wie Comic Sans, gut strukturierte Texte mit Absätzen, sowie geringer Kontrast, insgesamt dunkles Theme. Dann flirrt es nicht so und tut nicht so weh. Das Problem lässt sich nicht mit einer besseren Brille beheben. Ich nutze stattdessen häufig Screenreader/Text-to-Speech.
  • Wenn ich schreibe, läuft bei mir die ganze Zeit ein Wachheitsmodul für Rechtschreibung mit und korrigiert zügig Wörter. Das ist, was ich mir in der Schule antrainiert habe und was halbwegs funktioniert. Aber es frisst ziemliche Mengen an Energie.
  • Ich schreibe Worte oft phonetisch passend, aber nicht richtig, vor allem, wenn ich müde bin und dieses oben beschriebene Wachheitsmodul irgendwie ausfällt. Zum Beispiel “vollgen”, weil “voll” genauso klingt wie das “fol” in “folgen”.
  • Ich kann ein neues Wort, das ich zum ersten Mal höre, nicht sofort aufschreiben, nichtmal aussprechen. Es muss mir langsam ausgesprochen oder buchstabiert werden.
  • Ich schreibe betonte Worte reflexartig groß, weil es in meinem Kopf mehr Sinn ergibt, als (nur) Substantive groß zu schreiben. Ich habe mir das nicht ausgedacht, es passiert einfach.
  • Als ich schreiben gelernt habe, war ich sehr überrascht, dass es “Apfel” und nicht “Atfel” ist. Solche Dinge passieren mir auch viel.

Ansprüche

Ich denke, es ist gut möglich, dass ich mich deshalb so sehr zum Üben gezwungen habe, weil mir Leute ansonsten so viele schlimme Dinge unterstellt haben und weil ich andere nicht verletzen oder stören wollte.

Der Anspruch ist so allumfassend in dieser Welt. Auf Rechtschreibfähigkeiten oder die Fähigkeiten, das irgendwo ausgeglichen zu bekommen (z.B. durch Leute, die das dann korrigieren, Rechtschreibprogramme, …) basiert, ob man einen Job kriegt. Weil die Bewerbung Rechtschreibfehler frei sein müsse. Und ich fände schön, wenn Leute an der Stelle nicht gleich auf die Barrikaden springen und sagen, wofür das wichtig ist (z. B. wenn zum Beruf gehört, Texte zu schreiben), sondern einen Schritt zurück gehen und sich fragen, wofür es wirklich wichtig ist. Vor allem, wenn wir das Update in der Gesellschaft schon gemacht hätten, dass Rechtschreibfehler nicht mehr unsinnig abgewertet werden.

Aber ist der Anspruch insgesamt schlecht? Oder teilweise eigentlich doch sehr verständlich?

Und dazu müsste ich kurz ein wenig ausholen:

Rechtschreibfehler sind beim Lesen eine Barriere. Abhängig davon, wie sehr sie Wörter verändern oder wie sehr sie auffallen oder wie sehr sie verwirren oder sonst etwas. Ich verstehe also (u.a. sogar als Person, die eh Schwierigkeiten mit dem Lesen hat) sehr gut, wenn da ein Wunsch bis Anspruch besteht, dass Texte einigermaßen rechtschreibfehlerfrei sein sollten, im Sinne der Barrierearmut.

Rechtschreibfehlerfrei schreiben müssen ist aber auch wiederum für viele eine Barriere. Es besteht hier also ein Barrieren-Clash. Und der ist ziemlich interessant! Oft wünschte ich, der Fokus in Diskussionen wäre mehr darauf und würde beide Seiten sehen, statt dass er sehr doll auf der emotionalen Ebene stattfindet, die passiert, weil Leute sich gestört fühlen, einfach weil Regeln gebrochen werden.

Stolpern, weil etwas nicht der Regel entspricht

Generell würde ich das Stolpern über Rechtschreibfehler in zwei Kategorien teilen:

  1. Stolpern, einfach nur weil es nicht der Rechtschreibregel entspricht.
  2. Stolpern, weil das Wort so entfremdet ist, dass kurz der Sinn abhanden kommt oder ähnliches.

Und natürlich gibt es dazwischen irgendeine Art Grauzone. Aber als erstes möchte ich über den Extremfall reden, dass etwas eigentlich nicht zum Stolpern führen würde, wäre die Regel (noch) eine andere.

Zum Beispiel wurde “Fluss” mal “Fluß” geschrieben. Und darüber sind Leute früher nicht gestolpert, aber heute tun sie es, weil es ja anders gehört.

Dieses Stolpern ist also konditioniert. Wir konditionieren Menschen in unserer Gesellschaft dazu, über etwas zu stolpern, und weil wir das gemacht haben, denken diese Menschen, anderen Menschen Wutgefühle entgegenbringen zu dürfen, als hätten jene verletzt oder sonstwas verbrochen, wenn sie das nicht richtig machen. Sie schieben die volle Verantwortung für das Stolpern auf Basis ihrer Konditionierung auf die Person, die sich nicht an eine Regel hält, die so abstrakt ist wie Spielregeln in einem Gesellschaftsspiel.

Das geht in meinen Kopf einfach nicht rein, muss ich zugeben. Für mich fühlt sich das nach gesellschaftlicher Zwangsstörung an, unter der besonders Menschen mit Legasthenie leiden.

Lösungsansätze wären:

  • Generell mehr Variabilität in Regeln! Mehrere Schreibweisen “rechtlich” zulassen. (Eigentlich sind Rechtschreibfehler nicht gesetzlich verboten, aber die Gesellschaft tut so.) Denn in dem Augenblick, indem es “Fantasie” oder “Phantasie” geschrieben werden darf, haben Leute zwar immer noch ihre Lieblingsschreibweise, aber ich zumindest nehme wahr, dass mehr Leute eher in der “Kopfschüttel”-Emotion sind, und nicht mehr in der verurteilenden.
  • Als Gesellschaft mehr lernen, dass die Rechtschreibregeln Empfehlungen dafür sind, dass möglichst weniger barrierig geschrieben wird, aber dass wir Spielraum sehr okay finden und mancher Spielraum auch einfach üblich sein darf. Zum Beispiel der Spielraum, neue Rechtschreibung nicht mitzubekommen, oder Spielraum für Legasthenie-typische Fehler, oder Spielraum abhängig von der Zielgruppe. Sprich, ein Notfallplan sollte schreibfehlerfrei sein, ein Fantastik-Buch dagegen darf mit Sprache spielen und auch sonst dürfen Belletristik-Bücher den eigenen Flavor von Schreibung so widerspiegeln, wie es auch eine etwas eigene Sprache verwendet. Oder weiteres. (Das sind nur sehr spontane Vorschläge, die sind nicht tief durchdacht.)

Stolpern, weil das Wort so entfremdet ist, dass der Sinn abhanden kommt oder ähnliches

Wenn das Stolpern aber nicht durch diese Konditionierung passiert, sondern zum Beispiel, weil das Wort kaum wiederzuerkennen ist, oder weil ein ganz anderes Wort dort steht (zum Beispiel wegen Wortfindungsstörung (Stortwindungsförung)) oder weil mehr Wörter im Satz stehen, als da hingehören, dann ist das aus meiner Sicht etwas sehr anderes. Ich finde auch in diesem Fall nicht so fair, wütend und anklagend zu werden. Und ich finde es auch hier sehr, sehr unangemessen, den Schreibenden irgendwas zu unterstellen, wie Respektlosigkeit (so oft erlebt! Just, was?!).

Aber viele Texte sollten möglichst zugänglich sein, und da ist es wichtig, dass sie entsprechend gut lesbar für möglichst alle sind, ohne Stolpern. (Warum ich hier “viele” und nicht “alle” Texte schreibe, erkläre ich gleich.)

In diesen Fällen, denke ich, sind individuelle Fallbetrachtungen sinnvoll, um dem Problem entgegen zu wirken:

Sollte eine Person, die beruflich programmieren möchte, das nur dürfen, wenn sie auch eine rechtschreibfehlerfreie Bewerbung hinbekommt?

Finde ich nicht. Auch wenn im Rahmen der Arbeit Artikel geschrieben werden. Artikel sind eh häufig Team Work, da kann sich zusammengetan werden. In meiner idealen Welt stelle ich mir vor, dass die Rechtschreibfehler in einem Bewerbungsgespräch sachlich angesprochen werden und abgesprochen wird, wie im Falle von Text-Veröffentlichung im Sinne der Barrierearmut gemeinsam vorgegangen wird.

Sollte eine Person, die Korrektorat anbietet, immer überwiegend fehlerfreie Texte schreiben können? Sollte eine Person mit Legasthenie von dem Beruf absehen?

Wie ich oben schrieb, fällt Legasthenie sehr verschieden aus. Legasthenie kann zum Beispiel gerade Ursache dafür sein, dass die Person, die überhaupt kein Gefühl für Rechtschreibung hat, aber so viel auswendig gelernt hat und sehr gut darin ist, sich von nichts ablenken zu lassen, dass sie dadurch sehr geeignet ist. Aber wenn sie müde ist, Texte voller Schreibfehler schreibt. Möglich. Es ist auch möglich, dass die Person das nicht lernen kann.

Die Schönheit der Schreibfehler

Zurück zu der Frage, warum ich nicht sage, jeder Text sollte im Sinne der barrierearmut möglichst schreibfehlerfrei sein: Einen Grund habe ich schon genannt, nämlich, dass schreibfehlerfrei zu schreiben für viele auch eine Barriere ist und dieser Barriere-Clash eben fair ausgehandelt werden müsste.

Aber hier gehe ich noch einen Schritt weiter: Fehler sind schön! Als autistische Person mit Legasthenie drücken manche Schreibfehler für mich eine Lebensrealität aus, die sich für mich durch den Anspruch an Fehlerfreiheit abgeschnitten anfühlt. Dass ich statt “Apfel” “Atfel” geschrieben hätte, fühlt sich für mich eigen und nach mir an. “Atfel” ist schön! Ich finde an Schreibfehlern sehr interessant, zu fragen: Woher kommen sie? Warum passieren sie? Welche Muster haben sie? Was macht diese Fehler aus? Wie fühlen sie sich an? Was können wir daraus machen? Wozu inspirieren sie?

Das ist mein Leben, und das will ich mir nicht wegnehmen lassen. Das ist genauso wie mit vielen anderen Marginalisierungen auch! Sie machen etwas an der Identität aus, wo ständig der Anspruch besteht, dass es doch versteckt, oder wenn gezeigt, dann wenigstens dazuerklärt würde. Aber das ist alles beengend.

Ich möchte in meinen Büchern mit Worten spielen und auch mit meinen Schreibweisen atmen dürfen. Ich finde “überweltigen” mit “e” statt “ä” einen wunderschönen Fehler, der auch etwas Starkes ausdrückt, nämlich, dass die Welt mich oft einfach überrollt. Ich finde “vollgen” total interessant und logisch. Und kürzlich sah ich das Wort “foahea” bei einer anderen Person und habe mich einfach so gesehen gefühlt! (Es ist, wie “vorher” gesprochen wird).

(Entsprechend wünsche ich mir nebenbei gesagt, dass Ausschreibungen den Anspruch an korrekte Rechtschreibung nach den aktuellen Regeln entweder streichen, oder nicht im selben Atemzug aufführen, dass sie gern offen für all die Diversität sein wollen.)

Diese Freude, die möchte ich mir gern nicht nehmen lassen, zumindest in bestimmten Bereichen, die ich gestalten kann, selbst wenn es den Zugang für andere schwieriger macht. Ich verstehe, wenn das dann für manche Leute eben nicht machbar ist, zu lesen, aber ich würde mir schon wünschen, dass es mit weniger Wut und weniger aus Prinzip passiert. Und ich würde mir wünschen, dass Leute auch sehen, dass Legasthenie oder Schreibfehler oder andere Wortschreibweisen ein Teil von Identität sein können.

Tröt