Vorhaben

CN: Schlafmangel, Sanism, Verwendung des Wortes dumm, erwähnt: Blut, Gewalt.

Natürlich konnte Lilið auch im zweiten für den Schlaf vorgesehenen Zeitfenster lange nicht schlafen. Nicht tief zumindest. Zuerst fühlte sich ihr Körper in das Kennenlernen einer neuen Person hinein. Einer, für die sie sofort eine starke Sympathie entwickelt hatte. Sie hatte von der Prinzessin, – der Königin –, bisher nur aus Tratsch und aus der Zeitung mitbekommen. Vielleicht waren auch besonders ungünstige Stellen ihrer wenigen Reden zitiert worden. Vielleicht war sie in den Zeitungen absichtlich unbeliebt gemacht worden. Möglich wäre das. Aber Lilið hielt auch für möglich, dass Lajana kein gutes Auftreten vor Leuten hatte. Oder dass Lajana vor allem auf Lilið einen guten Eindruck machte, während sie einen schlechten auf Leuten machen würde, die sie in die Muster einer Politik zu sortieren versuchten, in die sie eben nicht hineinpasste. Sie machte auf Lilið einen recht souveränen Eindruck, aber es war eine Souveränität, die nichts mit der scheinbaren Unangreifbarkeit anderer Regierender zu tun hatte, die niemals über sich sagen würden, dass sie vielleicht zu etwas nicht in der Lage wären. Lajanas Souveränität hing auch nicht mit Fachbegriffen oder einem Verständnis irgendeiner vielleicht sogar albernen politischen Struktur zusammen. Sie war mehr dadurch gegeben, dass sie ein Gefühl dafür hatte, was richtig und wichtig war, und sich darin nicht verunsichern ließ.

Lajana verstand Dinge. Lilið hatte vor dieser Begegnung vermutet, dass diese Königin überhaupt kein Verständnis von Politik hätte, keinen Plan haben würde, was sie da täte, und ihre Politik dann eben von Willkür geprägt wäre, wie es die Überzeugung des größten Teils der Bevölkerung war. Lajana hatte aber durchaus ein Gefühl dafür, wo sie eigentlich stand, was in der Welt lief und dass sie sich da einen Brocken vorgenommen hatte.

Lilið spürte, wie ihr die Tränen kamen, weil sie sich so sehr wünschte, dass diese Frau den Inselkomplex, zu dem Lilið gehörte, regieren möge. Und weil sie wusste, wie unmöglich diese Idee wäre. Trotzdem. Es war nur diese eine Begegnung notwendig dafür, dass Lajana Liliðs volle Unterstützung hatte, wie aussichtslos es auch sein mochte.

Lilið wollte außerdem eigentlich unbedingt wissen, was es mit diesem Igeldings der Prinzessin auf sich hatte. Dem Igeldings der Königin. Warum fiel es ihr so schwer, das Wort Prinzessin loszuwerden? Eigentlich fand sie, dass die Bezeichnung sogar irgendwie ungünstig verniedlichte. Lajana war sicherlich älter als Lilið, vermutlich so um sieben Jahre.

Lilið hatte gerade ausreichend erfolgreich aufgehört, über Verniedlichungen und über das Igeldings nachzudenken, um schlafen zu können, als ihr in den Sinn kam, dass ein Plan notwendig war. Wenn sie Lajana befreien wollte, dann sollte sie sich mit dem Vorhaben Rettung dringend auseinandersetzen. Sie hatte bereits einen weiteren Tag einfach getan, was der Kapitän von ihr wollte. Es wurde Zeit, sich etwas Realisierbares zu überlegen.

Wie sollte sie vorgehen? Es fiel ihr sehr schwer, sich darauf zu fokussieren. Aber es musste sein. Also sortierte sie das, was ihr schon klar war: Sie würde es nicht schaffen, die Kagutte zurück nach Nederoge zu segeln und auch nicht zurück in den Bereich, den sie mit Marusch vereinbart hatte. Das Schiff war abgefahren. Sie hätte sie dort halten können, wären sie jetzt noch dort gewesen, aber nun wäre auffällig, wenn die ganze Fahrt über die Sonne von der falschen Seite schiene. Klar, es gab auf komplexen Routen oft auch mal Abschnitte, wo sie entgegen der eigentlich anvisierten Himmelsrichtung fahren müssten, um eine Strömung, die über den Tag an einer bestimmten Stelle ein Hindernis bilden würde, zu umfahren, oder um in einen Strom zu segeln, der sie dann mit stark beschleunigter Geschwindigkeit zwischen Inseln hindurch antrieb, die sonst in ihrem Weg landen würden. Aber zum einen wären solch komplexe Abschnitte eher charakteristisch für den Bereich gewesen, den sie mit Marusch vereinbart hatte, den sie also nun hinter sich gelassen hatten, und zum anderen wäre es auch dort nicht über mehr als einen Tag passiert, dass sie in die falsche Himmelsrichtung hätten segeln müssen.

Noch waren sie vor der Grenze zum Königreich Sper, aber sie waren auch höchstens noch fünf Tagesreisen entfernt. Es wäre also eher eine hilfreiche Strategie, wenn sie in der Nähe einer der letzten Inseln mit Zivilisation vor der Grenze vorbeinavigieren würde, dicht genug dafür, dass sie irgendwie mit Lajana von Bord kommen könnte, um dort dann ein Schiff zurück Richtung Nederoge zu finden. Oder eine Jolle zu stehlen, denn als blutiger Master M käme sie vielleicht anders nicht weit. Aber vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, Lajana einer Reisekagutte oder -fragette nach Nederoge zu übergeben, ohne dass Lilið mit an Bord bliebe.

Das war alles sehr unsicher. Auch Lajana, unbeliebt wie sie war, wäre auf einer einfachen Reisekagutte oder -fregatte sehr gefährdet. Vielleicht sogar mehr als hier. Hier war sie in einem Hinterhalt und würde als Geisel benutzt werden, um politische Entscheidungen zu erzwingen. Unter anderem die Entscheidung, dass sie als Königin keine Macht über irgendeine Insel haben könnte oder gar nicht erst Königin werden würde. Offiziell nicht.

König Sper würde sie nicht töten, dazu hatte sie lebendig viel zu viel Nutzen für ihn. Wenn die falschen Leute aus der Bevölkerung des Königreichs Stern herausfinden würden, dass Lajana mit ihnen gerade ungeschützt an Bord wäre, würde Lilið für wahrscheinlich halten, dass deren Gewalt schlimmer oder gar tödlich wäre.

Ob sie als Blutiger Master M ein guter Geleitschutz wäre? Auf einer kleinen Reisekagutte würde sich die Crew vielleicht nicht zutrauen, sie eigenhändig festzunehmen, weil sie als Blutiger Master M einen recht beeindruckenden Ruf hätte. Wenn sie dann einfach behauptete, sie mochten doch bitte die Prinzessin nach Nederoge bringen und Lilið würde ihnen dafür nichts tun?

Aber selbst wenn der Plan aufginge, dass sie sie maßlos überschätzten, wäre keinesfalls ausgeschlossen, dass sie nicht eine Nachricht an die königliche Garde schicken würden oder wer auch immer den Blutigen Master M so suchte, die sie dann auf See abfangen würden, wie die Kriegskaterane es getan hatte. Wenn die gewählte kleine Kagutte von einer Kriegskaterane oder einem anderen Schiff der Garde Unterstützung bekommen würden, wäre Lajana wiederum sicher.

Lilið bemerkte, dass sie mit zu vielen Unbekannten zu planen versuchte. Sie wusste nicht, wie die königliche Garde agierte. Sie kannte ihren Ruf als Blutiger Master M dann doch nicht so genau. Sie konnte sich auch vorstellen, dass sie sicherer wäre, würde sie sich als Lilið von Lord Lurch vorstellen, als würde sie irgendein Experiment wagen, in dem sie den Ruf eines Verbrechers nutzte.

Aber die Überlegung hatte sie trotzdem auf eine Idee gebracht: Briefverkehr. Vielleicht würde ihr Drude die Abe leihen. Wenn Drude es sich nicht anders überlegt hätte.

Lilið sollte herausfinden, ob Drude bei einem Vorhaben, Lajana zu befreien, mitmachen würde. Sie traute Drude eigentlich noch nicht restlos, aber es wäre trotzdem gut, eine weitere Person mit im Boot zu haben und für den Fall, dass Drude doch nicht hinter dem Vorhaben stünde, etwas in der Hinterhand zu haben, als von vornherein allein zu planen.

Im nächsten Augenblick verwirrte Lilið, warum sie die Idee so erfreut hatte, die Abe mit einzubinden. Sie hätte nicht gewusst, an wen sie schreiben sollte. An die Königin? Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass die Königin täglich von viel zu vielen haarsträubenden Gerüchten überschüttet würde, was mit Lajana wäre. Außerdem, fiel Lilið auf, hatte Lajana ihre Mutter nicht mit aufgezählt, als es um Leute gegangen war, die sie unterstützten. Lilið hatte ihre Mutter eigentlich für eine sehr durchdachte Frau gehalten, die durchaus alles für ihre Kinder tun würde. Aber es war kein Geheimnis, dass sie Lajana nicht für regierungsfähig hielt. Bisher hatte Lilið das für richtig gehalten und sie konnte sich vorstellen, dass das auch einfach nicht realistisch war, dass Lajana regieren könnte. Dazu war die Welt nicht reif. Sie verstand also den Standpunkt von Lajanas Mutter durchaus. Aber sie stellte sich unter einem Elter, das sein Kind in allen Punkten unterstützte, eher eine Person vor, die in dem Fall wenigstens höchstpersönlich der Welt erzählte, dass sie kacke war oder sie zumindest in irgendeiner Weise kritisierte, weil diese Welt Lajana aus miesen, feindlichen Gründen nicht als Königin zu akzeptieren bereit wäre. Aus sogenannten diplomatischen Gründen tat Lajanas Mutter natürlich nichts dergleichen. Dem eigenen Volk erzählte eine pofessionelle Regierungsperson nicht, dass es sich kacke verhielt.

Lilið bemerkte, dass sie gedanklich abdriftete. Wohin also, wenn nicht an Lajanas Mutter, würde sie einen Brief schicken, um um Hilfe zu bitten? Marusch kam ihr als erstes in den Sinn, aber vielleicht lebte Marusch nicht mehr. Und selbst wenn, wo würde sich Marusch aufhalten?

Sollte Lilið ihrer eigenen Mutter schreiben? Aber was hätte diese für eine Möglichkeit, Lilið zu helfen? Sie war Köchin am Hofe von Lord Lurch. Und ihr Vater könnte zwar helfen, aber so sehr es Lilið sich auch nicht gern eingestand, sie wusste doch, dass ihr Vater ihr in diesem Punkte nicht helfen würde. Sie wusste es einfach.

Heelem.

Der Gedanke kam unvermittelt und stellte auch keine sichere Idee dar, weil Heelem ja angeblich so schwer aufzufinden wäre, wie sie in der Zentrale der Nautikae im nederoger Handelshafen erfahren hatte. Aber Heelem hatte immerhin eine Familie, von der Lilið wusste, wo diese wohnte, und die Heelem wahrscheinlich im Zweifel einen Brief weitergeben könnte.

Heelem würde vielleicht wissen, wie er Marusch finden könnte, und wenn nicht, hätte er vielleicht eine Idee, wie er helfen könnte. Er war Nautika mit beachtlichem Ruf. Lilið durchströmte ein Gefühl von Stolz und von einer Art Glückseligkeit, weil sie Teil eines wenn auch kleinen Netzwerkes von Leuten war, die aufmüpfig vor sich hinlebten und einen gewissen Ruf hatten. Menschen, die sie zudem mochte.

Wenn Drude es erlaubte, würde sie Heelem schreiben und ihm die Lage schildern. Sie würde es tun, sobald sie wüsste, auf welcher Insel sie versuchen würde, Lajana und sich von Bord zu schmuggeln. Sie würde hoffen, dass Heelem die richtigen Leute mobilisieren könnte, sodass sie dann dort auf Geleitschutz treffen würden. Wenn sie die Fahrt ein bisschen hinauszögerte und Heelem Nachrichten entweder an passende Leute versendete oder die schnellsten Schiffe nutzte, konnten sie es schaffen, dass sie sich dort träfen. Und vielleicht, wenn Marusch noch lebte und Heelem eine Ahnung hätte, wie er sie auftreiben könnte, würden sie sich dort auch wiedersehen. Aber vielleicht wäre das auch zu viel des Guten.


Matrose Ott weckte sie unbarmherzig aus tiefstem Schlaf, den sie dann doch noch irgendwie gefunden haben musste. “Ich würde dich ja am liebsten schlafen lassen, weil du so müde bist.”, raunte er. “Aber es regnet.”

Lilið versuchte ihm den Blick zuzuwenden, aber die Augen gingen nicht auf. Die Stirn zu runzeln schaffte sie aber. “Was ist am Regen das Problem?”

“Ich sehe nichts!”, antwortete Matrose Ott. “Navigieren nur anhand von Strömung, Kurs und Geschwindigkeit kann ich nicht gut.”

Das war in der Tat schwieriger, dachte Lilið. Sie versuchte, noch einmal die Augen zu öffnen, aber stand dann auf, ohne viel zu sehen, als es wieder nicht so recht klappte. Sie tastete sich zum Waschbereich vor, wo sie sich das Gesicht nässte und sich dadurch endlich nicht mehr halb in einem Traum fühlte.

Sie hätte für dieses Vorhaben eigentlich auch gleich an Deck gehen können. Es regnete in dichten Fäden, die vielleicht in einem 20° Winkel zur Vertikalen auf das Deck pladderten. Der Mantel des Nautikas war natürlich dicht. Lilið kontrollierte die Verschlüsse und hielt dabei, möglichst nicht allzu auffällig genießend, das Gesicht dem kalten Regen entgegen.

Leider musste sie dem Matrosen recht geben. Sie konnte keine Landmasse sehen, etwaige Leuchttürme waren zu klein und gingen im dichten Regen unter. Sie konnte mit keinem der Messinstrumente irgendwas anvisieren. Sie konnte auch keinen im Morgengrauen noch sichtbaren Stern anpeilen, nicht einmal irgendeinen Schein der Sonne in Form eines helleren Fleckens durch das Grau hindurch.

Sie suchte also die geloggten Daten über ihre Geschwindigkeit und über die Kompassanzeige zusammen und begab sich in den Kartenraum. Den nun tropfenden Mantel hängte sie an einen Haken neben der Tür. Drude saß wieder auf dem Tisch und wartete. Die Abe war mit ihrem Frühstück beschäftigt und beachtete niemanden. Lilið fragte sich, wie sie dieses Kunststück hinbekommen sollte, müde, wie sie war, auf eine Art zu navigieren, die sie nicht gewohnt war, während sie eigentlich ein Redebedürfnis mit Drude hatte.

Erst jetzt ging ihr auf, dass Drude in der nächtlichen Navigationsstunde gar nicht da gewesen war. Lilið hatte es am Rande wahrgenommen, aber direkt wieder vergessen, als sie die Ruhe zum Navigieren genutzt hatte.

“Du hast also mit Lajana geredet. Im best geschützten Raum auf der ganzen Kagutte.”, stellte Drude fest. “Brauchst du wieder Stille?”

Lilið starrte demm ins Gesicht. Dey hatte davon also mitbekommen. Lilið nickte. “Beides.” Es hatte keinen Sinn zu lügen.

Sie bemerkte, wie ihre Gedanken flimmerten, als sie auf die Karte blickte und kontrollierte, was Matrose Ott dieses Mal angerichtet hatte. Es war nicht so, dass die Arbeit, die er investierte, vergebene Liebesmüh gewesen wäre. Sonst hätte sie sich beschwert. Sie konnte aus seiner Veränderung der Karte und seinen Notizen Schlüsse darüber ziehen, was in der Zwischenzeit passiert war, auch wenn sie nie ganz vollständig waren und auch dieses Mal wieder eine kleine Falle für sie in den Daten enthalten war. Etwas, was er für sie offenliegend absichtlich falsch gemacht hatte, um zu sehen, ob sie es korrigierte und ihre Arbeit gut machte.

Aber dieses Mal war sein Chaos schlimm. Matrose Ott hatte nicht untertrieben, als er gesagt hatte, er habe größere Schwierigkeiten, im Regen zu navigieren. Lilið setzte, nachdem sie nicht mehr durchstieg, die gesamte Karte auf ihren Stand von vor drei Stunden zurück und versuchte sich daran, die wenigen vorhandenen Daten so in Einklang mit der Karte zu bringen, dass es Sinn ergab. Dazu musste sie teils in Verzweigungen denken, von denen sie nach und nach die meisten ausschloss, die sich irgendwann später mit etwas widersprachen. Und eigentlich war sie dafür zu müde. “Ich muss dringend mehr schlafen.”, murmelte sie. Ihr wurde schwindelig, weil sie zu atmen vergessen hatte.

“Ich organisiere das.”, versprach Drude.

Lilið blickte verwirrt auf. “Meinst du, der Kapitän gibt mir ein weiteres Zeitfenster für Schlaf, wenn du ihn darum bittest?”

Drude nickte. “Ich bin auch müde, weil ich dich bewachen soll und ich eigentlich eher acht bis neun Stunden Schlaf brauche.”, sagte dey. “Navigation läuft gut, meint er. Ich denke, wenn ich sage, dass ich zwei Stunden am Tag zusätzlich schlafen möchte und du auch ein Interesse an mehr Schlaf hättest, könnte er zustimmen, wenn wir dabei die Koje teilen. Dann kannst du halt auch keinen Unfug machen, weil ich dich automatisch im Schlaf bewachen würde. Ist dir das zu intim oder so etwas?”

Lilið schüttelte den Kopf. Ihr Kopf versuchte nicht einmal in Gedanken zu irgendwelchen Unterwürfigkeitsüberlegungen anzusetzen. “Ich bin so müde, ich würde gerade mit einem quirligen, schnarchenden Seeaal das Bett teilen und es würde mich nicht stören.”

Drude kicherte, und das nicht einmal lautlos. Vielleicht sogar ausgiebig. “Ich fasse das mal als Kompliment auf. Wobei Seeungeheuer mir lieber wäre.”

“Auch damit.”, fügte Lilið lächelnd hinzu. “Aber wie bewältige ich diese Navigationsunmöglichkeit, müde wie ich bin?”

“Bist du ihr dieses Mal nicht gewachsen?”, fragte Drude.

“Im Wachzustand wäre ich es vielleicht.”, erwiderte Lilið.

“Ich hätte zwei Ideen.”, sagte Drude. “Ich mache dich wacher, oder du erzählst mir, was du tust. Manchmal hilft es mir zumindest beim Denken, Dinge laut auszusprechen.”

“Mit was für Methoden würdest du mich wacher machen?” Lilið rieb sich durchs Gesicht. “Eigentlich stelle ich die Frage nur aus Neugierde. Ich würde letzteres versuchen.”

“Ich habe mir auch noch nicht endgültig etwas ausgedacht.”, meinte Drude. “Ich könnte dich treten oder dir sonstige Gewalt zufügen. Ich könnte dich nass machen oder dir Angst machen. Manchmal macht auch der Anblick von Blut Leute wach. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich dich verletzt hätte und du heilst gut. Ich könnte etwas laut Klirrendes auf den Boden schmeißen, aber das könnte Teile des Rests der Crew auf den Plan rufen.”

“Drastisch.”, kommentierte Lilið. “Aber bei meinem Grad von Müdigkeit vielleicht nicht unangebracht. Ich probiere trotzdem erstmal, dir alles zu erklären.”

“Mir ist übrigens egal, ob du es dabei darauf anlegst, dass ich dich verstehe, oder ob ich nur so zuhöre. Das wollte ich noch hinzufügen.”, informierte Drude und drückte den Rücken durch, wodurch dere Schultern nun der angezogenens Knie überragte.

Lilið fing an, zu erklären, was sie tat, und es half tatsächlich. Es ergab sich eine Variante zwischen denen, die Drude vorgeschlagen hatte: Drude verstand ein paar Dinge, und wenn das gerade der Fall war, legte Lilið es drauf an, Information für demm anzuknüpfen, aber ansonsten ließ sie sich nicht davon aufhalten, wenn Drude nicht mitkam. Dieses Mal ergab alles einen Sinn. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie ohne die viele Erfahrung, die sie auf der Reise mit Marusch und bei ihrer Vorbereitung darauf mit Heelem gesammelt hatte, hiermit überfordert gewesen wäre. Das erschreckte und erfreute sie gleichzeitig.

“Und nun planen wir eine Flucht?”, fragte Drude.

“Ich…” Lilið blickte demm wieder überrascht an. Diese Person schaffte sie ein bisschen. “Also, ja, ich hätte dich da gern mit an Bord. Wenn du das so vorschlägst, also gern!” Ein kleiner Teil von ihr warnte sie vor, dass es eine Falle sein könnte. Aber sie würde sich einen Alternativplan ausdenken und versuchen, wachsam zu sein. Es konnte trotzdem nicht schaden, nachzubohren. “Kannst du mir glaubhaft darlegen, dass ich dich wirklich überzeugt habe?” Es war schließlich nur dieser eine Kommentar nach Liliðs emotionaler Rede gewesen, dass dey glaubte, Lilið hätte demm, der Lilið hätte überzeugen können.

Drude zuckte mit den Schultern. “Ich bin nicht gut darin, Leute zu überzeugen.”, antwortete dey.

“Außer mit Gewalt.”, korrigierte Lilið und grinste.

Drude runzelte die Stirn. “Ich dachte immer, mit Gewalt kann ich Leute zu etwas zwingen, von dem sie dann aber meistens trotzdem nicht überzeugt sind.”

“Hm, stimmt.”, murmelte Lilið. “Ich hätte trotzdem gern irgendwie etwas mehr Information oder Gefühl von dir dazu, was dich jetzt überzeugt hat.”

Drude umschlang die Knie mit den Armen. “Ich mag Lajana.”, sagte dey leise. Plötzlich sprang die Abe zu demm auf den Tisch und schmiegte sich an, als wüsste sie, dass Drude Trost bräuchte. “Ich bin groß geworden mit so drastischen Sprüchen wie: Hört auf, Dumme berühmt zu machen. Ich erinnere mich gerade an diesen Spruch besonders, weil er in mir immer gebohrt hat, obwohl ich eigentlich von ihm überzeugt war. Kurzgefasst habe ich ihn so verstanden: Es tut zwar weh, dass manche Leute von höheren Positionen ausgeschlossen werden, aber es ist notwendig, damit der Laden funktioniert.”

Drude strich über die schwarzen Schedern unterhalb des Köpfchens der Abe, die dabei die Augen schloss und sich zustimmend gegen dere Finger drückte. Drudes Augenfarbe war fast schwarz, fiel Lilið auf. Drudes Mimik war unbewegt, aber irgendwie machte das Bild, wie dey deren eigenen Fingern beim Streicheln zusah, einen verletzlichen Eindruck auf Lilið.

“Ich habe mich sehr angestrengt, meine naturwissenschaftlichen und darunter vor allem meine magischen Fähigkeiten auszubauen und das wurde mir aus verschiedenen Gründen nicht leicht gemacht. Geschlecht und meine Unfähigkeit mit Zahlen sind nur zwei der Gründe.”, fuhr dey fort. “Ich wurde, wie ich mal sagte, auch oft für dumm gehalten. Ich habe erst in den letzten Jahren gemerkt, dass ich mir als Verteidigungsmechanismus angeeignet habe, mein Können ständig unter Beweis zu stellen, zu zeigen, dass ich besser bin als möglichst alle anderen, dass ich zu einer Elite gehöre. Dadurch bin ich überhaupt hier gelandet. Ich habe trotz meiner Schwierigkeit mit Zahlen fast die Freiheitsprivilegien eines Nautikas. Ich werde als Wache und zu allerlei weiteren Aufgaben angeheuert, weil ich Arbeiten unter Wasser verrichten kann, unbemerkt an Land oder wo anders an Bord gelangen kann und im Zweifel Schiffe versenken. Und ich habe ein Händchen für Briefdrachen.”

Bei den letzten Worten hob die Abe ihren Kopf und blickte Drude aufmerksam an. Aber Drude machte eine ablehnende oder beschwichtigende Geste, auf die die Abe ihren Körper wieder ablegte und ihren Schwanz um Drudes Fußgelenk wickelte.

“Ich bekomme manchmal mehrere Angebote parallel und kann mir das beste aussuchen.”, setzte Drude wieder an. “Das ist ein gutes Gefühl. Und ich dachte, ich hätte es mir verdient. Und nun bin ich verwirrt, ob ich das wirklich habe. Ich habe hart dafür gearbeitet, aber wäre ein System nicht schöner, in dem Leute mich einfach so mit Respekt behandelt hätten, ohne dass ich mir das erst hätte erarbeiten müssen? Und was ist mit Leuten, die das nicht erreichen können? Ich dachte lange, Leute, die das nicht erreichen können, müssten auch rücksichtslos sein, weil Rücksichtnahme eine schwierige Sache ist, die sie dann auch nicht können. Ich habe außerdem geringe Intelligenz oder geringen Skorem mit irgendwelchen Bargesprächen verbunden, die mich immer angewidert haben, wo ständig mit sehr einfachen Worten über Leute hergezogen wird, die nicht in Muster passen.” Drude holte tief Atem und strich sich durchs Haar. “Und dann habe ich Lajana kennengelernt. Natürlich habe ich mit ihr geredet. Ich war mitverantwortlich für die Entführung und wollte, dass es ihr möglichst gut geht, selbst wenn sie lästermäulig wäre, was ich eigentlich erwartet hätte. Aber stattdessen war mein Eindruck, dass die Welt mit ihr in diesem Raum, wo ich, bevor du an Bord warst, auch häufiger Zeit mit ihr verbracht habe, viel mehr Sinn ergab als die Welt da draußen, in die sie nicht passt. In die ich auch nie gepasst habe. Mir wurde bewusst, dass Lästern und Abfälligkeit nicht weniger wird, wenn Leute intelligenter sind, sondern nur anders. Perfider. Ich denke, ich musste erst rausfinden, was an meinem Weltbild nicht passt. Es war schon längst am Wanken, bevor wir uns trafen. Aber dein Puzzle-Stück hat gefehlt. Ergibt das irgendwie Sinn für dich?”

Lilið nickte. Sie weinte schon wieder fast, stellte sie fest. “Danke.”, sagte sie. “Das war sehr persönlich. Mir wird es jetzt leichter fallen, mit dir zu planen.”

“Hast du schon einen Plan?”, fragte Drude. “Falls er übrigens Lil involviert, sollten wir uns beeilen. Dey wird heute Abend mit Nachricht an König Sper ausgestattet abgeschickt. Ich kann demm auf dem Weg noch einen zweiten Brief mitgeben. Das fällt dann verhältnismäßig wenig auf.”

Lilið erschreckte sich, als die Abe sich von Drude losmachte, Feuer spuckte und fauchte. War das Wut?

Drude legte der Abe einen Finger unter den Kopf, strich ein weiteres mal über die weichen Schedern unter dem Kinn der Abe. “Wir haben schon darüber gesprochen.”, teilte Drude mit. Lilið war sich nicht sicher, wem. “Ich hatte vermutet, wenn du Lil einen Brief mitgeben möchtest, dass er dann eher in Richtung Nederoge geht. Das hieße, wir sehen uns mindestens vier Tage lang nicht. So lange sind wir selten getrennt.”

Die Abe umklammerte Drudes Arm und schloss die Augen. Es wirkte, als würden sie dadurch weiß werden, weil das die Farbe der Augenlider war.

Lilið mochte das Bild. “Aber ihr würdet es für mich tun?”, fragte sie sachte.

Drude nickte. “Nicht wahr?”, fragte dey leise.

Die Abe kroch deren Arm hinauf und blickte von Drudes Schulter aus Lilið entgegen. Lilið hatte keine Ahnung, wie sie das interpretieren sollte, aber über Drudes Gesicht huschte ein Lächeln.

“Also hast du vor, einen Brief zu schreiben?”, bohrte dey nach.

Lilið nickte. Und dann breitete sie den Plan aus, den sie sich in der Nacht überlegt hatte.


Ja, wenn die Abe am Abend abfliegen würde, dann war das wenig Zeit, um eine Route unauffällig umzuplanen und außerdem einen Brief an Heelem zu schreiben. Einen kodierten am besten. Aber Drude schaffte es beim Frühstück tatsächlich, beim Kapitän zwei Stunden Mittagsschlaf für sie auszuhandeln. Lilið gestand sich ein, dass der Plan sicherer werden würde, wenn sie diese nutzte.

Die Kiste, auf der sie schliefen, war so schmal, dass sie sich zwangsläufig berüheren mussten. Drude roch herb, fand Lilið. Sie fand den Geruch weder gut noch schlecht, aber trotzdem half er ihr beim Einschlafen.

Wie als hätte irgendjemand doch einen Verdacht entwickelt, lauerte ihr Matrose Ott nach dem Schlaf auf und kontrollierte alles, was sie tat. Sie würde die Route wohl unauffällig unter seiner Nase planen müssen. Vielleicht wäre das ohnehin gut, weil es dann für ihn nicht aus dem Nichts käme, sondern sie Gelegenheit hätte, einen erfundenen Grund anzugeben, dass die Route auf einmal anders verliefe.

Die Umplanung war am Ende sogar weniger umfangreich, als Lilið befürchtet hatte. Sie hatte Glück, dass die Insel Lettloge dicht genug in die Nähe ihrer Route rücken würde, wenn sie sie nur kurz zuvor um einen halben Tag verzögern würde. Und diese Verzögerung musste sie nicht einmal jetzt schon begründen.

“Ich habe heute gesehen, wie leicht uns etwas dazwischen kommen kann, wenn wir wegen Regen mit der Navigation ungenauer werden müssen.”, erklärte sie dem Matrosen. “Ich plane diese mögliche Alternativen für den Fall ein, dass es eng wird.”


Leider konnte sie beim besten Willen keinen Brief schreiben, während sie überwacht wurde. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen, als es später und später wurde. Erst kurz nach dem Abendessen war sie endlich wieder mit Drude allein.

“Haben wir noch die Zeit?”, fragte sie leise.

“Kaum.”, antwortete Drude. “Deshalb habe ich einen Brief vorgeschrieben, in den wir nur noch Ort und Zeit eintragen müssen. Du kannst noch drei Zeilen dazuschreiben. Und du musst Lil erklären, wo dey hinmuss. Dey wird dich verstehen. Es muss alles schnell gehen.”

“Hast du kodiert?”, fragte Lilið.

Drude schüttelte den Kopf. “Ich habe länger überlegt, wie, aber Lil ist auch noch nie abgefangen worden. Das wüsste ich. Leute unterschätzen, was sie mir mitteilen kann.”, erklärte Drude. “Ich hoffe nur, dein Kontakt belässt auch wirklich den Brief an König Sper bei Lil. Das würde uns sonst wahrscheinlich zu früh in große Schwierigkeiten bringen. Wir erwarten eine Antwort von ihm. Wenn Lil nicht oder leer bei ihm ankäme, wäre das schlecht. Ich habe es deinem Kontakt geschrieben. Den Namen musst du auch noch eintragen.”

Lilið schluckte. So gut kannte sie Heelem eigentlich auch nicht. Aber das verheimlichte sie lieber. Sie hatte vor Drude außerdem auch nur abstrakt vom Kontakt gesprochen. Sie fragte sich, ob sie nun an Heelem schreiben sollte oder an Marusch und entschied sich schließlich für beide Namen. Anschließend drängte Drude sie, Lil die Adresse zu erklären. Das fühlte sich merkwürdig an, weil es Treffpunkt für Kriminelle war. Aber das wusste Drude ja nicht.

Auf einem kleinen Zusatzzettel ergänzte sie für Heelem, dass Marusch eventuell etwas passiert sein könnte. Zu mehr kam sie nicht, weil Drude drängte. Dey nahm Lilið das Papier aus der Hand, stopfte es in dere Hosentasche und nur Momente später klopfte der Kapitän, um Drude mit der Abe zu sich zu rufen.

Lilið fühlte sich seltsam hohl. Es war gut, einen Plan geschmiedet zu haben, aber nun musste er auch klappen. Und was, wenn nicht?