Das Tanzdesaster von Lilið aus der Unterwelt
CN: Sex, Erotik, Erektion, Vergiftung - erwähnt.
Lilið antwortete nicht sofort, sondern hoffte zunächst, dass Marusch sie in eine ruhigere Ecke führen würde. Das mit der ruhigen Ecke stellte sich allerdings eher als realitätsferne Wunschvorstellung heraus. Selbst wenn Marusch gewollt hätte, wäre es kein leichtes Unterfangen gewesen. Der Ball fand auf zwei Stockwerken statt. Im oberen war es ruhiger. Dienstpersonal verteilte Getränke und kleine Häppchen für zwischendurch. Marusch war mit ihr zunächst zur Umkleide gegangen, wo sie ihre Sachen zurückgelassen hatten, aber eben weil es oben ruhiger war, führte sie Lilið zunächst die breiten Treppen zurück hinauf ins obere Stockwerk in einen hinteren, weniger benutzten Durchgang, von wo aus die Tanzfläche gut zu sehen war. Es gab eine Bühne, auf der das Orchester die Tanzmusik spielte. Der Boden vor der Bühne war mit glattpoliertem Holzparkett verkleidet, wie sich das für eine erstrebenswerte Tanzfläche gehörte, riesig und gefüllt mit Tanzenden. Es war nicht so voll, dass die Tanzenden gesondert auf ihre Füße Acht geben mussten, und dadurch, dass die Musik die Tänze vorgab, waren auch schnelle Tänze möglich, weil dann alle geschlossen schnell tanzten.
Marusch war am Geländer stehen geblieben und blickte hinab. “Meinst du, wir kriegen ungefähr das Niveau hin?”
Lilið hatte noch gar nicht auf die vorherige Frage geantwortet. Aber vielleicht hatte Marusch korrekt von der Art, wie Lilið sich hier her hatte führen lassen, schon abgeleitet, dass sie mindestens Grundkenntnisse haben musste.
Lilið konzentrierte sich auf die neue Frage und beobachtete die Tanzpaare im einzelnen. Sie sahen sehr geübt aus, und wunderschön. Die Röcke und Gewänder flogen, die Dynamik brannte. Sie tanzten in einer Weise, dass ihre Körper sich von knapp oberhalb der Hüfte hinab bis zu den Knien eng berührten. Ihnen dabei zuzusehen, und sich Marusch und sich in so einer Haltung vorzustellen, fühlte sich bereits fast zu viel an.
“Ich habe mich beim Tanzen nie im Spiegel gesehen. Aber die meisten Figuren, die dort getanzt werden, kenne ich.”, sagte sie schließlich. “Muss ich die Herrenschritte beherrschen?”
“Ich würde wirklich gern mal in der geführten Rolle tanzen.”, antwortete Marusch. “Und ich denke, zu dem Tanz, den ich angekündigt habe, gehört schon, dass du zeitweise führst. Es ist ein Werk, in dem der Charakter Lilið, der passenderweise du wärest, Geschlechterrollen vertauscht, indem sie die Führung übernimmt. Aber ‘Das Tanzdesaster von Lilið aus der Unterwelt’ heißt nicht ohne Grund Desaster. Es kennt hier außerdem wahrscheinlich niemand, und Neuinterpretationen sind auf den angelsoger Bühnen weitgehend akzeptiert. Ich denke, wenn es ein Desaster wird, müssen wir es als Absicht verkaufen, und dann passt das.” Marusch schmunzelte. Ihr Blick wanderte von der Tanzfläche weg und fixierte Liliðs Gesicht.
Liliðs Atem stolperte schon einmal vorsorglich, damit sie später beim Vortanzen bereits Erfahrung damit haben würde. Oder aus anderen Gründen. “Haben wir die Möglichkeit, vorher irgendwo nicht allzu auffällig zu üben?”
“Sicher! Besonders, weil ich dich als meine Ersatztanzperson ausgegeben habe, würde nicht weiter auffallen, wenn wir uns zu den anderen auf die Tanzfläche begeben.”, sagte Marusch. “Es tut mir leid, dass ich dir vor der Wache ein Femininum zugewiesen habe. Und ich habe, unabhängig davon, versäumt, dich zu fragen, was du eigentlich möchtest, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.”
“Ich mag Tanzperson und solche Wörter.” Der Abstand zwischen Lilið und Marusch am Geländer entsprach etwa dem, den sie zu Tomden vor Allils Toilettenkabine gehabt hatte, nachdem sie weggerückt war. Wegen dieser Erinnerung scheute sie sich, näher an Marusch heranzurücken, obwohl sie es eigentlich wollte. Sie fügte hinzu: “Vor der Wache habe ich eine Rolle gespielt. Es war für mich in Ordnung, die Rolle einer Frau im Anzug zu spielen, das war ja nicht ich.”
“Ein sehr schicker Anzug wohlgemerkt. Er hat ein fabelhaftes Schillern. Du siehst sehr schön aus darin.” Aus Maruschs Stimme war jegliche Kante gewichen. Leise und sanft strich sie in Liliðs Gehörgang und von dort unter die Haut.
Lilið schloss einen Moment die Augen und atmete langsam und vielleicht etwas zittrig ein und wieder aus, bevor sie sie wieder öffnete. Dieses Mal wagte sie es, Marusch genauer anzusehen. Sie war nun ganz froh, nicht näher gerückt zu sein, weil sie sonst zu wenig von Marusch gesehen hätte. Das Kleid war, – als hätten sie sich abgesprochen –, aus einem blaugrünen, schillernden Stoff. Es ließ Maruschs Arme frei und saß am Oberkörper so perfekt, dass es unmöglich einer anderen Person geklaut sein konnte, zumindest nicht ohne, dass es angepasst worden wäre. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Lilið aber durchaus Nähte, die zwar wahrscheinlich durch Magie perfekt verliefen, aber nur Heftnähte waren, was nahe legte, dass das Kleid zuvor einer anderen Person gehört hatte. Der Rock fiel bis auf den Boden und war etwa zur Hälfte von schräg abgeschnittenen, durchsichtigen Überröcken verdeckt, die in jedem Windhauch leicht flatterten.
“Du bist auch wunderschön.”, hauchte Lilið, Maruschs Sprechweise kopierend, so weich sie konnte. “Das Kleid und du wirkt wie eins.”
Lilið konnte die Wirkung der gewählten Worte und des Klangs derselben an Maruschs Körper beobachten. Das verlegene Ausweichen des Blicks, der so glücklich wirkte, und vielleicht ein bisschen nervös, als er ihren dann doch wieder fand. “Müssen wir eigentlich noch zu zweit auf dem Balkon verschwinden, um einer Person ein Kleid zurückzugeben?”, fragte Marusch verschmitzt?
Lilið kicherte. “Das ist bei dir mit dem Wunsch, nicht aufdringlich zu sein, den du noch im Brief formuliert hattest, ja nicht weit her.”
Zu Liliðs Überraschung und vielleicht auch Sorge verschwand der Schalk aus Maruschs Gesicht. “Das ist so interpretierbar, das tut mir leid.”, sagte Marusch ernst. “Falls es dir Sicherheit gibt: Ich habe den Eindruck, dass wir noch mindestens ein klärendes Gespräch über unser Verhältnis zueinander führen sollten, im diebischen Sinne. Das hätte ich gern hinter mir, bevor ich überhaupt in Betracht ziehe, dich zu fragen, ob du mit mir eventuell Sex haben wolltest. Und wenn ich dich dann fragen sollte, werde ich ein ‘nein’ immer akzeptieren. Es ging mir wirklich nur darum, eine andere Person, nachdem diese Sex hatte, nicht nackt dastehen zu lassen.”
“Sehr nobel.”, kommentierte Lilið. “Ich habe mich nicht bedrängt gefühlt. Aber ich bin trotzdem dankbar darum, dass du es so klar aussprichst.” Sich an den Ursprung der Offenlegung erinnernd, fügte sie hinzu: “Und nein, wir müssen kein Kleid zurückbringen. Es war mein eigenes Kleid.”
Interessanterweise hatte Lilið, bevor Marusch es so klar ausgesprochen hatte, noch gar nicht explizit an Sex gedacht. Ihr war klar, dass sie die Anspielung selbst gemacht hatte, und dass der Balkon dafür vorgesehen war, aber so richtig hatte sie den Gedankenschritt noch nicht vollführt, dass mit Marusch in einer Kabine auf dem Balkon zu verschwinden, nicht nur eine anzügliche, sondern genau diese Bedeutung hatte. Oder musste das gar nicht so sein?
Sie stellte sich unwillkührlich vor, wie sie nackt in so einer Kabine wären, ihre Körper sich in einer Weise berührten, dass Berührung eigentlich ein viel zu zarter Ausdruck wäre. Sie stellte sich Maruschs Erektion vor, wie sie gegen Liliðs Beine presste, oder anderswo. War das, was sie wollte?
Sie verdrängte den Gedanken. Es fühlte sich falsch und richtig zugleich an. Sie musste es irgendwann sortieren, aber Marusch hatte recht: Es gab so viel, was noch zuvor geklärt werden sollte. Vielleicht besser zügig.
“Hast du zugehört?”, fragte Marusch.
“Ich doch nicht!”, erwiderte Lilið mit gespielter Irritation, was denn die Frage sollte. Und fügte ernst hinzu: “Ich bin in Gedanken abgedriftet. Es tut mir leid. Magst du wiederholen?”
“Ich hatte mich gefragt, warum du ein Kleid dabei hattest, aber das ist gar nicht so wichtig.”, wiederholte Marusch. “Jedenfalls hat uns das wohl Probleme vom Hals gehalten und das habe ich anerkennend zum Ausdruck bringen wollen. Dein eigenes war natürlich kein Kleid, das die Wache zuvor an einer Person hat auf den Balkon gehen sehen. Ich hatte befürchtet, wenn du ein Kleid von draußen stielst, dass wir das Problem mit der Wache nur verschieben, und hatte mich auf mehr einfallsreiches Schauspiel gefasst gemacht.”
Lilið überlegte einen Moment, Marusch zu erklären, dass sie falten konnte. Aber das war ihr zu viel Information für den Anfang, also nickte sie bloß.
Die Musik verklang und Liliðs Blick wurde von der anderen Art Bewegung, die auf der Tanzfläche aufkam, von Marusch abgelenkt. Personen strömten von der Tanzfläche und tupften sich das Gesicht ab oder nahmen sich etwas zu trinken. Einige Paare verharrten auf der Tanzfläche und warteten auf den nächsten Tanz. Dann erklang ganz zart der sehnsuchtsvolle Ton eines Bratschophons über die Tanzfläche. Mehrere Kontraphone stimmten nur wenige Momente später, als der Einstiegston begann, sich allein zu fühlen, mit einem drängenden Rhythmus darunter ein. Lilið fühlte all die Muskeln in sich anspringen, die fürs Weinen da waren, aber bei Musik eher den Drang auslösten, ebenfalls zu musizieren, zu singen, oder sich in einer Art zu bewegen, in der sie den ganzen Körper spürte. “Tanzen?”, flüsterte sie.
Marusch nickte und lächelte ein schmales Lächeln, aber rührte sich zunächst nicht. Lilið blickte sie etwas irritiert an, was Marusch doch dazu brachte, den Arm zum Einhaken anzubieten. “Vielleicht hast du recht und es ist besser, wenn ich beim ersten Tanz noch führe. Das hat vielleicht weniger Katastrophenpotenzial.”, sagte sie.
“Oh, du wolltest, dass ich den Arm anbiete?” Lilið hakte sich ein. Sie spürte die Klänge des Bratschophons unbarmherzig an Körper und Bewusstsein zerren.
Marusch nickte. “Das war der Gedanke.”, sagte sie.
Lilið spürte, wie sie leicht vor Anspannung zitterte. Es würde aufhören, wenn sie gleich tanzte, das wusste sie. Oder glaubte sie zu wissen. Aber sie wusste nicht, ob sie es mit dieser Anspannung geschafft hätte, das Führen auszuprobieren, bevor sie nicht etwas davon abgearbeitet und in Tanz umgesetzt hätte. “Nicht dieses Mal.”, sagte sie leise.
Es war nicht erotisch geplant gewesen, aber sie fühlte, wie Maruschs Körper darauf reagierte und sie ihr einen Moment sehr nah kam. Wieso mochte Lilið den Geruch so sehr? Sie konnte ihn nicht einmal beschreiben.
Marusch lenkte sie in eine etwas größere Lücke, die sich zwischen den Tanzenden ergeben hatte, und führte ihre Flanierhaltung in eine Tanzhaltung für diesen Tanz über. Sie kamen sich nun doch fast so nah wie vorhin in Liliðs Vorstellung, nur mit zwei Schichten Kleidung dazwischen. Und ihre Gesichter waren für ein stereotypes sexuell Interagieren ein gutes Stück zu weit von einander entfernt. Liliðs Oberkörper hatte Raum und lehnte sich zurück, verdrehte sich etwas, wie sich das für diesen Tanz gehörte. Maruschs Arme hielten sie fest und weich zugleich, und sie hielt Marusch in der dazu passenden Weise zurück. Marusch verlagerte das Gewicht auf eine Seite und Lilið folgte ohne zu zögern, als wären ihre Körper nicht mehr unabhängig. Dann, das Gewicht vorbeugend und passend zum Takt der rhythmisch am Gefüge zupfenden Kontraphone schob sich Maruschs Bein zwischen Liliðs zum ersten Tanzschritt.
Eigentlich war es egal, ob da nun Kleidung zwischen ihnen war oder nicht. Was nicht hieß, dass es für Lilið sexuell wäre. Es war erotisch, keine Frage. Aber es war Musik in Körpern, eine andere Dimension, in der Sex in ihrem Kopf keinen Raum hatte. Es war, miteinander verschmelzen, in eine andere Welt abtauchen, und endlich loslassen.
Marusch führte sie über die Tanzfläche, als hätten sie schon lange miteinander getanzt. Lilið kannte es aus den Tanzstunden: Wenn mal eine Lehrkraft mit ihr getanzt hatte, hatte es einfach funktioniert. Sie hatte die Augen schließen können und überhaupt nicht über Schritte nachdenken müssen. Es war ein Lauschen des Körpers auf die schalllosen Worte, die der jeweils andere Körper sprach.
Aber dieser Tanz übertraf jede Tanzerfahrung, die sie je gemacht hatte. Marusch führte etwa so gut wie ihre Tanzlehrkräfte. Wo hatte sie das eigentlich gelernt? Aber Marusch war nicht hier, um Lilið etwas beizubringen, sondern, weil sie etwas miteinander zu tun haben wollten. Und weil sie beide ein Verlangen danach hatten, körperlich und romantisch miteinander zu sein. Das hatte Lilið so noch nie erlebt.
“Schön, dass du da bist und lebst.”, sagte Marusch leise. Sie hatten vielleicht vier Runden getanzt und allmählich waren selbst die letzten Unebenheiten überwunden. Sie waren eingespielt. Zumindest, solange sie keine Experimente wagen würden, sondern bei den klassischen Figuren blieben. “Daraus schließe ich, du hast die Nachricht entschlüsselt oder sie war auf die ein oder andere Art nicht nötig?”
Liliðs Herz hatte sich eben erst wieder beruhigt. Nun dachte sie daran, dass sie gerade mal vor zwei Tagen gegen ein Gift ums Überleben gekämpft hatte. “Warum hast du mir eine potenzielle Mörderin geschickt?”, fragte sie. Sie gab sich nicht die Mühe, ernst dabei zu klingen, sondern ließ die Erotik, die Marusch vorgelegt hatte, zwischen ihnen einfach bestehen.
“Pragmatische Gründe” Marusch schmunzelte. “Es löst dein und ihr Problem.”
“Es hätte das Problem, das ich so als Person darstelle, beinahe ganz und für immer beseitigt.” Dieses Mal passierte es ihr doch, dass sich eine gewisse Kiebigkeit in ihre Worte schlich. Vielleicht war das auch ganz gut so.
Marusch führte in der Kurve eine Katjunka, bei der ihr Körper sich wie von selbst nach hinten lehnte und die Blickrichtung wechselte. Es war, gerade als die Musik einen zackigeren Moment hatte. Lilið fühlte die angenehme Rotation im Körper, als sie die Drehung wieder ausgedrehten und auch die Musik wieder runder wurde.
“Ich bin sehr froh, dass es das nicht hat.”, sagte Marusch sehr sanft und blickte ihr ins Gesicht dabei. Das gehörte sich beim Tanzen eigentlich nicht, aber seit jeher hatten Tanzende, die sich gleichzeitig mochten, diese Regel geflissentlich ignoriert. Außerhalb von Wettbewerben zumindest.
“Aber du warst gewillt, das Risiko einzugehen?”, bohrte Lilið schnippisch nach.
“Schon. Ungern natürlich.”, gab Marusch auch noch zu. “Unter den Umständen, dass du dem System entfliehen willst, wird das vermutlich ab jetzt dein Standardrisiko sein. Unter anderen Umständen hättest du Allil weggeschickt und wärest sicher gewesen.”
Lilið fragte sich, ob ihr das irgendwie hätte klar sein müssen. Eigentlich lag es tatsächlich nicht sehr fern. Sie wusste, sofern es nicht bloß um Lebensmittelraub oder so etwas ging, dass das Langfingerdasein lebensgefährlich war. Dass unter den Diebischen andere Regeln galten. Nicht einmal einheitliche. Es war schwer zu wissen, woran man jeweils war. Sie war schließlich auch nicht überrascht gewesen, als die landstreichende Person ihr in der vergangenen Nacht ihr Gepäck hatte stehlen wollen, und sie wusste, dass manche Langfinger im Kampf so weit gingen, zu töten. Aber sie hätte es nicht von Allil erwartet.
Sie waren eine Runde getanzt, in der Marusch nur sehr einfache Standardfiguren geführt hatte, bis Lilið aus ihren Gedanken zurückkehrte. Vielleicht hatte Marusch darauf Rücksicht genommen, dass sie weggetreten gewirkt hatte, aber als sie sie anblickte, war Maruschs Gesichtsausdruck selbst sehr nachdenklich.
Was auch immer da für Gedanken sein mochten, Lilið unterbrach sie mit ihren Überlegungen. “Dadurch, dass du mir diese Option dargelegt hast, sahen meine Chancen besser aus und es hat mir mehr Sicherheit gegeben, die Entscheidung zu fällen.”, sagte sie.
“Es sind die besten Chancen, die du kriegen konntest, denke ich.” Da war wieder dieses sanfte Schmunzeln. Die Nachdenklichkeit war nicht aus dem Ausdruck gewichen, sondern vermischte sich damit, was auch sehr schön aussah.
Aber Lilið ließ sich nicht davon ablenken. Sie fand schon, dass Marusch eine Mitverantwortung trug und überlegte, wie sie sie dazu bringen konnte, sie einzugestehen.
“Wenn du aus mir rauslocken willst, ob ich bewusst einen Deal eingegangen bin, bei dem dein Leben in Gefahr ist: ja bin ich.”, legte Marusch offen, als hätte sie Liliðs Gedanken gelesen. Aber vielleicht waren sie auch offensichtlich. “Ich bin kein moralisch einwandfreier Mensch. Und ich habe Verständnis, wenn du deshalb mit mir nichts zu tun haben willst.”
Lilið schluckte. “Ich mag, wenn Dinge klar ausgesprochen sind.”, sagte sie. “Deshalb möchte ich festhalten: Wäre ich gestorben, hättest du eine Mitverantwortung gehabt.”
“Ja.”, stimmte Marusch ohne Zögern zu.
“Und du fragst mich trotzdem einfach fröhlich, ob wir eine Diebesbeziehung eingehen wollen?”, fragte Lilið.
Die Figur, die Marusch jetzt führte, war neu für Lilið. Sie war schwungvoll und sie wäre fast gestolpert. Seltsamerweise fühlte sie sich deshalb nicht verunsichert, sondern eher positiv aufgeregt. Ihr Herz machte einen seltsamen Satz, als die Vollendung der Figur sich wie ein Auffangen anfühlte und sich ihre Gesichter für einen kurzen Moment dicht aneinander vorbeibewegten. “Ja, auf jeden Fall!”, flüsterte Marusch in gerade diesem Moment. “Ich frage dich fröhlich, oder auch ernst, wenn du willst.”
Sie hatte Mühe, ihren Atem zu beruhigen, als sie wieder zu eingeübteren Figuren übergingen. Vielleicht sollten sie es nicht gleichzeitig tun: Aufregend tanzen und sich über fiese Themen unterhalten.
“Hast du irgenwelche Erklärungen dafür, wie das für dich übereingeht?”, fragte sie.
Auch diese Frage beantwortete Marusch mit “Ja.”. Aber sie sagte nichts weiter dazu.
Lilið merkte, wie ihr die Tränen doch kommen wollten. Weil alles so sehr zog. Die Musik an ihrem Inneren. Die Rotation des Tanzes ganz physisch an ihrem Körper. Die Nähe an ihren Sehnsüchten. Der Widerspruch in ihr, dass sie diese Person mochte, die einfach ihr Leben riskiert hatte, an ihrem ganzen Sein.
“Die du verraten möchtest?”, fragte sie, die Stimme dabei nicht ganz frei von einem Flattern halten könnend.
“Was wäre die Alternative gewesen?”, fragte Marusch. Der nachdenkliche Ausdruck von vorhin war wieder da. “Dir einfach nicht die Option eröffnen? Bereust du es, sie eingegangen zu sein?”
“Nein, ich bereue das nicht.”, sagte sie ohne jeden Zweifel. Nie und Nimmer hätte sie diesen Tanz verpassen wollen. Und es war erst der erste heute Abend.
Marusch führte sie noch einmal die neue Figur von vorhin, bei der sie fast gestolpert wäre. Dieses Mal fühlte sie keine Unsicherheit mehr dabei, nur Aufregung. Und eine innere Begeisterung, dass es klappte, dass sie das zusammen konnten, und über die bewegte Schönheit, die sie innerlich waren und äußerlich für alle sichtbar sein mussten.
Marusch schloss die Figur allerdings anders ab als vorhin, sodass sie sich mit dem letzten Ton des Musikstücks in eine gegenseitige Verbeugung auflöste. Lilið spürte das Ziehen des ausklingenden Bratschophonklangs im ganzen Körper. Ihr war warm. “Gibt es noch einen unverfänglicheren Balkon?”, fragte sie.
“Ja. Aber wenn du einfach nur an die kühle Luft willst, schlage ich dir den Hof vor. Vielleicht finden wir dort sogar ein bisschen Raum für uns.”, schlug Marusch vor.
Lilið nickte. Einen Augenblick drängte sich wieder das ungewollte Bild ihrer nackten Körper in ihre Vorstellung. Nein, das wollte sie nicht, nicht heute zumindest. Nähe schon, aber andere.
“Es war keine einfache Entscheidung.”, erklärte Marusch auf dem Weg zum Hof, das Gespräch von vorhin fortsetztend. “Ich habe abgewägt und bin zum Schluss gekommen, das müsste trotz Risiko in deinem Sinne sein. Aber ich kann dich auch noch nicht sehr gut einschätzen. Hätte ich aus deiner Sicht etwas Bestimmtes anders machen sollen?”
Lilið hatte recht spontan eine Antwort, und doch fühlte es sich überraschend nachvollziehbar und vor allem wertschätzend an. Ja, das war es, glaubte Lilið, was sie so sehr an Marusch schätzte: Wenn sie etwas kritisierte, sagte, dass sie etwas störte, machte sich Marusch nicht Gedanken darum, sich selbst zu verteidigen, sondern ließ es dabei um sie und ihren Freiraum gehen. Darum, dass sie sich wohlfühlte, wenn es in Maruschs Macht stand.
“Es nicht drauf ankommen lassen, dass ich eine Kodierung rechtzeitig knacke, sondern für mehr Sicherheit sorgen, dass die Nachricht auch wirklich bei mir ankommt.”, erklärte sie, kaum mehr aufgebracht, sondern fast sachlich.
Marusch nickte. Sie blickte dabei nachdenklich. Als würde sie einiges an Erwiderungen herunterschlucken. “In Ordnung.”
Vielleicht würde Lilið später danach fragen, was in ihrem Kopf dabei vorgegangen war. Es gab ohnehin noch viel zu klären.
Sie fanden einen Platz an der kühlen Mauer in der schützenden Dunkelheit einiger niederiger Bäume und der sternenlosen Nacht. Marusch lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und verschnaufte. Lilið blieb unschlüssig vor ihr stehen. Der Geruch war beim Tanzen noch etwas stärker geworden. “Du riechst gut.”, flüsterte sie.
Marusch reagierte nicht, nicht mit Worten zumindest. Ihr Blick lag auf Liliðs, ohne Lächeln, aber sehr weich, vielleicht flehend. Lilið beobachtete, wie sich Maruschs Brustkorb hob und senkte. Lilið trat dicht an sie heran, nicht so dicht, wie sie beim Tanzen gewesen waren, aber nun hatte es eine andere Bedeutung. Sie fragte sich, ob sie Marusch küssen sollte. Sie hatte noch nie geküsst, nur davon geträumt. Sie legte ihre Hände links und rechts von Marusch an die Wand. Die Wirkung war schön. Marusch wehrte sich nicht, machte keine Anzeichen, ausweichen zu wollen, aber ihr Atem verhedderte sich einen Moment.
“Lilið.”, sagte sie leise, kaum ein Flüstern.
“Ja?” Lilið ahmte wieder Maruschs Lautstärke und Anspannung nach.
“Ich glaube, du wirst das ganz gut hinkriegen mit dem Führen.”, sagte Marusch.
Das war nicht direkt, was Lilið erwartet hätte. Aber vielleicht stimmte es und passte doch zur Situation. Lilið kannte so viele Geschichten über Romantik, in der sie eher für die Rolle der Person vorgesehen wäre, die von einer anderen gegen die Wand gedrückt wurde. Oft mit fragwürdigerem Einverständnis.
“Fühlst du dich wohl?”, fragte sie. Sie wusste es eigentlich, aber es war wichtig, das zu fragen, fand sie.
“Schon.” wieder das leise Flüstern.
Das war auch nicht die Antwort, die ihr Sicherheit gegeben hätte. Sie überlegte, die Hände wegzunehmen. Sie überlegte, dass ‘schon’ bedeutete, dass da ein ‘aber’ zugehörte, aber gleichzeitig hieß es trotzdem auch ‘ja’, deshalb verharrte sie doch.
“Ich denke, wir sollten das aufschieben. Wir sollten entweder noch einmal für die Aufführung üben, aber mit dir in der führenden Rolle, weil bis zu den Aufführungen nicht mehr so lange hin ist, oder wir sollten uns entscheiden, uns jetzt aus dem Staub zu machen.”
Lilið nahm die Hände von der Wand weg. Es war schwer. Weil sie wusste, dass sie es beide wollten, und nur Verpflichtungen dazwischen standen. Sie hielt Marusch den Arm hin, wie sie es vorhin für Lilið getan hatte.
Um auf der Tanzfläche die Tanzhaltung korrekt spiegelverkehrt einzunehmen, brauchte Lilið alles an Konzentration. Und auch der erste Schritt fühlte sich noch seltsam falsch an, eben wie mit der falschen Seite ausgeführt. Aber dann passierte es, dass Lilið in die führende Rolle schlüpfte. Es eröffnete sich für sie abermals eine neue Welt. Sie konnte keineswegs so viele Figuren führen wie Marusch. Sie fing mit den Grundschritten an. Aber als sich Marusch schließlich auch, von fast einem Moment auf den anderen, in die folgende Rolle fügte und Lilið bestimmte, wie sich ihrer beider Körper bewegen würden, sich mit ihrem Blick in Maruschs Röcken verlor, die besonders bei schnellen Drehungen und Richtungswechseln schwangen, fühlte sie sich frei.
Lilið war eigentlich nicht ganz klar, wie es sein konnte, dass sich Maruschs so spontan vor der Wache vorgelegter Programmpunkt auch tatsächlich ohne weitere Probleme ins bestehende Programm einfügte. Vielleicht gab es eigentlich kein festes Programm. Aber alles war egal, alle Fragen waren weggewischt, als sie allein auf der Tanzfläche standen. Einige Aquaristikae ließen Wasserdampf um ihre Füße wabern, der die Unterwelt darstellen sollte. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, von so vielen Leuten dabei beobachtet zu werden, zu tanzen – und zu betrügen. Es war ein Tanz mit der Gefahr und mit dem Feuer.
Die Musik zum ‘Tanzdesaster von Lilið aus der Unterwelt’ war dem Orchester nicht sehr vertraut, wie Lilið aus dem Flüstern unter den Musizierenden heraushörte, bevor sie einsetzten. Es war ein Stück, das unheimlich anfing, sich bombastisch aufbaute und zart endete.
Sie tauschten beim Tanz die führende und folgende Rolle, teils einvernehmlich, teils durch gespielten Kampf. Marusch kannte das Stück und Lilið las an ihren Bewegungen und Anspannungen ab, was für eine Stimmung es als nächstes haben würde.
Aus ihrer Sicht waren sie beide Lilið in dieser Vorführung.
Wie es dazu kam, dass sie so endeten, war Lilið nicht ganz klar, aber als der letzte Ton erklang und der Nebel noch einmal verstärkt wurde, hielt sie Marusch von hinten in einer Umarmung, in der ihr Kopf in Liliðs Halsbeuge lag, ihre Lippen sie fast dort berührten.
Sie hielten es nach dieser Aufführung nicht mehr auf dem Ball aus. Es kostete Lilið alles an Kraft, zwischen den Leuten hindurch in die Umkleide zu ihren Spinds zu gehen, wo sie ihre Sachen bewacht und eingeschlossen zurückgelassen hatten. Sie traute keinem Schloss und holte deshalb trotzdem als erstes das Buch hervor, um festzustellen, ob es noch da war.
Maruschs Blick wanderte über ihre Hände, die es hielten und verweilten darauf. “Was ist das?”, fragte sie.
“Ein Buch!”, sprach Lilið neckend das Offensichtliche aus. Sie entnahm Maruschs Brief daraus. “Ein Lagerort für wertvolle Dinge.”, fügte sie erklärend hinzu.
Wer weiß, vielleicht war das Buch doch irgendetwas wert. Dann könnte sie so davon ablenken.
Marusch nickte, mit einem Schmunzeln im Gesicht. “Ich kann nicht leugnen, dass ich Spaß und sehr liebevolle Gedanken an dich hatte, als ich ihn geschrieben habe.” Leise fügte sie hinzu: “Und Sorge.”
Lilið packte Brief und Buch wieder in die Jacke und diese in den Beutel. Sie stopfte ihre weichen Schuhe dazu. Marusch musste darin außerdem das Kleid vermuten, für das der Beutel eigentlich zu klein war, aber sie sagte nichts dazu, sondern führte sie stattdessen durch das Haupttor ins Freie. Die Nachtluft empfing sie angenehm, aber erst, als sie den Ball und die Enge der Stadt hinter sich gelassen hatten und irgendwo über Feldwege durch die Nacht spazierten, fühlte Lilið sich wirklich erleichtert und hatte keine Angst mehr, doch noch entlarvt zu werden. “Es war schön.”, sagte sie.
Maruschs Hand streifte ihre. “Sehr.”
Lilið sah zu, dass sich die Berührung zwischen ihren Händen nicht wieder löste. Ihr ganzer Körper kribbelte und fühlte sich fast so weich und unkontrolliert an, wie als das Fieber eingesetzt hatte.