Tee im Schnee
Content Notes: Trennung von Familien; Kraftausdrücke, allerdings keine -istischen; Schmerzen
pdf und epub Version
Anmerkung zur Sprache
Ein ähnliches Sprachexperiment wie in dieser Geschichte habe ich schon in der Kurzgeschichte Jurin Raute - Windschwinge gemacht und dort mehr dazu geschrieben.
Die Geschichte
Tagebuch-Experiment: Geschlechtsneutrales Kadulan
Regeln:
- Genus aller Wörter ist Neutrum
- Alle sonst gegenderten Personenbezeichnungen bekommen die neutrale Endung -an, Plural -anen.
- Ref. Pron. aller Personen as/sain/iem/as
- Ref. Pron. aller Sachen es/sein/ihm/es
Stil: Ich-Erzählung
Vierzehnter Winter
Ich habe kaum Kraft mehr, das Haustür aufzuziehen. Das Treppenhaus ist pottdreckig, Split knirscht auf den Stufen, aber immerhin ist hier kein Glatteis. Ich schleppe mich die zwei Stockwerke zu meinem Wohnung hinauf. Steigen wäre dabei das falsche Ausdruck; ich hangele mich dabei viel mehr am Geländer entlang, weil mir die Beine wegknicken möchten, krampfen und schmerzen. Heute Morgen hätte das Treppe kein solches Problem dargestellt, aber das Extraspazierrunde am Ende war das Endgegneran. Glatteis war jetzt auch nicht unbedingt vorteilhaft dabei.
Eigentlich ist es übertrieben, die zwei Räume Wohnung zu nennen. Es gehört nicht einmal ein Küche oder Bad dazu. Zum Waschen oder Kochen muss ich in das Gemeinschafts-WG nebenan. Aber es hat ein Schlaf*Wohnzimmer und ein VR-Zimmer, zum Treppenhaus mit Wohnungstür abgetrennt. Das bedeutet Rückzugsmöglichkeit. Ich lieb’s.
Bevor ich das Wohnung betrete, ziehe ich mir die Schuhe aus – und das ist ein widerliches Sache: Ich trage dieses awesome rosa-glitzer-Weltraumschlaghose, das sich leider beim Schlurfen durch das Schnee mit Wasser vollgesogen hat und nun meine Socken ohne das Schutz der Schuhe dazwischen gänzlich durchnässt. Nicht, dass die Schuhe dicht gewesen wären. Es ist so eklig.
Ich bin gerade nackt – und mir ist verslikt kalt –, als es klingelt. Ich gehe zum Gegensprechanlage und nehme das Hörer ab.
“Olge”, sagt Olge bloß.
“Kommst du rauf?”, frage ich.
“Ich kann gerade nicht in fremde Wohnungen”, sagt Olge.
Innerlich seufze ich. Ach, Olge.
“Ich brauch ’n bisch’n. Bin nackt gerade”, sage ich und lege auf.
Es widerstrebt mir so dermaßen, mir dieses Hose wieder anzuziehen. Ich tu’s trotzdem. Neue Socken allerdings, und dann in die Schuhe, ohne das nasse Schlag an die Socken kommen zu lassen. Ich wähle auch das andere, längere Mantel. Es ist nicht so fancy wie das in den Trans-Pride-Farben, rosa, hellblau und weiß palletierte Mantel das ich vorher anhatte, aber gefüttert – und ich brauche dringend Wärme. Aus demselben Grund verstaue ich noch zwei Becher in meinem Umhängetasche, bevor ich die Treppen wieder herunterhumpele.
“Oh”, sagt Olge resigniert, als as mich sieht. “Mist.”
Ich zucke mit den Schultern. “Was ist los?”
Olge senkt das Blick zu meinen Beinen. Ich bin kleiner als as, also ist das nicht viel Bewegung. Sainem aufmerksamen Blick entgeht selten etwas. “Du warst heute schon lange unterwegs”, folgert as.
“Queer-Pride”, antworte ich.
“Mist, das war heute”, murmelt as.
Dass iem das entfallen ist, bedeutet nichts Gutes.
“Muskeldystrophie-Dinge?”, fragt Olge.
Ich nicke. Eigentlich will ich das gar nicht zugeben, aber als würde Olge es nicht instant wissen, sobald wir drei Schritte machen, ich derbst schlurfend.
“Mist”, wiederholt Olge. “Und ich habe dich runtergejagt. Wir können wieder raufgehen. Das war nicht gewollt.”
“Jetzt bin ich schon unten”, entgegne ich.
Ja, ich weiß, dass auszuruhen besser für mich wäre. Ich würde das gerade, fertig und frustriert, auch nicht einfach für andere tun, nicht einmal für meine besten Freundanen. Aber Olge ist für mich mehr als das. As bedeutet für mich das Welt. Ich schlucke, als mir das in sainem Gegenwart wieder bewusst wird und ich es iem einfach immer noch nicht gesagt habe. Zum Slik, wir sind vierzehn. Olge nicht einmal das. Da weiß eins sowas doch noch nicht. Vielleicht weiß ich auch wirklich nicht, was das nun genau bedeutet. Olge ist mir einfach derbst wichtig, so viel ist sicher.
“Soll ich dich stützen oder willst du mein Arm haben?”, fragt Olge.
Ich ziehe ein Augenbraue hoch. Ich kann das perfekt. Im Rahmen von Muskeltherapie habe ich gelernt, wie ich ungefähr jedes Muskel einzeln ansteuern kann. Es ist okay, wenn mich Leute so etwas fragen, aber nicht, nachdem sie das schon zich Mal getan haben und ich jedes Mal wieder ablehne.
“Es ist glatt. Tut mir leid”, sagt Olge.
“Es ist verslikt glatt”, bestätige ich. “Wenn für dich okay, gehen wir einfach zum Teemacheran.”
Das Teemacheran ist ein Elb, das hier in NOCity auf einem zugewucherten und derzeit eingeschneiten Platz vor einem ausgedienten Lokschuppenruine das ganze Winter über verschiedene Tees macht und an Besucheranen verteilt. Olge und ich sind da oft. Sozusagen unser Kompromiss, weil Olge ständig draußen sein muss und ich im Winter halt lieber nicht.
“Und zwar jetzt”, sage ich, als ein Zittern mein Körper schüttelt.
Olge nickt. Wir gehen zwei Schritte und wie nicht anders zu erwarten, kriege ich die Beine kaum hoch und Olge guckt. As sagt nichts dazu, zumindest nicht direkt.
“Gib mir wenigstens das Tasche”, fordert as.
Ich nehme das Tasche vom Schulter und reiche es Olge. Wir sind beide übel gelaunt. Ich grinse, weil wir das beieinander sein können.
“Was ist los?”, frage ich erneut.
“Du warst nicht nur auf dem Pride”, stellt Olge richtig fest.
Ich schließe die Augen und seufze dieses Mal nicht nur innerlich. Es hat kein Sinn. Olge merkt, wenn etwas los ist und fühlt sich nur schwerlich frei, über sich zu reden, wenn vorher nicht von meinem Seele runtergeredet ist, was drauflungert. Ich überlege ein Moment, zu sagen, dass es as nichts anginge. Was stimmt. Aber das ist nicht das Problem. Olge würde es einfach akzeptieren, nur will ich es auch irgendwie erzählen, und das weiß as.
“Annin brauchte hinterher Support. Ich bin mit iem noch ein Runde gegangen”, erzähle ich. “Ich wollte nicht. Ich habe mich schlecht gefühlt, weil ich nicht wollte, und deshalb auch noch patzig war. Ich will dir davon nicht erzählen, weil du dann ein Gewissen kriegst, dass du mich für fast dasselbe beanspruchst.”
Olge schnaubt. “Stimmt”, sagt as.
As schaut mich an, mit diesem zärtlichen Gesichtsausdruck, das dieses Gesicht drauf hat, wenn as loslässt. Loslässt davon, irgendwie kontra und unnahbar zu sein.
“Ging es bei Annin wieder um das auseinanderziehende Wahlfamilie?”, fragt Olge.
“Ja”, sage ich.
“Ich rede mit iem”, verspricht Olge.
Das ist erleichternd. Wir sind alle drei in verschiedenen Wahlfamilien groß geworden. In Familien, in denen Blutsverwandtschaft und enge Freundanen nicht so sehr oder gar nicht unterschieden werden und wir meist alle in einem großen Haus mit etwas fluktuierenden Parteien und einem festen Kern leben. Das feste Kern ist wichtig. Wenn eines meiner vier Eltern ausziehen würde, das könnte ich mir nicht vorstellen. Olge hat so etwas erlebt, als as klein war. Das war wohl das Zeit, als wir zusammengewachsen sind. Annins Großelter ist vor Kurzem in ein barriereärmeres Haus nach Fork gezogen und einige andere des Families zogen mit, beziehungsweise ziehen nun hinterher. Kein Streit. Einfach ein verlorenes Kampf gegen ein noch nicht saniertes Stadtteil. Olge ist da für Annin wahrscheilich das bessere Ansprechpartneran als ich.
“Aber was ich trotzdem nicht kapiere, ist, warum ich dich nicht nerve. Warum du für mich runterkommst, obwohl es dir furchtbar geht”, sagt Olge. “Ich komme früher nach Hause, vergesse das Pride, sage, ich kann nicht hochkommen und du springst. Das ist doch nicht okay.”
Von Springen kann eigentlich nicht das Rede sein. Ich muss beinahe schmunzeln.
“Doch, ist es”, sage ich. “Was aber nicht geht, ist, dass ich das alles mache und du nicht sagst, was los ist.”
Olge drückt das große Tor zum Lokschuppenvorplatz auf. Da sind wir schon. Ich war irgendwie outgespacet. Olge fasst die vereisten Streben einfach mit dem bloßen Hand an. Ich zittere vom Zugucken.
“Warum?”, fragt Olge leise.
As versteht es nicht.
“Bei den Schnergen der Berge!”, fluche ich laut. “Weil ich dich liebe, verslikt.”
Hinter dem Tor drehen sich ein Menge Gesichter, überwiegend Orks wie wir, zu uns um und schauen uns an. Sonst ist es hier leerer. Ich wünschte nun doch, das Mantel mit Trans-Pride-Farben noch einmal ausgetragen zu haben. So viel Aufmerksamkeit hatte ich an diesem Tag noch nicht. Das Menge fängt an zu applaudieren und zu johlen.
“Es scheinen wohl nach dem Pride mehr Leute auf das Idee gekommen zu sein, im Schnee noch Tee zu trinken”, stellt Olge trocken fest.
Ich schaue as an. Schon wieder dieses liebevolle Blick. Zwei davon an einem Tag. Ich folge iem durchs Tor. Ich wühle die Tassen aus dem Umhängetasche hervor, das um sain Schulter hängt, und wir stellen uns an. Wir wechseln kein weiteres Wort, bis wir mit unserem Tee auf einem vor Jahren zurückgelassenen Schlitten in einem hinteren Ecke des Hofs zwischen von Kindern und Erwachsenen gebauten Schneewesen Platz genommen haben. Das Himmel ist voller rosig-grauer Wolken, die im Nacht neues Schnee zu bringen versprechen. So garstig Winter auch ist, es ist ästhetisch as slik. Und endlich erzählt Olge.
Danksagung
Vielen Dank an Annette Juretzki und Katherina Ushachov für einen Blick auf die Sprachnutzung. Außerdem danke an wortverlauf für das Lektorat.