Weg

CN: Gewitter - ein schlimmes Fantasy-Gewitter, Lebensgefahr, Verletzung

Ihr Vater hielt Lilið nicht auf. Die Sache war vorerst geklärt. Als durchaus wichtige, einflussreiche Person hätte er sich wahrscheinlich trotzdem gegen eine Aufnahme seines Kindes im Internat für skorsche Damen auf Frankeroge stellen können, aber dazu hätte er es wollen müssen. Lilið glaubte nicht, dass es gerade Sinn hatte, ihn davon zu überzeugen, es zu wollen. Ein Versuch wäre sinnvoller, wenn er gerade an etwas anderes dachte und nicht so spontan Argumente oder wahlweise auch Sturheit parat hätte.

Sie hatten noch geklärt, dass es nicht sofort losginge, sondern dass Lilið einen knappen Monat Zeit hätte. Lord Lurch hatte also abgesegnet, dass es kein Problem wäre, wenn sie eine Woche bei ihrer Mutter wäre. Vielleicht würden sie dann gemeinsam zurückkommen. Ihr Vater vermisste ihre Mutter sehr.

Lilið bemerkte eher, als dass sie es bewusst tat, dass sie nicht nur Sachen für eine Woche Aufenthalt bei ihrer Mutter packte. Zumal sie Ersatzkleidung und Pflegeutensilien auch bereits drüben hatte. Sie packte auch Dinge, die ihr sehr wichtig waren, für den Fall, dass sie nicht wiederkäme. Sie hatte keine konkreten Fluchtpläne. Aber sie hielt für möglich, auf ihrem Weg oder bei ihrer Mutter welche zu entwickeln, und für diesen Fall wappnete sie sich bereits.

Für den Weg benötigte sie durchschnittlich dreieinhalb Stunden. Ihr Vater oder auch Bedienstete hatten längst aufgegeben, darüber den Kopf zu schütteln, dass sie diese Strecke üblicherweise einmal im Monat zu Fuß zurücklegte. Aber neben Musik half eben auch spazieren dabei, ihren Kopf zu sortieren und sie wieder freier atmen zu lassen.

Dieses Mal brauchte es ganz schön lange, bis ihr Gehirn nicht mehr alles, was in diesem Gespräch unangenehm gewesen war, in Worte zu fassen versuchte, die sie besser verstehen konnte, als dieses vage Gefühl. Am Ende war es auch nicht Sortiertheit in ihrem Kopf, die sie zurück in die Wirklichkeit brachte, sondern die Abenddämmerung gepaart mit grauen Wolken, die sich über den Himmel schoben. Sie befand sich auf dem Feldweg genau zwischen dem Wald, aus dem sie gekommen war, und der Strauchplantage, die wieder Sicherheit bieten würde, als sie realisierte, dass es ein Gewitter war, was sich da über sie ergießen würde. Eines der weniger harmlosen, die sie in ihren Fingern kribbeln spürte und von denen sie wusste, dass sie ihnen eigentlich besser nicht unter freiem Himmel begegnen sollte.

Lilið war nicht der Typ Mensch, der sich mit fürchten aufhielt, wenn es nichts zu entscheiden gab. Hier gab es für sie nur die Möglichkeit, zu rennen und zu hoffen, dass sie die Plantage rechtzeitig erreichen würde. Und zu genießen. Was sollte sie sich mit Gedanken an Lebensgefahr aufhalten, wenn sie die volle Atmosphäre des schwach bunten Geflackere unter den Wolken, des Donnerns und Krachens und der Regenflut in sich aufsaugen konnte. Binnen Sekunden war sie durchnässt. Sie streifte die Schuhe von den Füßen, weil die Sandalen mit dem Wasser darin weniger stabilen Halt auf dem Boden boten und sie damit langsamer war. Ihre nackten Füße patschten über die flache Strömung, die sich auf dem sandigen Weg bildete und sich ihren Weg irgendwo hinab bahnte. Leider waren auch immer wieder kleine Steinchen auf dem Weg. Immer, wenn sich einer davon in Liliðs Fußsohle bohrte, hielt sie einen Moment die Luft an. Das regulierte den Schmerz, sodass sie ihn nur einen Bruchteil eines Moments fühlte. Dann atmete sie wieder bewusst durch und fühlte sich, als wäre nichts gewesen.

Aber kurz bevor sie die Plantage erreichte, ließ sie doch einmal ihr volles Körpergewicht in einen besonders spitzen Stein sinken, weil sie ein lautes Krachen eines Blitzeinschlags hinter ihr davon ablenkte, den Fuß um den Stein herum zu belasten. Er blieb auch für zwei weitere Laufschritte in ihrer Sohle stecken und bohrte sich beim Aufkommen noch tiefer hinein. Sie überlegte rasch, ob sie schneller wäre, wenn sie kurz anhielte, um ihn aus dem Fuß zu ziehen, weil er nicht selber herausfiel. (Seltsamer Stein, aber auch solche kamen halt alle paar Jahre mal vor.) Aber sie entschied sich, leicht humpelnd zu rennen, mit dem verletzten Fuß auf Zehenspitzen.

Es gab keinen weiteren Einschlag in ihrer dichteren Umgebung, bis sie die ersten hohen Buschranken der Plantage erreichte. Es gab sogar einen großen Stein, auf dem sie sitzen konnte, um sich den kleinen spitzen Stein aus dem Fuß zu entfernen. Es war in der Tat ein seltsamer Stein. Er hatte eine flache untere Seite und nach oben hin so etwas wie einen Stachel. Der Fuß sah überraschend übel zugerichtet aus. Da war wohl doch eine Menge Adrenalin in ihrem Blut gewesen, dass sie den Schmerz nur schwach gespürt hatte. Sie nahm ihn auch jetzt kaum wahr, aber das war bei ihr normal. Sie hatte ein recht geringes Schmerzempfinden. Trotzdem verschnaufte sie eine Weile, genoss das Brennen des Atems und die Feuchte, die den Staub aus der Luft wegspülte und den Geruch dem visuellen Eindruck der Umgebung anpasste. Sie beobachtete das Wetterspektakel, das so völlig unbeeindruckt von beliebigen, möglichen menschlichen Wünschen über sie hinwegzog.

Als es nur noch tröpfelte, brach sie wieder auf. Und stellte fest, dass dies ein Nachtmarsch werden würde. Sie unterbrach den Weg gleich nach wenigen Metern noch ein weiteres Mal, um ihren Fuß mit einem Stofftaschentuch zu verbinden, das dazu mäßig gut geeignet war. Es war eher zu klein, sodass es nur durch einen winzigen, friemeligen Knoten um den Fuß befestigt werden könnte und vermutlich alle Nase lang abfallen würde. Sie verzichtete außerdem darauf, mit der Verletzung aufzutreten, selbst wenn nun neben dem Taschentuch auch wieder eine Schuhsohle zwischen Fuß und Boden war. Schon nach einer weiteren halben Stunde Spazierweg, als sie die Plantage passiert hatte und nun wieder Felder ihren Weg einfassten, bemerkte sie, dass ihre Beckenmuskulatur oder andere Muskeln in der Gegend verkrampften, weil sie schief ging.

Mit einem inneren Seufzen wählte sie einen schmalen Abzweig zur Hauptstraße, wo die Kutschen entlangtuckerten. So spät am Abend waren nicht mehr viele unterwegs, aber sie hatte Glück. Kaum hatte sie die Straße erreicht, erblickte sie eine Karrustra ihres Vaters, ein Gefährt, das zwischen seinen Wohnsitzen hin- und herfuhr, um Lieferungen zu transportieren.

Lilið hielt den Daumen raus und entzündete ihn in einer sacht glimmenden, weißen Flamme. Diesen Magietrick lernten sie schon in der Erstschule, aber Lilið erinnerte sich heute besonders wehmütig, wie schwer ihr gefallen war, ihn zu erlernen.

Zu Liliðs Überraschung und Frust wurde die Karrustra nicht wesentlich langsamer. Mehr für eine rasche Mitteilung, weniger, um anzuhalten. Lilið behielt mit der Einschätzung recht.

“Tut mir leid!”, rief die Kutschperson aus dem Fenster hinter der Steuerung. “Ich darf heute niemanden mitnehmen. Vielleicht beim nächsten Mal!”

Lilið hob eine Augenbraue, was vermutlich niemand in der nassen Dunkelheit sah. War das ungewöhnlich? Sie hatte nicht viel Erfahrung damit, per Anhalter mitzufahren. Die zwei Male, die sie es getan hatte, war es noch heller gewesen und sie war vom jeweils ersten Gefährt mitgenommen worden.

Sie senkte gerade enttäuscht den Daumen und wollte sich damit abfinden, dass so etwas wohl vorkam, wobei sie sich schon fragte, warum, als die Karrustra doch hielt.

Die Kutschperson stieg aus und erzeugte einen etwas größeren magischen Lichtschein, der sie und Lilið für einige Augenblicke in milchiges Weiß tauchte. “Ach, Lilið, was machst du denn hier? Ich hätte dich fast nicht erkannt. Ist dir etwas passiert?”

Lilið hatte keinen Plan, wer das jetzt genau war. Und das tat ihr furchtbar leid. Sie hätte gern das gesamte Dienstpersonal gekannt, mit Namen und Gesichtern und Gefühlen, wenn sie letztere hätte erfahren dürfen. Aber ihr fiel das schwer, ein Gesicht von einem anderen zu unterscheiden, wenn sie nicht schonmal ein längeres, intensives Gespräch mit besagtem Gesicht im Blick geführt hatte. Und das ergab sich nun einmal nicht mit dem Dienstpersonal. Schon gar nicht, da Lilið keine allzu gesprächige Person war, wenn sie nicht gerade ein Thema packte.

Lilið versuchte, jene Planlosigkeit zu verbergen. “Ja, aber nichts Schlimmes. Ich habe mir den Fuß verletzt. Das ist alles.”, sagte sie.

“Willst du hinten mitfahren?”, fragte die Kutschperson.

Ihre Stimme war warm und freundlich und wirkte, als würde sie Lilið durchaus in guter Erinnerung haben. Die Tracht war aus schlichtem, grauem Stoff mit hellblauen Einfassungen.

Lilið zögerte. Sie wollte wirklich gern, aber sie wollte die Kutschperson auch nicht in Schwierigkeiten bringen. “Sagtest du nicht, du dürfest heute niemanden mitnehmen?”

Die Kutschperson lächelte. “Ich glaube, beim Kind des Lord Lurchs ist das etwas anderes.”, sagte sie. “Es wäre trotzdem nett, wenn du das vorsichtshalber für dich behältst. Willst du zu deiner Mutter? Klingt das so, als würde ich dich wie ein Kind behandeln?”

Lilið grinste und schüttelte den Kopf. “Ich will zu meiner Mami. Und finde, das darf ich auch mit 19 wollen und so ausdrücken. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn ich hinten bei dir mitfahren dürfte.”

“Da ist es gemütlicher und einsamer als bei mir vorn, was?”, fragte die Kutschperson. “Du warst schon immer gern für dich.”

Lilið nickte, wieder etwas irritiert darüber, von einer Person gekannt zu werden, die sie nicht einordnen konnte. Aber das war nun auch kein seltenes Erlebnis.


Die Karrustra war nicht voll bepackt. Es lagen Stapel gut verpackter, weicher Kleidung darin, die wohl am einen Standort geflickt worden waren und nun zum anderen fuhren. Oder so. Lilið versuchte, ein Verständnis für die Abläufe des Hofstaats zu gewinnen, und sie lag zwar mit der Zeit mit ihren Einschätzungen zunehmend häufiger richtig, aber auch immer noch sehr oft falsch.

Sie legte sich vor der Sitzbank auf den Boden und machte sich ans Werk. Sie hatte neben Rückzug noch einen anderen Grund gehabt, hinten in der Karrustra mitfahren zu wollen. Im Gegensatz zur Kutschperson kannte sie die Karrustra nämlich durchaus ganz gut. Die Sitzbank war ein Kasten, der mit einem nicht ganz trivialen Schloss verschlossen war. Neben Musizieren und Spazieren gehörte auch Schlösserknacken zu den Dingen, die Lilið beruhigten. Oder vielleicht eher in einen anderen Denkmodus versetzten, der innere Ruhe auslöste und ihr guttat, ähnlich, wie Falten das vermochte. Dieses Schloss hatte sie schon einige Male geknackt, während die Karrustra still in der Garage gestanden hatte, aber noch nie während einer Fahrt mit schlechten Sichtverhältnissen.

Sie fühlte ihren ganzen Körper und liebte dieses Gefühl, als sie die Werkzeuge, die sie in ihrer Kleidung immer gut greifbar bei sich trug, durch ihre Finger wandern ließ. Sie spürte die leicht angespannten Muskeln in den Beinen und im Rücken, um gegen das Ruckeln der Karrustra an ruhig zu liegen. Sie steckte sachte das eine Werkzeug in den Schlitz, um das Schloss zart auf Spannung zu bringen, und setzte dann mit dem anderen, spitzeren Werkzeug die Stifte. Sie atmete bewusst dabei, fühlte keine starke Emotion oder gar Frust, wenn sie ihr wieder entgegen sprangen, weil das Fahrzeug über eine Unebenheit holperte, und lernte allmählich die Bewegungen mit einzuberechnen. Es brauchte sicher doppelt so lange wie beim letzten Mal, bis das Schloss aufsprang.

Sie legte die Lade der Kiste vorsichtig auf dem Boden ab, und wagte, mit etwas Licht hineinzuleuchten. Bisher hatte sie die Kiste oft leer vorgefunden, aber manchmal war auch noch etwas Interessantes darin liegen geblieben. Ein einzelnes kleines Edelsteinchen, das niemand vermisste, oder eine Garnrolle mit Silberfaden etwa. Dieses Mal fand sie ein kleines, in ein Tuch eingewickeltes Buch. Es wirkte nicht sehr besonders. Vielleicht war es darin bei einem Buchtransport liegen geblieben. Sie wagte nur einen kurzen Blick hinein. Sie hatte Bedenken, von Texten gefesselt zu werden und dadurch doch bei ihrem Vorhaben entdeckt. Aber die Schrift, die sie erblickte, wenn es denn eine war und nicht nur Flecken, konnte sie nicht lesen. Nun, so etwas packte sie gegebenenfalls nicht weniger. Lilið mochte durchaus auch Rätsel und Schriften.

Kurzerhand suchte sie für das Buch einen guten Platz in ihrem Gepäck, wo es keinen Schaden nehmen würde, und überlegte, dass sie es ja zurückgeben könnte, wenn sie sein Geheimnis gelüftet hätte. Der gute Platz für das Buch war ihre Brotdose, der sie ihr Brot entnahm, das sie nicht gegessen hatte. (Aus gutem Grund, es war da schon seit ihrer letzten Wanderung, weil sie vergesslich war, und roch etwas schimmelig.) Sie wischte die Brotdose außerdem zuvor gründlich aus. Das Buch passte sehr knapp hinein, was gut war, weil es so nicht verrutschen würde. Das Tuch, in das das Buch eingeschlagen gewesen war, passte allerdings nicht auch noch mit hinein. Es wirkte sauber, stellte Lilið fest. Es eignete sich besser als Verband für ihren Fuß als das zu kleine Taschentuch. Kurzerhand schlug sie das schimmelige Brot in ihr blutiges Taschentuch und legte beides zusammen anstelle des Buchs in die Kiste, bevor sie sie wieder schloss und das Schloss einschnappen ließ. Vielleicht war das nicht die freundlichste Idee. Ihr Gedanke war gewesen, dass das Brot erstaunlich buchförmig war. Sie stellte sich den Moment witzig vor, in dem doch eine Person nach dem Buch suchen und stattdessen ein Brot finden würde.

Sie überlegte einen Moment, ob sie die nun wieder verschlossene Kiste noch einmal aufpicken sollte, um das Brot doch nicht dort herumschimmeln zu lassen, aber sie gab die Idee rasch auf, als sie bemerkte, dass sie nun auf Kies rollten, also das Gut des zweiten Wohnsitzes erreicht war.


Ihre Mutter schlief eigentlich schon, als Lilið eintraf, aber das blieb wie erwartet nicht so. Liliðs Mutter hatte sich noch nie nehmen lassen, nach einiger Zeit der Trennung das Wiedersehen ohne Verzögerung zu feiern. Was auch immer gerade anstand, ließ sie liegen, solange es nicht gerade zu einem Brand oder so etwas führte, es zu unterbrechen. Also bestand sie zwar darauf, dass Lilið ihren Fuß nicht nur gründlich auswusch, sondern auch desinfizierte, aber bereitete anschließend ohne Umschweife ein Essen vor, während dessen Zubereitung sie erzählten. Lilið genoss durchaus, so wichtig zu sein.

Sie feierten das Wiedersehen zu zweit in der geräumigen Küche, ein altbacken wirkender Raum mit guter Durchlüftung. Die angenehme Regenfeuchte kroch durch die Fenster und Ritzen herein. Lilið saß am Tisch und zerkleinerte Zutaten, während ihre Mutter aus selbigen einen Eintopf produzierte. Lilið brauchte keine Aufforderung, um mit ihrem Bericht anzufangen, was los war. Aber sie erzählte nicht chronologisch, sondern schichtweise. Zuerst erzählte sie von der neuen Bestimmung ihres Skorems und den Konsequenzen. Es fühlte sich seltsam an, nun die Zahl 160 auszusprechen.

“Kann schon sein, dass sie recht hat, diese Frau Wolle.”, kommentierte ihre Mutter. “Ich wusste schon immer, dass du was drauf hast. Aber darum geht es eigentlich nicht, oder? Du willst nicht auf dieses Internat.”

“Überhaupt nicht.”, stimmte Lilið zu.

Die nächste Schicht, die Lilið darlegte, war diese komplizierte Sache, dass sie sich auf einem Internat für Damen nicht wohlfühlen würde. Ihre Mutter hörte einfach zu. Aber so richtig verstand sie das wohl nicht.

“Du möchtest auch nicht Lord Lurchs Hof, Grund und Schutzbefohlene übernehmen, wenn er mal nicht mehr ist, oder?”, fragte sie.

Lilið runzelte die Stirn, weil sie keinen Zusammenhang sah. Trotzdem nickte sie. “Ich möchte ein Nautika werden. Ich habe es nicht so mit Verwaltung. Das würde ja auch dazu gehören, nicht nur Magie.”

“Ich glaube, er hofft, dass du das irgendwann lernst und alles übernimmst. Er hat sonst niemanden zum Vererben.”, sagte Liliðs Mutter. “Aber ich habe dich auch nie in der Rolle gesehen. Ich wünsche mir, dass du das machen kannst, wovon du träumst. Das ist in dieser Welt nicht leicht. Ich kann mir vorstellen, dass es besonders schwierig für Außenstehende zu verstehen ist, dass du nicht so viel mit Magie am Hut haben willst, wo du so einen hohen Skorem hast. Aber wenn du diese Schule nicht besuchen willst, akzeptiere ich das und helfe dir, einen Weg drumherum zu finden.”

Lilið seufzte und blickte durch das Fenster hinaus in den regennassen Kräutergarten. Ihre Finger wanderten über die Unebenheiten der Tischplatte. An manchen Stellen der Finger fühlte sie noch nach, dass die Einbruchswerkzeuge in die Kuppen gedrückt hatten.

“Im Moment sehe ich als Weg nur weglaufen.” Lilið hatte eigentlich wenig Hoffnung, dass ihre Mutter das gutheißen, geschweige denn ernst nehmen würde, aber wurde überrascht.

“Als auszubildendes Nautika wärest du auch unterwegs. Das sind keine sich beißenden Pläne.”, erwiderte sie.

Lilið nickte und blickte auf. Es überraschte sie zusätzlich und füllte sie mit dem angenehmen Gefühl, als sie selbst wahrgenommen zu werden, dass ihre Mutter den Begriff Nautika für sie geschlechtsneutral verwendete, wie Lilið es getan hatte. Den meisten Leuten fiel so etwas nicht auf. Oder es irritierte sie, sie gingen aber nicht drauf ein und übernahmen es nicht. Und das alles selbst dann nicht, wenn das Gespräch gerade zuvor darum gegangen war, dass sie sich Frauen nicht zuordnete.

Ihre Mutter hörte auf, Hitzemagie auf den Topf zu wirken, kühlte mit der flachen Hand die Henkel herunter, die dabei leicht knisterten, und stellte den Topf auf den Tisch. “Lass uns eine Nacht darüber schlafen. Eine halbe zumindest.”

Die dritte Schicht der Erlebnisse sparte Lilið aus. Ihre Mutter hätte keine Macht gehabt, ihr gegen Herrn Hut und die widerliche Erfahrung zu helfen. Also wäre es eine Belastung gewesen, bei der ihre Mutter sich vielleicht noch mehr Sorgen gemacht hätte als Lilið selbst.


Viel zu früh wachte Lilið am nächsten Morgen auf, als das charakteristische Krähen des Uhnerdrachens sie weckte. Uhner gehörten zu den domestizierten Drachen und legten ziemlich schmackhafte Eier. Sie waren eher nicht so gut im Fliegen, selbst wenn ihnen nicht die Schwingen gestutzt wurden, was sie deshalb hier auch nicht taten. Es musste bloß gelegentlich mal ein verirrter Uhnerdrache wieder von der Straße eingesammelt werden.

Lilið hätte nicht aufstehen müssen, aber wenn ihr Vater nicht in der Nähe war, tat sie so, als wäre sie Dienstpersonal und half überall mit. Sie hatte beide Seiten als Eltern, also wollte sie auch beide Seiten leben. Nun, das klappte natürlich nicht so ganz. Ihr war sehr bewusst, dass es etwas anderes war, sich an manchen Tagen auszusuchen, den Dienst des Dienstpersonals mit zuverrichten, als es immer tun zu müssen, um unter Lord Lurchs Schutz zu stehen. Sie hatte den Schutz einfach so. Das Dienstpersonal musste dafür Verpflichtungen nachkommen, den teils lebenswichtigen Schutz genießen zu dürfen.

Wenn beispielsweise die Kutschperson gestern Nacht einem angreifenden Menschen auf der Straße begegnet wäre, der sie hätte überfallen wollen, hätte die Kutschperson lediglich kurz nachgewiesen, dem Lord Lurch schutzbefohlen zu sein. Dann hätte der angreifende Mensch gewusst, dass er seine Magie nicht mit der der Kutschperson, sondern wahrscheinlich später mit der von Lord Lurch hätte messen müssen. Heimlich stehlen unterband das System allerdings nicht.

Lilið goss die Pflanzen im Haus, putzte Treppen, half bei Feldarbeiten und später bei ein paar Reparaturarbeiten. Erst gegen Abend kam sie dazu, die Schwinge zu spielen. Dazu wurde sie eine Weile in Ruhe gelassen und hatte den Feierraum für sich. Trotzdem war ihr bewusst, dass die Klänge sich durch das ganze Anwesen ausbreiteten und es kein Geheimnis war, was sie spielte.

Später versammelten sich Teile des Dienstpersonals im Feierraum, speisten zusammen und unterhielten sich leise und doch ausgelassen, während sie Liliðs Spiel lauschten.

Lilið wusste nicht genau, wie es funktionierte. Emotionen setzten sich in Harmonien um. Als sie eine gute Stunde gespielt hatte, fühlte sie sich ruhiger, als hätte sie die Sache mit der Übergriffigkeit doch erzählt und wäre noch viel mehr losgeworden. Ein Frust über die Machtlosigeit. Alles hatte sie ohne Filter mit der Musik erzählt, die nur sie verstand.

Als sie sich zu ihrer Mutter an den Tisch setzte, die, weil sie ja kochte, zuletzt zum Essen kam, hatte diese Nachrichten, mit denen Lilið nicht gerechnet hätte: “Ich glaube, dein Vater vermutet, dass du fliehen könntest. Hier werden die Wachen verstärkt.”

Lilið ließ sich nicht anmerken, dass sie ein kurzes Gefühl von Panik und Wut durchströmte, sondern nickte bloß.

“Möchtest du gehen?”, fragte ihre Mutter ebenso leise wie eben. Nicht auffällig leise, nicht so, dass es Umstehende oder -sitzende neugierig machte. Hilfreich war, dass sich eine andere Person an die Schwinge gesetzt hatte und leichtere Melodien klimperte, denen ebenso ausgelassen gelauscht wurde, wie Liliðs Dramatik zuvor.

Lilið überlegte kurz, nickte dann aber wieder. “Ich denke, zurückkommen, wenn ich doch zum Internat wollte, wäre einfacher, als später zu entkommen.”, mutmaßte sie. Allein das Wort ‘entkommen’ fühlte sich so seltsam an.

“Dann schlaf heute Nacht im Besuchshaus.”, empfahl ihre Mutter. “Das ist nicht auffällig, weil du das ohnehin oft machst.”

Das stimmte. Die Hauskatzen hielten sich besonders gern dort auf, und es war im Besuchshaus meist ruhiger und kühler, wenn nicht gerade Besuch da war. Sie nickte. “In Ordnung. Sagst du mir, warum?”

“Ich werde gegen zwei Uhr nachts wegen eines vermeintlichen Einbruchs Alarm schlagen.” Dieses Mal sprach sie sehr leise. “Das wird die Wachen von dort weglocken und du kannst übers Meer fliehen. Oder einen passenden anderen Fluchtweg finden.”