Frühstück bei einer Medika

CN: Tiefes Wasser, Vergiftung, Fiebertraum.

Aus irgendwelchen Gründen dachte Lilið an die Tiefe unter sich. Ihr Kopf malte das Bild schematisch sehr eindrucksvoll: Ihr kleiner Kopf und etwas von den Schultern über Wasser, ihr restlicher kleiner Körper unter Wasser und darunter endlose Tiefe, von der sie den Grund nicht einmal erahnen konnte, voller Fische verschiedenster Größe.

Ein Schauer oder ein Schaudern durchlief ihren Körper, so genau konnte sie das nicht unterscheiden. Das kalte Wasser drang ihren Nacken entlang unter ihre Jacke und durchnässte, was sie darunter trug. Das Wasser floss dort langsam wie Öl, aber kalt wie kleine, schmelzende Eiskristalle. Die Jacke war immerhin eine, die auch zum Segeln gedacht war. Sie lag eng am Körper an, die Taschen waren dicht, und vor allem würde sich die sich bilndende Wasserschicht zwischen ihrem Körper und der Jacke aufwärmen und sie wärmer halten, als jedes weniger dafür gemachte Kleidungsstück das vermocht hätte.

Es war kalt, aber es war ihr im ersten Moment eisiger vorgekommen, als es tatsächlich war. Wasser fühlte sich immer arg kalt an, wenn sich ein von der Sonne und von Aufregung durchgeheizter Körper plötzlich in den Ozean begab. Das Wasser mochte aber seine 12°C haben oder sogar etwas mehr. Das war überlebbar. Selbst, wenn sie einen Kälteschock erlitten haben sollte. Vor allem mit so einer Jacke, wie Lilið sie trug. Zumindest für nicht allzu lange Strecken. Und mit einem unvergifteten Körper. Leider hatte sie eine lange Strecke vor sich und einen zumindest ansatzweise vergifteten Körper. Trotzdem rechnete sie sich Überlebenschancen aus, die nicht vollkommen absurd unrealistisch wirkten.

Sie blickte sich um. Die Schaumkrönchen, die die Reiseschneise der Reiseinseln markierten, hatten sie mit der Fragette schon passiert. Das war ein Glück. Dort, oberhalb der sich aneinander vorbeibewegenden Seenplatten, hätte sie mit starken Strömungen zu kämpfen gehabt. In der anderen Richtung sah sie Land. Die ersten, kleinen Vorinseln, deren genaue Position stets schwer berechenbar war und die deshalb kaum bewohnt waren, wirkten gar nicht so weit weg. Natürlich täuschte das immer. Lilið hatte lange gebraucht, um zu lernen, Strecken, die sie schwimmen wollte, nicht vollkommen zu unterschätzen. Sie war schon als Kind oft zu den alten Fischerpfählen rausgeschwommen. Auch das hatte sie immer leicht gegruselt. An ihnen wuchsen Seepocken und Muscheln. Sie hatte sie immer berühren wollen, aber auch Angst gehabt, die Strecke zurück dann mit einer Verletzung schwimmen zu müssen, weil die Seepocken scharfe Kanten hatten. Auch da hatte es ihr immer etwas bei der Vorstellung gegraut, dass unter ihr so viel Raum für große Fische war. So viel schwarze Tiefe, aus der sie vielleicht mit ihren strampelnden Beinen etwas hätte anlocken können. Aber auch damals war schon immer die viel realistischere Gefahr gewesen, die Strecke zu unterschätzen und ihre Kräfte nicht gut einzuteilen.

Lilið machte erste, ruhige Schwimmzüge und atmete dabei in einem zu den Arm- und Beinbewegungen passenden Rhythmus. Die Panik vor der Tiefe war ihr sehr vertraut. Sie machte sich klar, dass die größeren, gefährlicheren Fischkreaturen selten die Grenze der Seenplatten passierten, weil sie sich vor der Zivilisation der Menschen fürchteten und weil ihnen unter Land zu warm wurde. Hier war eher Lebensraum für kleinere Wasserwesen, die ihr nichts anhaben wollten. Und ob die größeren das wollten, selbst wenn sie doch auf dieser Seite der Schaumkrönchen auftauchten, wäre auch nicht unbedingt gegeben. Sie wären physisch dazu in der Lage, aber Menschen waren selten Beuteziel.

Lilið wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu hetzen. Und gleichzeitig wusste sie, dass sie in ein paar Stunden das Fieber durch das Gift einholen würde. So klein die Dosis gewesen war, es würde nicht ohne Fieber an ihr vorbeigehen. Sie wusste, dass es sinnvoll gewesen wäre, den Körper nicht zu sehr zu belasten, bevor es eintreten würde, aber sie hatte keine Wahl. Sie würde so um die zwei Stunden stur schwimmen müssen, schätzte sie. Ein Schwimmzug nach dem anderen. Sie atmete ein und ins Wasser aus. Sie sang dabei eine monotone Melodie, jedes Mal, wenn sie ausatmete, einen langen Ton. Das hatte sie immer getan, um dem Schwimmen einen weiteren Sinn zu geben, und es beruhigte sie auch jetzt. Mehrfach kämpfte sie den Impuls nieder, schneller zu schwimmen, damit sie es rascher hinter sich hätte. Aber das hätte sie verausgabt, bevor sie auch nur in die Nähe des Ufers gekommen wäre. Sie versuchte, nicht über die Entfernung nachzudenken, als das Schwimmen viel mehr wie eine meditative Beschäftigung aufzufassen. Sie versuchte, – und das sogar nicht ganz vergeblich –, das Schwimmen zu genießen. Den Geschmack des Salzes im Mund, das beruhigende Wasser, die Wellen, an die sie ihren Atemrhythmus anpasste, damit sie beim Ausatmen durch sie hindurch tauchte.

Als sie so dicht an den Inseln war, dass es schon Sinn ergab, nicht einfach nur grob in ihre Richtung zu schwimmen, sondern gezielt eine von ihnen anzupeilen, pausierte Lilið ein wenig und beobachtete sie, sowie die Strömung, die sie an den Richtungen der Wellen ablas und am Sog an ihrem Körper spürte, die Wolken und den Wind. Sie schätzte ein, dass sie eher die Insel links von der ihr nächsten anpeilen sollte, denn wenn sie die Strecke überwunden hätte, wäre sie wohl schon so weit weitergereist, dass sie dann die ihr nächste wäre. Lilið hatte das Fach Nautik immer Spaß gemacht und sie hatte sich auch über den Unterricht hinaus in ihrer Freizeit mit Nautikaufgaben beschäftigt. Sie war gut darin gewesen. Nun wären ihre Fähigkeiten in dem Fach also wohl das erste Mal entscheidend.

Vielleicht eine weitere Stunde später, – Lilið hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren –, erreichte sie die Schwimmkante der Insel. Die Kante, an der von der reisenden Insel aus gesehen der Grund steil abfiel, weil der daran angrenzende Grund nicht mehr zu ihr gehörte. Sie hatte recht gehabt: Diese Insel hatte sich so bewegt, wie sie es sich ausgemalt hatte. In ihrem ermatteten Gehirn war sogar ein wenig Platz für Stolz übrig.

Die Schwimmkante hatte sie durch den rapiden Temperaturanstieg des Wassers bemerkt. Nun war ihr auf einmal zu warm. Aber das konnte auch das Fieber sein. Wenige Schwimmzüge später konnte sie endlich stehen. Ungeduldig versuchte sie zu gehen, aber dazu war es noch zu tief. Sie erreichte den sandingen Grund nur mit den Zehenspitzen. Also tat sie doch noch ein paar Züge, und als sie endlich mit den Schultern aus dem Wasser ragen konnte, schleppte sie sich an Land. Ihr Körper, so lange getragen von Salzwasser, fühlte sich schwer an. Es war ein wunderschöner Sandstrand, aber sie hatte gerade keinen Sinn dafür. Sie war hier ja schließlich nicht zum Badeurlaub.

Sie taumelte den Strand hinauf, so weit weg von der Brandung, wie der Strand es zuließ, damit das Wasser sie nicht wegspülen könnte, wenn sie schliefe, und sank, erschöpfter als Menschen irgendwie erlaubt sein sollte, in den Sand. Sie spürte, wie das Fieber ihren gestressten Körper erfasste und durchschüttelte. Ob sie einschlafen könnte?


Eine Stimme drang in Liliðs Bewusstsein. Eine Kinderstimme hatte ihr eine Frage gestellt. Durch die dichte Substanz aus Traum, die sie umwaberte, drang das “Hallo?” nur schwer hindurch. Musste sie es beantworten? Brauchte sie dafür nicht noch irgendetwas? Etwas Gelbes. Und sie musste eine Aufgabe erfüllen, um das Gelbe zu bekommen.

Sie öffnete ein Auge und sah einige Schritte von sich entfernt eine kleine Gestalt stehen. Ein sicherer Abstand. Das konnte sie verstehen. Sie hatte ja diese Fangzähne. Liliðs Gehirn lieferte eifrig die Begründung nach, warum sie nun diese Fangzähne hatte: Sie war zu lange im Meer geschwommen, und zwar nicht nur nah vor Ufer, sondern zu weit draußen. Sofort war sie gedanklich wieder dort und schwamm, ohne ein Ende in Sicht, im tiefen, weiten Meer, gegen Strömungen an, gegen die sie nur eine Chance hätte, wenn sie diese Aufgabe erfüllte.

Lilið realisierte, dass sie halb in einem Fiebertraum gefangen war, der sich mit der Realität vermischte. Aber sie konnte nicht trennen, was was war. Sie wusste nicht, woran sie sich hätte entlanghangeln müssen, um zu trennen, welche Gedanken sie gerade ernst nehmen sollte und welche zur Traumschicht gehörten. Das brachte sie zu der Aufgabe zurück, die sie lösen musste. Dabei ging es um etwas Gelbes. Es war wichtig, herauszufinden, was das Gelbe war. Es hätte ihr klar sein müssen. Wenn sie wach gewesen wäre, hätte sie es vielleicht gewusst. Dann wäre die Aufgabe, die sie gerade kaum greifen konnte, vielleicht einfach gewesen.

Sie wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, als sie eine zweite Stimme hörte. Dieses Mal eine ältere. Sie stellte die selbe Frage. Und sagte dann: “Hol Hermen und Berne mit der Trage, ja? Das Geschöpf ist zu schwer, als dass ich es selbst tragen könnte.”

Die ältere Stimme war näher, als die Kinderstimme vorhin. Vielleicht war es die Kinderstimme von vorhin, oder eine andere, die einen unsicheren, aber klar bestätigenden Laut von sich gab. Lilið schloss aus den wenigen Geräuschen, die das machte, dass das Kind den Auftrag ausführend weggelaufen war. Aber sie war sich auch nicht sicher, in ihren Ohren rauschten so verschiedene Geräusche. Wie Wind. Oder Strömungen?

Lilið fühlte eine kühle Hand auf der Stirn. Die Traumschicht wirkte weniger dick als vorhin, aber schwerer, wie eine durchnässte Filzdecke. Daher schaffte sie es nicht, die Augen zu öffnen, obwohl das sicher höflich gewesen wäre. Sie war gerade fertig, sich Gedanken dazu zu machen, dass sie einfach nicht konnte, als die Person nach dem Verschluss ihrer Jacke griff, um diese zu öffnen. Lilið riss die Augen ohne Mühe auf, erhob den Oberkörper ein Stück und sackte wieder zusammen. “Nicht ausziehen!” Die Stimme ein energisches Flüstern, das sich anfühlte wie Seife im Hals.

“Du solltest aus den nassen Sachen.”, empfahl die neben ihr kniende Person ruhig. “Ich bin Medika. Ich tu dir nichts, ich möchte dir helfen. Weißt du, ob du verletzt bist?”

“Vergiftet.”, korrigierte Lilið sachlich. Sie hob die schweren Arme, der Empfehlung folgend, um selbst die Jacke zu öffnen. Sie nahmen einen ungewöhnlich flachen Weg zu den Verschlüssen, weil sie so schwer und labberig waren.

“Du weißt nicht zufällig den Wirkstoff?” Die Stimme klang freundlich.

Lilið hätte ihr fast reflexartig vertraut, aber sperrte sich noch dagegen. Trotzdem informierte sie ohne Umschweife: “Gelbwurz.”

Die freundliche Stimme lachte leise. “Das ist kein Gift.”, sagte sie. “Mit dem Gewürz müsstest du dir schon den Magen vollgeschlagen haben, damit es dir schadet.”

Lilið war fertig mit den Verschlüssen und versuchte, sich die Jacke abzustreifen. Sie kam nicht weit, aber dort, wo die Luft am Brustkorb die nasse Kleidung darunter berührte, fror sie sofort bitterlich. Was war das für ein Medika? Kannte sich mit Giften nicht aus und empfahl ihr, die Jacke auszuziehen, die sie so sehr geschützt hatte. Aber ein kleiner Teil in Liliðs Gehirn verstand, dass das durchaus einen Sinn haben mochte. Sie wusste nur nicht genau, ob dieser Teil zu ihrem Traum gehörte, der ihr unsinnige Aufgaben stellte, die sie nicht zur Gänze verstand. Jedenfalls wehrte sie sich nicht, als die Person eine Hand auf ihr Brustbein legte, und einen Finger an ihre Halsschlagader. Das war typisch für Medikae, so etwas zu tun.

“Puls und Körpertemperatur sprechen für mittelstarkes Fieber und schwere Erschöpfung. Du hast recht, dass du keine blutenden Verletzungen hast, weder äußerlich noch innerlich. Das ist gut.” Viele Medikae konnten so etwas mit ein wenig Magie über den Blutfluss spüren, wenn sie guten Zugang zu Information bezüglich Blutversorgung hatten. “Es gibt einige Gifte, die auf Wurz enden. Bist du dir sicher mit Gelbwurz?”

Lilið schüttelte schwach den Kopf. Dabei wurde ihr schwindelig.

Das Medika hatte recht. Lilið hatte Namen durcheinandergebracht, aber der richtige fiel ihr nicht ein. Sie hatte ihn doch immer parat. Sie hatte gern in der Schule so getan, als hätte sie immer ein Fässchen davon bei sich, weil sie den makaberen Gedanken daran gemocht hatte. Sie versuchte, über die Jugenderinnerung den Namen zu angeln, aber merkte, dass sie in diese abdriften würde.

“Ich muss dagegen Brot essen und trinken.”, gab sie also Anweisungen, statt den Namen des Gifts weiterzusuchen. “Und schlafen. Und vielleicht hilft Stiftkohlenstaub.”

“Das habe ich da.”, versicherte das Medika.

Richtig, das wäre bei Medikae auch arg unwahrscheinlich gewesen, dass sie so etwas nicht da hätten.


Lilið fühlte sich unbehaglich, wie sie so wehrlos von den zwei starken Menschen, die hinzugekommen waren, auf eine Liege gelegt und über die Dünen durch die Gegend transportiert wurde. Sie versuchte, die Augen offen zu halten, um sich den Weg zu merken. Aber wozu eigentlich? Sie kam vom Strand, nicht von einem Ort, der ihr Schutz geboten hatte, an den spezifisch zurückzukehren sich lohnte. Sie musste grinsen, als ihr klar wurde, wie wörtlich sie gestrandet war.

Durch einen weiteren Fieberschub hatte sie verpasst, wie sie schließlich in einen Raum gelangt war. Der Mensch, den das Medika Berne genannt hatte, hielt sie, damit sie nicht umkippte, während das Medika sich nun doch durchsetzte und sie auszog. Berne wirkte nicht wie eine Person, die die Lage ausgenutzt hätte, um sie an irgendwelchen Stellen sexualisiert anzufassen. Beide fassten sie einfach zweckgemäß an.

“Ich werde deine Jacke über den Stuhl neben deiner Liege hängen, auf sie aufpassen und nicht weiter anrühren.”, versprach das Medika. Es hatte wohl gemerkt, schloss Lilið, dass sie sich dagegen wehrte, dass sie ihr abgenommen wurde.

Lilið hatte nicht die Absicht, zu vertrauen, aber sie hatte auch keine Wahl, als zu akzeptieren, dass die Jacke wohl nun eine Weile nicht so sicher bei ihr war, wie sie das gern gehabt hätte. Sie fühlte sich tatsächlich wohler, als die Meeresnässe von ihrem Körper abgerieben worden war, nun nur noch die Fiebernässe blieb und auch die weite Kleidung, die ihr übergestreift worden war, trockener war, als es Liliðs Fantasie gerade zugelassen hätte. War das überhaupt gut? War sie nicht jetzt ein Meereswesen?

Lilið dachte über ihre Fangzähne nach, und dass sie sich an das Haigebiss gewöhnen könnte, als sie einschlief und in einen ruhigeren Traum überglitt.


Als sie wieder aufwachte, fühlte sie sich nicht mehr fiebrig, nur noch sehr erschöpft, als wäre sie eine Woche sehr krank gewesen. Ihr Kopf war wieder wach und ihre Gedanken klar. Ihr Blick wanderte zum Stuhl neben dem Bett, wo wie versprochen unverändert die Jacke hing. Dann durch den Raum. Niemand war hier.

Vorsichtig und leise stand Lilið auf. Ihr Körper war schwer, aber ließ sich ganz gut kontrollieren. Ihre Knie fühlten sich noch weich an. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Der Atem fühlte sich etwas flatterig an, aber sie bekam genug Luft. Vorsichtig wagte sie sich an ein paar Dehnübungen und Kniebeugen. Anschließend ging sie im Zimmer auf und ab. Das machte die Sache eher besser. Ihr Körper gewöhnte sich daran, sich wieder zu bewegen.

Dann war es wohl am sinnvollsten, abzuhauen. So nett es auch war, dass diese Leute ihr geholfen hatten, sie sollte so wenige Spuren wie möglich hinterlassen. Sie wusste auch nicht, wie es bei fremden Medikae abliefe. Ob sie ihnen mitteilen müsste, wem sie schutzbefohlen wäre, damit so etwas wie Schuld beglichen würde? Oder ob sie dafür eine Marke bräuchte? Sie war noch nie bei Medikae gewesen, die nicht zu Lord Lurchs Hofstaat gehört hätten, und eben auch immer in der Rolle seines Kindes.

Sie scheute sich davor, die trockene Kleidung, die sie am Körper trug, zu stehlen. Also beschloss sie, die noch klamme Kleidung anzuziehen, die im Zimmer auf einem Ständer trockente. Wurde in diesem Haushalt immer Kleidung im Krankenzimmer getrocknet, oder machten sie es ihretwegen, damit sie sie im Blick behalten konnte?

Bevor sie sich umzog, überzeugte sie sich davon, dass das Buch und der Brief noch an Ort und Stelle waren. Sie war erleichtert, als sie feststellte, dass die Tasche auch über diese lange Zeit hinweg unter Wasser dicht gehalten hatte. Zumal sie sie kleiner genäht hatte und darin nicht übermäßig geschickt war. Aber der Faden war von einer Beschaffenheit, dass er sich ausdehnte, wenn er mit Wasser in Berührung kam, und sofort abdichtete.

Dieser olle Brief. Er war so schön geschrieben, erzählte so wundervolle Dinge. Er fühlte sich so sehr nach Marusch an. Und gleichzeitig war in ihm eine Nachricht verborgen gewesen, die sie gern vorher entdeckt hätte. Auf so eine einfache Kodierung hätte sie auch mal früher kommen können. Es ärgerte sie beinahe im Nachhinein, hätte Ärger nicht zu viel Energie benötigt. Die Anfangsbuchstaben der Sätze bildeten “Vergiftungsgefahr durch Allil”. Deshalb war der erste Teil des Briefs auch so ein langer Textblock ohne Absatz gewesen. Weil das Wort “Vergiftungsgefahr” so lang war.

Es war einfach, aber geschickt eingewoben, dachte sie erneut. Sie würde in Zukunft jeden Brief, den sie bekäme, auf geheime Botschaften untersuchen!

Sie hatte sich gerade fertig umgezogen und machte Antsalten, zum Fenster hinauszusteigen, als das Medika sich in den Türrahmen lehnte und sie schmunzelnd anblickte. “Ich werde dich nicht aufhalten, aber du kannst auch noch ein Frühstück bekommen, bevor ich das nicht tun werde.”

Lilið verharrte. Ihr erster Gedanke war, dass sie beim Essen leicht vergiftet werden könnte. Ihr zweiter, dass sie nicht allzu bald einfach an Essen gelangen würde. Sie war auf einer der kleinen Inseln, die erfahrungsgemäß wenig bewohnt waren, und sie müsste stehlen. Wenn sie dann dabei erwischt würde, würde es nur umso schwieriger werden, von hier wegzukommen, oder gar unmöglich. Ihr dritter Gedanke war, dass es schon sehr unwahrscheinlich wäre, von einer Person erst gesundgepflegt und dann wieder vergiftet zu werden.

“Lärchenwurz war es.”, erinnerte sie sich.

“Hui, aber nicht viel!”, erwiderte das Medika. “Ich bin Barb. Ich bin die Medika auf dieser Insel, auf der du gestrandet bist, die den Namen Schleseroge trägt. Vielleicht ist das für dich auch hilfreich zu wissen.”

“Danke für alles überhaupt.”, fiel Lilið zu sagen ein.

Sie atmete noch einmal bewusst den Salzwind ein, der durch das Fenster hereinwehte, und ließ den tiefen Atemzug wieder entweichen. Dann trat sie zurück in den Raum.

“Wenn du möchtest, wechsel deine Sachen ruhig noch einmal und häng die, die du aus den Augen lassen magst, draußen auf die Leine in den Wind. Dann sind sie vielleicht trocken, wenn du gehst.”, empfahl Barb.

Lilið zögerte nur noch einen Moment, dann nickte sie. “Danke!”


Lilið hatte nur mäßige Schwierigkeiten, sich zurecht zu finden. Zum Aufhängen ihrer klammen Anziehsachen brauchte sie zum Beispiel Wäscheklammern. Ihr suchender Blick war dem Kind wohl aufgefallen, das sie beobachtete. Es hielt einen Abstand von mehreren Metern. Lilið musste an ihr Haifischgebiss denken, dass sie natürlich nicht hatte, sondern das ein Auswuchs ihres Fiebertraums gewesen war. Aber einer, der ihr gar nicht so schlecht gefallen hatte. Die Aufgabe mit dem Gelb, an die sie sich nicht genau erinnern konnte, war fieser gewesen.

Vielleicht war es das Kind von gestern. Jedenfalls war es freundlich und reichte ihr schließlich wortlos Klammern, als es verstanden hatte, wo das Problem lag. Dann vergrößerte es den Abstand wieder.

Das Kind saß auch mit am Frühstückstisch und redete die ganze Zeit kein Wort. Niemand drängte es. Lilið fragte sich, ob sie früher auch so still gewesen war. Das war gut möglich.

Es gab gutes Brot, Obst, etwas Gemüse und Aufstrich. Lilið fiel erst etwas verspätet auf, dass es kein Fleisch gab. Ob das daran lag, dass sie von niedrigem Stand waren? Sie hatte keine Vorstellung vom Gefüge hier, aber wie sollte sie so etwas erfragen? Und dann auch noch respektvoll?

“Wäre vorgesehen, dass ich irgendetwas als Gegenleistung erbringe?”, fragte sie vorsichtig.

Barb lächelte ein breites einladendes Lächeln. “Nein, hier nicht.”, sagte sie. “Aber dass du fragst, spricht dafür, dass du dich nicht auskennst. Dann solltest du wissen, dass es hier etwas Besonderes ist und es anderswo auf der Welt anders abläuft. Wir haben auf dieser Insel eine Kommune gegründet, die etwas außerhalb der Regeln der Monarchie-Bündnisse funktioniert.”

Lilið unterbrach das Essen und legte ihr beschmiertes Brot ab. Das klang sehr interessant. Und schön! “Kann ich einfach hier bleiben?” Sie lachte vorsichtig etwas verlegen. “Was für eine freche Frage.”, kommentierte sie sich selbst. “Ich nehme an, selbst wenn ihr einfach Leute in eure Kommune aufnehmt, müssen sie ihren Anteil leisten oder so etwas. Ich weiß überhaupt nicht, ob Sinn ergibt, was ich frage.”

“Wenn du bliebest, wäre es gut, wenn du deinen Anteil leistest, wenn du kannst, aber es gibt keine Erwartungshaltung oder Verpflichtung.”, antwortete Barb. “Die Sache funktioniert, weil alle, die hier leben, dahinterstehen. Du kannst dir vielleicht eine sehr große Familie vorstellen, in der wir die Arbeit, die eben da ist, so aufteilen, dass es möglichst allen gut geht. Und wenn was nicht geht, geht es halt nicht.”

Lilið merkte, wie allein die Vorstellung sie erleichterte. Und wie sie Barb merkwürdigerweise doch vertraute. Das wäre auch eine zu abgefahrene Geschichte, um sie mit irgendwelchen betrügerischen Absichten vorzutragen. “Es klingt wunderschön!”

“Es hat nicht nur Vorteile und ist nicht nur rosig. Aber ich will es keinen Tag missen.”, erwiderte Barb. “Schleseroge ist eine kleine Reiseinsel mit etwas chaotischen Bahnen. Wir sind häufig weit ab vom Schuss. Das macht Kontakthalten zu Leuten außerhalb recht schwer. Wir sind hier also ziemlich isoliert. Und wenn wir doch mal nicht so autark sein können, wie wir eigentlich wollen, ist es herausfordernd, weil wir keine rettenden Notanker zu einer ausgewählten und eingeweihten festen Insel in der Umgebung aufrecht erhalten können.”

Lilið verstand die Nachteile sofort. Wenn sie hier wohnen würde und irgendwann ihre Eltern besuchen wollte, dann wäre sie gerade am nächsten dran, aber im Winter müsste sie vermutlich um den halben Globus reisen. “Habt ihr hier Nautikae?”, fragte Lilið.

“Was glaubst du? Eine Reiseinsel ohne Nautikae?” Barb wirkte amüsiert. Und gleichzeitig klang sie warm. “Klar! Wir haben zwei. Und doch könnten wir mehr Expertise auf dem Gebiet gebrauchen. Bist du Nautika?”

Lilið schüttelte den Kopf. “Noch nicht. Das ist nur mein Traumberuf.”

Eine Weile widmeten sie sich still dem Essen. Liliðs Frage vom Anfang war halbwegs beantwortet. Sie gehörten hier sozusagen zu gar keiner Gesellschaftsschicht. Warum kein Fleisch auf dem Tisch war, war damit nicht beantwortet. Vielleicht brauchte es weniger Platz, sich von Gewächsen zu ernähren, und sie hatten für ihre Kommune nur diese eine kleine Insel.

Lilið spielte tatsächlich mit dem Gedanken, zu bleiben. Sie hatte gut verteiltes Wissen und Können. Sie hatte eine solide Ausbildung genossen. Sie war nicht sehr gut in Magie, aber das war hier vielleicht auch nicht so nötig. Sie mochte Barb und das Kind. Auf der anderen Seite war ihre Menschenkenntnis nicht die beste. Und ein paar Wochen hierzubleiben, um herauszufinden, ob ihr Eindruck sich über die Zeit hielt oder änderte, würde bedeuten, dass sie irgendwo anders, sehr weit weg, in der Welt landen würde.

Sie konnte nicht bleiben. Da die Vertauschung, wenn auch mit unschönen Hindernissen, erfolgreich verlaufen war, war ihr Plan nun, den Blutigen Master M zu finden. Ihr Vater schwebte in Gefahr. Und ihr bester Anknüpfpunkt war Marusch.

Bei der Überlegung ging ihr auf, dass, wenn sie den verschwundenen Wertgegestand fände und ihrem Vater zurückbrächte, zumindest wenn sie es selbst täte, tatsächlich Allil am Internat für skorsche Damen mit Pech auffliegen könnte. Daran hatte sie nicht gedacht. Ein wenig verstand sie Allils Motivation, sie vorsichtshalber umzubringen, schon. Aber wäre für den Fall der Fälle weitere Absprachen zu treffen nicht auch eine Option gewesen? Dass Lilið Allil informieren würde, wenn sie ihren Vater besuchen würde, sodass Allil zu dazu passenden Zeiten das Internat verlassen würde?

“Wenn ich gehe, finde ich Schleseroge vermutlich nie wieder, oder?”, fragte Lilið.

“Tatsächlich ist die Insel nur in den sehr präzisen Rotationsseekarten verzeichnet. Wenn du wirklich Nautika wirst, hast du eine Chance.”, widersprach Barb. Und fügte hinzu: “Du möchtest also doch nicht bleiben.” Lilið konnte nicht lesen, ob Enttäuschung mitschwang oder nicht.

“Puh!”, seufzte Lilið. “Ich würde schon gern. Aber da draußen schweben Leute in Gefahr, denen ich helfen möchte. Und ich kenne hier bisher nur euch.”

“Hast du ein bestimmtes Ziel? Vielleicht können unsere zwei Nautikae dir helfen. Hermen hast du gestern im Fiebertraum schon beinahe kennen gelernt.”


Einen halben Tag später saß sie wieder in eigener Kleidung und mit einem Sack Proviant, den ihr Barb freundlicherweise vermacht hatte, tatsächlich mit Hermen zusammen in einer kleinen Jolle mit Kurs auf Angelsoge. Schleseroge hatte derzeit ein recht hohes Tempo gen Süden drauf, sodass sie die große Insel Angelsoge schon heute passierte. Es war die Insel, auf der der Ball stattfinden würde. Aber das musste nicht heißen, dass sie ihn rechtzeitig erreichen würde. Die Insel war noch um einiges größer als die ganze nederoger Inselvereinigung, zu der die namengebende Hauptinsel ihres Vaters gehörte.

Der Wind war böig, doch Hermen verstand sein Segelhandwerk gut. Sie brauchten nur wenig Absprache, um ein eingespieltes Team zu sein. Und wie die Jolle schräg gegen den Wind in die Wellenkämme schnitt und ihr Gesicht als Resultat davon mit Wasser überspült wurde, gab ihr Lebensfreude zurück, die sie schon lange nicht mehr so sehr gefühlt hatte. Sie war nicht mehr Teil des Monarchie-Systems. Sie war frei und würde eine Weile im Untergrund leben. Und sie lebte noch. Sie wusste noch nicht wie, aber wenn sie ihre Mission erfüllt hätte, den Blutigen Master M oder den verschwundenen Anteil des Schatzes der Monarchie zu finden, würde sie Nautika werden und dann vielleicht nach Schleseroge zurückkehren. Oder anderweitig über die Meere schippern.