Einbruch und Aufbruch
CN: Brandverletzungen, Ableismus, Transfeindlichkeit, Misgendern, sexuelle Übergriffigkeit, Einbruch, Alkohol.
“Lilið!” Maruschs Flüstern klang fast wie ein Flehen.
Lilið hielt ihren zusammengebrochenen Körper immer noch in ihren Armen. Sie hatte Maruschs Körpergewicht gewaltig unterschätzt, fiel ihr dabei auf. Maruschs Knochen im kraftlosen Körper gaben zwar auch ein wenig Halt und verlagerten Gewicht in den Boden, aber das übrige Gewicht trug Lilið. Sie klammerte ihre Arme um den Körper und grub ihre Lippen und Nase, sowie ihren Atem vorsichtig und sanft in Maruschs Haar. “Ich bin da.” Was sollte sie sonst sagen? Es erschien ihr eigentlich nicht sehr hilfreich, über diese Offensichtlichkeit zu informieren. Aber vielleicht half ihre Stimme ja.
Immer wieder flackerten kleine blaue Flämmchen um sie auf. Nur kurz und meistens nur auf dem Boden um sie herum, aber manchmal auch auf Maruschs Haut. Sie brannten, wo sie Lilið berührten, aber nicht so sehr, dass sie Brandblasen hinterlassen würden, höchstens gerötete Stellen. Es war wie ein Weinen, fand Lilið, nur dass die Heulkrämpfe keine Tränen hervorbrachten, sondern Feuer. Feuer war also Maruschs Magie, schloss Lilið. Das hatte sie nicht zum ersten Mal festgestellt. Sie mochte es, weil es sie an ihre Mutter erinnerte.
Und die Magie war gerade besonders stark, weil Marusch emotional etwas neben der Spur war, überlegte Lilið. Das hatte sie vor allem bei sich schon oft beobachtet, aber auch nicht selten bei anderen, dass Magie in solchen Fällen besonders greifbar war.
“Lilið!” Dieses Mal war das Flüstern schon etwas sachlicher. “Wir müssen hier weg.”
“Also nicht erst schlafen?”, versicherte sich Lilið.
Wieder loderten die Flammen auf, und dieses Mal bis in Maruschs Gesicht und Haar. Lilið verbrannte sich die Lippen und gab versehentlich einen kurzen, zischenden Laut von sich, als sie die Luft anhielt, um den Schmerz auszublenden. Sie schloss vorsichtig, dass es für Marusch eine sehr schlimme Vorstellung wäre, noch eine Nacht hier zu bleiben.
Eigentlich hatte sie Marusch nicht mitbekommen lassen wollen, dass ihr etwas weh tat. Weil es nicht schlimm war, dass es so war, aber Marusch es sicher belasten würde, als wäre es schlimm. Daher ärgerte sie sich ein wenig, dass sie sich nicht besser zusammengerissen hatte, sondern ihr dieser Laut entwischt war.
“Ich will dir nicht weh tun!” Das Flehen war in Maruschs Stimme wieder zurückgekehrt. Dieses Mal war es außerdem kein Flüstern mehr, sondern ein gepresstes Murmeln. “Ich will keine Last für dich sein. Ich will dir keine Schwierigkeiten machen. Ich würde dir am liebsten sagen, lass mich gehen, lass mich allein!”
Lilið klammerte die Arme bei diesen Worten reflexartig noch fester um Marusch. Dann ließ sie sie doch wieder lockerer. “Ich sollte dich nicht davon abhalten zu gehen, wenn es ist, was du willst.”, antwortete sie. “Aber ich habe das Gefühl, das ist irgendwo in deinem Inneren doch nicht, was du willst. Dass da ein ‘aber’-Teil fehlt.” Trotzdem spürte sie Angst. Sie wusste nicht einmal so genau, wovor. Denn zu ihrer Überraschung war es keine Trennungsangst.
“Als Gespann haben wir eine Chance bis Nederoge.”, sagte Marusch, nun wieder fast sachlich. “Alleine sieht das schlecht für dich aus. Es ist ein recht pragmatisches ‘aber’.”
Es war nicht ganz das, was Lilið erwartet hätte, aber es passte ins Bild, überlegte sie. Marusch hatte davon erzählt, gefühlstot zu sein, außer die Wut oder Trauer tauchte auf. Und die Wut, oder vielleicht sogar viel mehr der Hass, bezog sich auf irgendetwas, was beim Essen auf der Terasse vorgefallen war. Das Gefühl war so stark, dass es die Verliebtheit verdrängt hatte. Oder so etwas in der Richtung. Mit dem Part der Analyse war sich Lilið nicht ganz sicher. Jedefalls passte für sie ins Bild, dass derzeit kein Gefühl Marusch dazu verleitete, bei Lilið zu bleiben, sondern dieser Pragmatismus. Dass sie zusammenreisen mussten, war die logische Konsequenz daraus, dass Marusch es sich zum Ziel gesetzt hatte, Lilið zu helfen, zu überleben. “Sehr aufopferungsvoll.”, kommentierte Lilið. “Aber in Ordnung. Wir ziehen weiter.”
“Fühlt es sich mies für dich an, dass ich für dich gerade nichts empfinde?”, fragte Marusch leise.
“Das stimmt so nicht.”, korrigierte Lilið. Es amüsierte sie fast, dass sie nun auch so sachlich dabei klang. “Du empfindest für mich anders, ja. Du fühlst gerade die Verliebtheit nicht, wenn ich das richtig wahrnehme. Aber du hättest nicht meinen Namen gefleht, wenn da gar keine Gefühle wären.”
Lilið hätte kaum damit gerechnet, dass der Körper, den sie festhielt, noch kraftloser werden könnte. “Ich weiß es nicht.”, flüsterte Marusch. “Vielleicht war da vorhin noch etwas. Ich weiß nicht einmal, was.”
“Ich auch nicht.”, antwortete Lilið. “Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Selbst wenn nicht. Selbst wenn du nichts für mich fühlst im Moment. Du hast mir von deiner Gefühlsleere erzählt, und ich habe dir gesagt, dass ich dich auch damit mag. Das meine ich so. Ich habe nicht erwartet, nur eine alberige, verspielte, romantische Marusch voll Schalk und warmer Gefühle in meinem Leben zu haben. Ich will dich ganz und gar darin haben und nicht nur Teile von dir. Ich will es nicht anders. Also, solange du darin gehabt haben willst.”
Weil Marusch sich einen Moment gar nicht rührte, befürchtete Lilið, eventuell doch wieder wie vorhin etwas Schlechtes gesagt zu haben. Vielleicht noch etwas Schlimmeres, sodass Marusch sich nun beherrschen musste, nicht wieder Flammen über ihre Haut rinnen zu lassen, weil sie noch sengender geworden wären.
Aber stattdessen kühlte der Körper, den Lilið umklammert hielt, schließlich ab und begann, sich wieder mehr selbst zu halten. “Lilið.”, flüsterte Marusch abermals.
“Du magst meinen Namen wohl, schätze ich!”, konnte Lilið sich nicht abhalten zu sagen. Kurz darauf fürchtete sie wieder, dass Albernheit gerade vielleicht unpassend wäre.
“Ja, sehr.”, bestätigte Marusch zu ihrer Erleichterung einfach. “Und dich, wenn ich gerade etwas fühlen würde.” Marusch löste sich aus der Umarmung und blickte ihr ins Gesicht. “Wenn ich wieder etwas sortierter fühle und du dann immer noch so fühlen solltest, sagst du es mir dann noch einmal?”, bat sie. “Oh, großer Fosh, kostet mich das Mut, das zu fragen. Ich komme mir so ausnutzend vor. Aber es ist die schönste Liebeserklärung, die ich je gehört habe, und ich würde sie gern einmal fühlen.”
Lilið nickte. Sie versuchte halbwegs erfolgreich, die Tränen herunterzuschlucken, die ihr kamen. Vielleicht an Maruschs statt, aber das wollte sie eigentlich nicht einmal denken. Es war ein uraltes Misskonzept, dass Leute, denen schlimme Dinge passierten, die aber kein Leid darüber fühlten, im Allgemeinen etwas davon hätten, wenn andere an ihrer statt ihre Gefühle fühlten. Das konnte, im Gegenteil, auch sehr stressig für sie sein. “Wenn sich nichts ändert, sage ich dir das gern auch immer wieder.”, sagte sie mit stolpernder Stimme. Ihre Atemwege waren verklemmt, weil sie gerade sehr viel fühlte. Nein, nicht an Maruschs statt, wie sie nachträglich analysierte, sondern weil sie sich gut dafür fühlte, die Worte gefunden zu haben, die Marusch hören wollte, und wegen der Bedeutung und Emotionalität der ganzen Situation.
“Stiehlst du jetzt mit mir unser Boot?”, fragte Marusch leise.
“Genau genommen ist das kein Diebstahl. Es gehört uns ja.”, antwortete Lilið, dabei besserwisserisch einen Finger hebend. Sie ließ ihn auch sofort wieder sinken. “Ich werde in brenzlichen Situationen oft albern. Ich habe den Eindruck, das ist gar nicht so hilfreich für dich.”
“Doch ist es.”, widersprach Marusch. “Ich fühle mich dumpf, es dringt nicht so richtig durch, aber es ist das richtige Mittel. Bleib dran!” Einen kurzen Augenblick hatte sich wieder ein Schmunzeln ins Gesicht geschoben, aber es saß da nicht richtig. Der dumpfe, leere Ausdruck von zuvor ließ sich nicht viel Zeit, um zurückzukehren. “Ist es überhaupt möglich, mitten in der Nacht aufzubrechen? Spricht da nautisch oder navigatorisch oder wie sich das nennt etwas gegen?”
“Ich müsste umplanen.”, sagte Lilið. “Ich kann das, das geht. Wenn dir eine Vorinsel von Espanoge reicht, sollte ich es hinkriegen, ohne vor Abfahrt noch einmal auf eine Karte gucken zu müssen. Das reicht dann morgen im ersten Morgengrauen. Wenn es weiter weg sein muss, müsste ich vor Abfahrt umplanen. Und es würde vermutlich eine Fahrt von fünf Stunden durch die Nacht werden. Verbotender Weise ohne Licht, denn wir haben ja keines.”
“Besteht die Möglichkeit, dass wir auf eine Vorinsel segeln und dort entscheiden, ob es noch weitergeht, und du planst dort?”, erkundigte sich Marusch.
“Schon, aber es ist Nacht. Ich bräuchte dann dort Licht zum Navigieren.”, gab Lilið zu Bedenken.
Marusch hob eine Hand und ließ sie aufflammen, dieses Mal mit blass gelblichem Feuer. “Ich tue es nicht gern, aber ich kann im Zweifel Licht machen.”, informierte sie.
Lilið nickte. “Wenn du das noch um einige Lumen heller kriegst, wenn wir es brauchen sollten, geht das.”, sagte sie mit gespielter Strenge. “Dann müssen wir also nur noch unser Boot finden, ins Wasser schieben und ablegen. Und bestenfalls verschwinde ich vorm Ablegen noch in einen Busch zum Pinkeln.”
“Ich setze dich gerade ganz schön unter Druck, oder?”, fragte Marusch leise. “Es tut mir leid.”
Lilið streckte eine Hand aus, um Marusch über die Wange zu streicheln, einen Moment innehaltend, bevor sie es auch tat, um Marusch die Möglichkeit zu geben, auszuweichen. “Marusch.”, sagte sie weich. “Wenn du wegmusst, dann bin ich dabei. Glaub mir, ich habe die Gesellschaft beim Essen auch nicht genossen. Mach dir keine Gedanken darüber, ob es für mich schlecht sein könnte. Ich kann einer Nacht mit dir auf See durchaus etwas abgewinnen. Ich kann auch nicht leugnen, dass es in mir kribbelt, weil ich die Vorstellung mag, mit dir noch einmal in ein fremdes Gebäude einzubrechen.”
“Dann lass uns die Vorstellung in die Tat umsetzen.”, sagte Marusch leise. “Nicht, dass die Gelegenheit verstreicht.”
Die Halle war abgeschlossen. Damit hatten sie gerechnet. Sie verabredeten, dass Marusch hier einen Moment warten und beobachten sollte, ob hier abends generell eher niemand vorbeikam, oder ob sie nur zufällig einen ruhigen Augenblick erwischt hatten, während Lilið sich, wie angekündigt einen Busch suchte. Sie war ganz froh, dass sie das Schloss nicht mit voller Blase knacken müssen würde, aber auch etwas besorgt, Marusch allein zu lassen. Also beeilte sie sich. Als sie wiederkehrte, meldete Marusch, dass alles still und ruhig geblieben wäre. Die Werft und ihre Umgebung waren nicht gemütlich und in der Nacht kein beliebter Aufenthaltsort, schien es.
“Knackst du das Schloss?”, raunte Marusch ihr zu.
Lilið grinste, weil sie glatt vergessen hatte, dass sie ja gar nicht unbedingt die Person hätte sein müssen, die das Schloss öffnen würde. “Was bist du eigentlich für eine Diebin, die das nicht selber kann?”, flüsterte sie zurück. Trotz ihrer Worte entnahm sie ihrer Jacke das Einbruchswerkzeug und ließ sich in eine der Höhe des Schlosses geschuldet nicht so bequeme, halb gebückte Haltung nieder.
“Eine, die Spuren hinterlässt.”, antwortete Marusch. “Mehr als du zumindest.”
Lilið hob eine Augenbrauhe und grinste noch etwas mehr. “Ich nehme es als Kompliment.”, sagte sie leise. “Beobachtest du die Umgebung?”
“Wenn ich mich von deinem Anblick losreißen kann, selbstverständlich.”, antwortete Marusch. Den Tonfall für einen Scherz traf sie allerdings immer noch nicht. “Und es war als Kompliment gemeint.”
Marusch warf Lilið allerdings nur flüchtige Blicke zu und beobachtete ansonsten die Umgebung, während Lilið das Werkzeug ins Schloss einführte und Stifte setzte. Es war ein komplexes Schloss. “Ich brauche eine Weile.”, informierte sie. Es war ein Schloss, bei dem sie auf zwei Seiten gleichzeitig Stifte setzen musste. Sie hatte so etwas noch nie gemacht und brauchte zunächst eine gewisse Zeitspanne, bis sie sich überhaupt eingearbeitet hatte. Ihr machte es durchaus auch Spaß, aber sie war viel angespannter als je zuvor, wenn sie ein Schloss geknackt hatte. Ihr war dabei bewusst, dass sie eine ganze Weile im Prinzip gut beobachtbar damit beschäftigt sein würde, sehr auffällig auf einem Knie vor einer Halle zu hocken und in einem Schloss herumzustochern. Nun erstmalig wissentlich auch noch als die meist gesuchte Diebesperson der hiesigen Monarchie.
Sie atmete langsam und ruhig dabei und erinnerte sich an die ersten Schlösser, die sie überhaupt heimlich geknackt hatte. Damals war sie sieben gewesen und auch sehr aufgeregt. Die Erinnerung half ihr, sich von der Aufregung zu lösen und in die Welt einzutauchen, in der sie nur das feine, nicht einmal hörbare Klicken des Schlosses erfühlte, die Kanten der Werkzeuge vertraut in die Fingern drückten und sie den Geruch der Metalle in der Nase hatte.
Wie damals sprang das Schloss irgendwann für sie eher unvorhergesehen auf. Sie hakte es aus und betrachtete den geöffneten Bügel in ihrer Hand. Sie genoss den Moment des Glücksgefühls, öffnete die Tür einen Spalt, sodass sie das Schloss wieder einhängen konnte.
“Nimm das Schloss mit rein.”, ermahnte Marusch leise. “Sonst können wir eingeschlossen werden.”
Das stimmte natürlich. Lilið entnahm es der Öse wieder und stand mühsam auf. Die Haltung war nicht angenehm gewesen. In ihr Knie hatten sich unsaft Steinchen eingedrückt, die sie daraus herausrieb, und ihre Muskeln hatten sich bereits so verspannt, dass sie sich erst wieder an eine aufrechte Haltung gewöhnen mussten. Niemand behauptete, Schlösser zu knacken wäre eine gemütliche Arbeit.
Die Halle lag dunkel vor ihnen. Die Ormorane fanden sie trotzdem zügig, weil sie dort lag, wo sie sie zurückgelassen hatten. Lilið verstaute das Gepäck darin und schnürte es fest. Marusch half nur einen Moment dabei und blickte sich dann um.
“Was suchst du?”, flüsterte Lilið. Ihre Stimme hatte ein angenehmes Echo, das in ihr wieder das Kribbeln auslöste, das Einbrüche für sie mit sich brachten.
“Die Ruderanlage.”, antwortete Marusch ebenso leise.
Lilið tastete mit ihren Händen durch die Schemen, die sie im Bootsrumpf liegen sah, aber erkannte, dass Marusch recht hatte. Sie lag nicht in der Ormorane. “Meinst du, wir haben eine Chance, sie ohne Licht zu finden?”, fragte sie.
“Wenn wir einen Werktisch finden, vielleicht.”, murmelte Marusch. “Aber vielleicht ist etwas Licht weniger auffällig, als wenn wir beim Suchen alles umschmeißen.”
Lilið nickte und gab ein leises zustimmendes Geräusch von sich. Aber als Marusch die Hand hob, packte sie sie am Arm, weil sie am Eingang eine Bewegung wahrnahm. Sie blickten beide auf das Tor zur Halle, das sich langsam einen Spalt weiter öffnete und dann wieder die Stellung von vorher einnahm. Die Person, die hereingekommen war, war leise. Lilið hörte keine Schritte. Sie versuchte, so leise zu atmen, wie es ihr möglich war, um nicht gehört zu werden, aber sie würden wohl früher oder später doch entdeckt werden. Es sei denn, die neue Person könnte sehr schlecht sehen.
Eine Weile blieb alles ruhig, in der Lilið versuchte, die Umrisse der Person auszumachen. Es fiel ihr schwer, weil sich die Schatten, die sie sah, nicht zu etwas zusammenfügten, was sie irgendwie erwartet hätte. Hatte die Person sich hingesetzt und wartete jetzt einfach? Das erschien Lilið unstimmig, also versuchte sie etwas anderes zu erkennen.
Marusch, die auf der der Tür zugewandten Seite der Ormorane stand, führte eine Bewegung aus, durch die sich die Lampe entzündete, die mittig in der Halle an der Decke hing. Sie schaukelte ein wenig und hüllte sie in schwaches Licht, die Schatten ihrer Halterung dabei auf den Boden werfend.
Lilið erschreckte sich ziemlich. Mit dieser Entscheidung hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht damit, die rollstuhlfahrende Person von der Terasse nun hier zu sehen. Lilið versuchte, ihren Atem zu beruhigen und konnte beobachten, wie jene Person es mit der Hand auf der Brust ebenfalls tat.
“Ich hatte gehofft, unbemerkt zu bleiben.”, sagte die fremde Person, gerade so laut, dass Lilið und Marusch sie gut hören konnten. “Und dass ihr mich einschließt, wenn ihr geht. Würdet ihr das tun?”
“Selbstverständlich.”, antwortete Marusch.
Lilið runzelte die Stirn. Was verstand sie nicht? Die Konversation kam ihr merkwürdig vor. “Was ist, wenn uns die Person verrät?”, richtete sie sich leise an Marusch.
“Die Person. Ich bin anwesend, weißt du? Kannst du nicht einfach ‘er’ sagen, so als würdest du mich als Mensch wahrnehmen?”, murrte die Stimme, dieses Mal etwas lauter.
Lilið war wohl nicht leise genug gewesen. Unwohlsein hatte sie auch dabei gehabt, als sie so von ihm gesprochen hatte, weil sie wusste, dass behinderte Menschen oft übergangen wurden, als wären sie keine Menschen oder als wären sie nicht dabei. “Es tut mir leid.”, sagte sie. “Ich wusste nicht, ob ‘er’ richtig ist.” Wieso diskutierte sie das? Machte es nicht alles noch schlimmer?
Die Person im Rollstuhl kam näher und wirkte unverkennbar verärgert. Lilið entdeckte die Schifferklave, die an ihren Gurten an der Rücklehne des Rollstuhls befestigt war. “Man sieht doch wohl, dass ich ein Mann bin!”, beschwerte er sich, fügte dann aber fast nachdenklich hinzu: “Zumindest wirkst du nicht, als hättest du Probleme mit den Augen.”
“Es tut mir leid.”, widerholte Lilið. “Das ist wohl ein mieser Konflikt zwischen einer Person, der regelmäßig Menschlichkeit und vermutlich auch Dinge im Geschlechtszusammenhang aberkannt wird, was mir eigentlich durchaus bewusst ist, daher wünschte ich, ich wäre damit anders umgegangen. Und einer Person, mir, die wahrscheinlich von den meisten Menschen als weiblich wahrgenommen wird, aber nicht weiblich ist. Also auch anderen kein Geschlecht zuschreiben möchte.”
“Aber du bist doch weiblich.” Die Reaktion des Mannes kam so schnell, dass Lilið ihm verzieh, dass er widersprach, weil ihm das neue Konzept vermutlich nicht so schnell hätte klar werden können.
“Nein.”, widersprach Lilið schlicht.
Der Mann blieb vielleicht knappe zwei Meter neben Lilið stehen. Ein Abstand, der auf Lilið so wirkte, als wolle er eine gewisse, sichere Distanz nicht unterschreiten. Er musterte sie von oben bis unten, runzelte die Stirn, aber nickte.
“Jedenfalls,”, richtete sich Lilið wieder an Marusch, “hättest du keine Angst, dass er uns” – sie unterbrach sich und wandte sich wieder dem fremden Mann zu. “Warum willst du eingeschlossen werden.”
“Endlich stellt sie sinnvolle Fragen.”, mokierte er sich, aber korrigierte: “Er. Er stellt endlich sinnvolle Fragen.”
“Dass sie keine Frau ist, heißt nicht automatisch, dass ‘er’ richtig wäre, oder sie ein Mann wäre.”, informierte Marusch.
“Oh!”, sagte der Mann und musterte Lilið erneut. “Das muss hart sein. Es tut mir leid. Dann war meine Beschwerde wirklich nicht angebracht. Ich hatte keine Ahnung.”
“Schon gut.” Lilið hatte keine Lust auf ein tiefer greifendes Gespräch darüber, also erinnerte sie an die Frage von zuvor. “Mir erschließt sich nicht, warum du” – ihr fiel erst jetzt ihre Wortwahl auf, die sich nun ungefähr doppelte – “eingeschlossen werden möchtest.”
“Hast du mitbekommen, wie diese angetrunkene Meute mit ihm umgegangen ist?”, fragte Marusch.
Lilið hatte es nicht mitbekommen, sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich selbst zu schützen. Aber allein der Gedanke löste ein widerlichen Ekel in ihr aus, den sie mit einem “Wah, Scheiße!” zum Ausdruck brachte, was sie aber als Beschreibung ziemlich unzureichend empfand. “Es tut mir so leid!”, fügte sie hinzu. “Klar schließen wir dich ein. Oder, keine Ahnung, können wir einen Zwischenstopp auf Portuoge einlegen, wenn ihm das helfen würde?” Mit der letzten Frage richtete sie sich an Marusch.
“Das würde mir nicht helfen.”, blockte der Mann ab. “Ich arbeite hier. Ich habe morgen früh ab sechs wieder Dienst. Und wenn euch das hilft, habe ich euch hier nicht gesehen.” Nun traute er sich doch etwas näher heran. “Ihr wollt doch nur euer Boot haben und verfrüht aufbrechen, oder? Weil euch die Meute auch zu wider ist, wenn ich das vorhin richtig mitbekommen habe.”
Marusch nickte. “Wir suchen nur noch unsere Ruderanlage.”
“Die sollte nicht schwer zu finden sein.”, sagte der Mann und machte sich auf eine Weise auf die Suche, die klar erkennen ließ, dass er sich auskannte.
“Wenn du hier arbeitest, warum hast du dann keinen Schlüssel?”, fiel Lilið ein. “Warum sollen wir dich einschließen? Mit einem Vorhängeschloss von außen?” Sie runzelte die Stirn, weil das alles für sie noch nicht so richtig Sinn ergab. “Es tut mir leid, wenn ich zu indiskret frage.” War es nicht auch ziemlich gefährlich, auf eine Weise eingeschlossen zu sein, auf die sich der Mann nicht selbst hinauslassen könnte? Gab es einen Hinterausgang?
Der Mann hielt vor einem Tisch in einem Bereich, in dem keine Boote standen. Auf der einen Seite des Tischs gab es eine niedrige Rampe auf eine Empore, sodass er von der einen Seite gut am Tisch arbeiten könnte, und Anni wohl von der anderen. “Ist sie das?”, fragte er.
Marusch war ihm hinterhergangen und betrachtete die Ruderanlage. Auch Lilið näherte sich. Der untere Teil war nun hellblau und schloss an den schwarzen Teil dort, wo die Abbruchkante gewesen war, so fließend an, als wäre sie nur in zwei Farben lackiert worden.
Marusch nickte. “Vielen Dank.”, sagte sie.
“Und zu deiner Frage:”, fügte der Mann an Lilið gewandt hinzu. “Mir wird nicht zugetraut, die Halle zu verteidigen. Zurecht wohl. Ich bin klein, körperlich behindert, und einen hohen Skorem habe ich auch nicht. Entsprechend kriege ich keine Schlüssel.” Er seufzte. “Und auf dieser Seite der Tür bin ich sicherer als auf der anderen.”
Lilið schloss in einem Versuch, das neue Gefühl von Widerlichkeit sinnvoll zu verarbeiten, die Augen und fluchte abermals. “Es ist so eine beschissene Welt!”
“Eine, die ich gewohnt bin.” Der Mann klang resigniert und als wolle er das Thema rasch abhaken. “Die Meute ist nicht jede Nacht so schlimm. Ich hätte vielleicht damit rechnen sollen, dass sie es heute Nacht ist, des Sturmes wegen. Anni hatte vorhin angeboten, mich einzuschließen, aber da hatte ich nicht geschaltet. Also, freut mich die Gelegenheit, die Bekanntschaft mit Kriminellen zu machen, die ich tausendmal lieber habe, als, naja, ihr wisst.”
Lilið fühlte sich gleichzeitig sehr erleichtert und beunruhigt, als sie den Anhänger mit der Ormorane darauf ins Wasser zogen und das kühle Wasser ihre Beine umspülte. Erleichtert, weil es ihr das Gefühl gab, dass der Aufbruch klappen könnte und die stille Kühle sie ins Hier und Jetzt zurückholte, erdete. Und beunruhigend, weil sie dabei erneut fühlte, wie erschöpft oder möglicherweise sogar fiebrig ihr Körper war. Sie sollte vielleicht Marusch darüber informieren.
Sie würde es bis zur Vorinsel schaffen, und wenn sie von dort noch weiterwollten, würde sie es ansprechen, nahm sie sich vor.
Marusch hielt die Ormorane, während Lilið den Anhänger zurück in die Halle rollte. Er war ziemlich schwer, stellte sie fest. Ihre Muskeln brannten unter der Last des behäbigen Gestells. Als sie es in der Halle parkte, war der Mann gerade dabei, sich schlafen zu legen. Er war aus seinem Rollstuhl aufgestanden, faltete ihn, um ihn neben einer Liege einzufädeln und setzte sich auf die gepolsterte Fläche. “Habt eine gute Reise!”, wünschte er.
“Hab eine möglichst gute Nacht!”, wünschte Lilið zurück.
Sie fühlte sich schon etwas unbehaglich dabei, das Schloss wieder einschnappen zu lassen, während in der Halle ein Mensch war. Trotzdem tat sie es. Durch ihre eigentlich zu ermatteten Muskeln schoss Feuer von Wut auf die Gesamtsituation, und darauf, dass sie sie so hinterlassen musste. Die Wut erinnerte sie an Maruschs Reaktion vorhin. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie auch durch Flammen ausdrücken zu können. Oder durch Fluten.
Sie sprach nicht mit Marusch, als sie ohne irgendwelches Hadern die Ruderanlage einhängte und das Groß hisste, die Müdigkeit im Körper ignorierend. Eine angenehme Brise wehte, mit der Lilið in der Nacht nach der Flaute kaum gerechnet hatte. Sie brachte kühlen Atem mit sich, Geruch nach Blüten, der sich nachts besser in der Lunge anfühlte als am Tag.
Lilið manövrierte sie umsichtig aus dem Hafen und anschließend, selbstsicher einen Kurs auswählend, einigermaßen dicht aber nicht zu dicht am Schmetterlingsstrudel vorbei zu einer Vorinsel auf halbem Weg nach Portuoge, die sie sich vorhin in Gedanken bereits ausgesucht hatte.
Jetzt hätte sie noch einmal einen Sturm gebrauchen können, dachte sie. Es war Unfug. Natürlich hätte sie keinen gebrauchen können. Sie war erschöpft. Aber sie war auch unsäglich wütend.
“Ich wünschte, ich hätte ein Musikinstrument.”, sagte sie.
“Ich habe eine kleine Maulphonika.”, antwortete Marusch. “Ich fände schön, wenn du spielst.”
Lilið blickte Marusch stirnrunzelnd an. Und das sagte sie erst jetzt? Hatte sie die, weil sie sie selbst spielen konnte? Würde Lilið sie spielen können?
Auf dieser Reise, die nun schon wie lange andauerte, eine Woche?, reichte Lilið Marusch also nun erstmalig die Pinne herüber und tauschte mit ihr Plätze, als Marusch diese annahm. Sie war etwas nervös, als sie Maruschs Anweisungen folgend, ihr Gepäck nach der Maulphonika durchsuchte, aber sie war nicht schwer zu finden. Sie steckte in einem kleinen Holzkästchen, das nach nicht viel aussah, aber die Maulphonika darin lag schwer und schön in der Hand und wirkte edel. Lilið strich mit den Fingern über die Markierungen für die Grundtöne. Dann entdeckte sie sogar einen Haken an der Seite, der alle Töne um einen Halbton verschieben würde. “Eine chromatische.”, sagte sie, fast ehrfürchtig.
Marusch reagierte mit einem matten, bestätigenden Geräusch.
Lilið atmete mit geschlossenen Augen zweimal tief ein und aus, bevor sie den ersten Ton ansetzte. Er klang zunächst etwas quäkig, aber Lilið brauchte nur einige Momente, bis sie ihn mit ihrem Mundraum zu einem eher klagenden umformte.
Es war ein ungewohntes Instrument. Sie verspielte sich oft. Aber es beruhigte. Sie konnte trotzdem ausdrücken, was sie fühlte. Und als sie geendet hatte, weinte sie. Ihre Lunge fühlte sich wieder wie ein Organ an, das ihr Freude bereiten könnte, und nicht nur wie ein verkrampfter Knoten mit zu viel Druck darauf.
Als sie sich zu Marusch umwandte, um ihr Anweisung zu geben, den Kurs zu korrigieren, hatte auch sie feuchte Augen. Und wirkte endlich nicht mehr wie eine steindernde, hassende Maske. “Danke.”, sagte Marusch leise. “Für alles, was du heute für mich getan hast.” Und fügte sehr leise und sanft hinzu: “Lilið.”