Wind und Wetter
CN: Sturm, Lebensgefahr, Kopfverletzung erwähnt, Misgendern, Angst vor Ertrinken, sexuelle Übergriffigkeit.
Die Wolken am Horizont hatten fast harmlos ausgesehen, vielleicht etwas gelblich, sonst normal, wie die meisten anderen ungefährlichen Wolken auch. Aber als sie nach einer Stunde Segeln unter bis zu dem Zeitpunkt wieder angenehmsten Bedingungen an sie herannahten, sah das ganz anders aus.
Lilið wusste, wie es aussah, wenn sich mehr Wind näherte. Das Wasser darunter war mit vielen kleinen Miniwellchen auf den großen Wellen übersäht, die es dunkler wirken ließen. Sie mochte den Anblick. Sie mochte, wie diese dunklen Flächen über das Wasser huschten und das Gefühl in Boot und Körper, wenn der Wind, der sie mitgebracht hatte, in die Segelfäche traf. Und ihr die Ohren kühlte. Sie mochte die Dynamik dadurch, wie ihr Körper angespannt auf die eintretende Krängung des Bootes wartete, und dann wie von selbst reagierte, um Gewichtslagerung des eigenen Körpers entsprechend anzupassen.
Die dunkle Fläche, die sich nun näherte, war nicht einfach eine kleine Böe, sondern bedeckte, weiter als sie sehen konnte, das ganze Meer zu steuerbord. Und es war nicht bloß eine dunklere Fläche, sondern die See war fast schwarz.
“Das wird unlustig.”, rief sie Marusch zu.
“Glaubst du?” Marusch schmunzelte. “Gefährlich ja, aber du hast doch Spaß an so etwas, oder lese ich deine Freude im Gesicht falsch?”
Das stimmte. Lilið konnte nicht anders, als breit zu grinsen und fast zu lachen. “Wir müssen trotzdem vorsichtig sein.”
Lilið fühlte die Anspannung unter der Haut, aber war vollkommen ruhig, als die schwarze Wetterwand sie erreichte. Sie hatte sie richtig eingeschätzt, kurvte doch in den Wind, weil sie sonst gekentert wären (was auch ein lösbares Problem gewesen wäre, nur kein angenehmes), und gab Marusch Anweisung, das Vorsegel straff zu halten, damit sie es einrollen konnten. Aber auch, als das getan war und sich nur die Großsegelfläche mit Wind füllte, war es noch zu viel. Sobald der Wind in das Segel in einer Weise strich, dass es auch Antrieb gab, kippte die Ormorane bereits so stark auf ihre Seite, dass Lilið wieder in den Wind steuern musste, weil die Lage nicht stabil genug war, die Ormorane sonst gekentert wäre. Dabei war die Schot nicht einmal ganz dicht geholt und das Segel flatterte dann noch halb.
“Ziehen wir das Schwert?”, fragte Marusch schreiend gegen den Wind an.
Lilið hatte gerade überlegt, auch das Großsegel einzuholen und den Sturm einfach wie in einer Nussschale auf den bald hohen Wellen auszusitzen, aber das ginge natürlich auch. Sie zögerte kurz, dann nickte sie. “Gute Idee!”
Das Schwert zu stecken erfüllte den Zweck, dass ein Segelboot nicht abdriftete. Wenn der Wind von der Seite kam, waren die Segel so ausgerichtet, dass er das Segelboot eher nach vorn als nach hinten schieben würde, aber eben an sich im Wesentlichen zur Seite. Das Schwert war nicht viel mehr als ein stromlinienförmig abgeschliffenes Brett, das unter Wasser die Querbewegung des Rumpfes erschwerte, sodass die vom Wind vorgesehene Seitwärtsbewegung abgebremst oder sogar in eine Vorwärtsbewegung umgesetzt wurde. Der Preis dafür, nicht einfach abzudriften, war die Krängung des Bootes: Wenn der Wind das Boot nicht seitwärts über das Meer pusten konnte, weil es durch das Schwert vermieden wurde, so resultierte der Druck in einer Schräglage des Bootes, die durch Körpergewichtverteilung ausgeglichen werden konnte. Zumindest wenn der Wind nicht zu stark war, wie jetzt.
Ohne Schwert würden sie also nicht in die Richtung segeln, die sie geplant hatten, dafür aber aufgerichtet. Selbst mit dem sich dadurch ergebenden Umweg wäre ihre Reise zur Zielinsel vermutlich sogar immer noch kürzer, als wenn sie das Großsegel einholten und bis zum Ende des Sturms gar nicht segelten. Es wäre außerdem wahrscheinlich ungefährlicher und würde mehr Spaß machen.
Marusch zog also das Schwert und Lilið drehte die Ormorane aus dem Wind, sodass er nun schräg von hinten kam. Wenn sie schon in Richtung Wind abdrifteten, dann konnte sie den Bug auch mehr in die Richtung drehen, wo sie eigentlich hinfuhren. Je weiter von hinten der Wind kam, desto weniger krängte das Boot, aber wenn er ganz von hinten käme, wäre es auch wieder gefährlich, weil durch leichte Drehungen des Windes das Segel plötzlich auf der anderen Seite stehen können wollte. Wenn es die Seite dann mit Wucht wechseln würde, konnte das durchaus lebensgefährlich sein, wenn ihre Köpfe nicht rechtzeitig wegduckten. Und das Bootsmaterial würde auch dann leiden, wenn sie es rechtzeitig schaffen würden.
Ein Raumwindkurs war der sicherste Kurs, und auch der schnellste. Lilið füllte das Segel und fühlte eine unbeschreibliche Freude in sich aufsteigen. Sie war noch nie in ihrem Leben so fühlbar schnell über das Meer gejagt. Der Sturm hob die schwere Ormorane fast aus dem Wasser. Wellen interessierten sie kaum, sie schnitt durch sie hindurch, als wären sie viel dünnflüssiger als sonst. Sie zerstob die Wellenkämme in kleinste Tröpfchen, statt dass sie für sie wie sonst einen Widerstand darstellten. Lilið fühlte die Vibration des Wasserdrucks auf der Ruderanlage und in der Bordskante unter ihrem Po, das leichte Rütteln in der Schot, die sie über den Flaschenzug führte. Marusch hatte keine Schot mehr zum Bedienen, hielt sich an einem der dafür gedachten Griffe fest und ihr Körper reagierte nuanciert auf die Veränderungen, wie die Ormorane im Wasser lag, um mit ihrem Gewicht auch leichter Krängung entgegenzuwirken. Sie wussten beide, dass sie keine zu großen Fehler machen durften. Die Gewalt des Windes würde einiges an der Ormorane auseinandernehmen können, wenn sie sich nicht wie vorgesehen bewegte.
Sie waren derzeit weit weg von jeglichem Land. Auf der einen Seite war dies ungünstig, weil so die Chance auf Rettung bei schlimmeren Ereignissen geringer war. Auf der anderen Seite war es aber auch gut, weil das ihnen momentan am nächsten gelegene Land eine felsige Küste aufwies, an der die Ormorane hätte Schaden nehmen können.
Als nächstes setzte der Regen ein. Und was für ein Regen. Er hätte sie auch binnen Sekunden vollständig durchnässt, wenn sie in frischer, trockener Kleidung gesteckt hätten. (Lilið vermisste nach knapp einer Woche durchaus, etwas anzuziehen, was nicht ein durchgeschwitzter Anzug oder ihre von Salz starrende, fast dauerhaft feuchte andere Kleidung war.) Die angenehme Kälte kroch unter Liliðs Segeljacke und über die nackte Haut, um bald wieder angewärmt zu werden. Die kräftigen Regentropfen klatschten auf ihre Hände und in ihr Gesicht. Es war ein beeindruckendes Wetter, wunderschön! Zum Glück blitzte oder donnerte es nicht.
Gerade, als sie sich an die Lage gewöhnt hatte, fühlte sie mehr, als dass sie hörte, dass die Ruderanlage brach. Sie hatte plötzlich keinen Widerstand mehr an der Pinne. Einen kurzen Moment fühlte sie noch den Sog, weil sie noch an einigen Fasern an der Bruchkante hing, dann fehlte auch jener.
Die Ruderanlage war zum Steuern eines Bootes da. Ein Boot brauchte sie nicht unbedingt, es konnte auch über Gewichtsverteilung gesteuert werden. Aber das war wesentlich kniffeliger, erforderte ein gutes Gefühl fürs Boot und viel Wissen. Lilið hatte es nicht allzu oft geübt, aber ihre Reflexe saßen trotzem gut genug, dass sie für den Moment mit Gewichtstrimm ein weiteres Abfallen verhindern konnte. Abfallen hieß es, wenn das Boot weiter von der Windrichtung weggedreht wurde, in diesem Fall also so, dass der Wind von hinten käme.
“Was ist passiert?”, schrie Marusch gegen Wind und Regen an.
“Ruderbruch!”, schrie Lilið zurück.
Marusch fluchte.
Sie schlingerten für ein paar Momente unkoordiniert über die Wellen hinweg, immer noch mit beachtlicher Geschwindigkeit, bis Lilið beschloss, dass das zu gefährlich war, Segel locker ließ und versuchte, das Boot in den Wind zu drehen. Es klappte nicht ganz, aber gut genug, um zu bremsen. Der lose Segelstoff veranstaltete einen beängstigenden Lärm. Lilið würde ihn bald mit Marusch zusammen bergen, aber zunächst sah sie sich noch einmal nach dem fehlenden Ruder um. Es hatte keinen Sinn. Die Wellen waren inzwischen einen halben Meter hoch oder höher, die See eine einzige dunkle Fläche mit dem Muster der einschlagenden Regentropfen darin. Die Ruderanlage selbst war ebenfalls dunkel lackiert und vermutlich längst weit weg. Sie würden sie nie und nimmer wiederfinden.
“Segel einholen?”, fragte Marusch.
Lilið verstand sie gegen Lärm von Wetter und Segel nur gerade so, obwohl sie schrie, und nickte.
Die Ormorane schaukelte sehr, als sie das Fall lösten, mit dem sie das Segel hochgezogen hatten. Es verhakte sich mehrfach, während sie gegen die Kraft des Windes das Tuch hinunterzogen, der es immer wieder ergriff und davon reißen wollte.
Ob es nur den Anschein erweckte oder auch so war, wusste Lilið nicht, aber nun, ohne Segel, ohne Fahrt, fühlte sie sich nicht halb so sicher wie bei der rasenden Geschwindigkeit davor. Vielleicht spielte auch das Wissen hinein, dass sie nun keine Ruderanlage mehr hatten und ohne eben nur bei wenig Wind gesegelt werden könnte. Es würde viel Konzentration benötigen und langsamer vorwärts gehen als mit. Die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass der weitere Verlauf ihrer Reise eine größere Umplanung erfordern würde und die Uneinkalkulierbarkeit machte Lilið zu schaffen.
Sie schaukelten in ihrer Nussschale zwischen den immer höher werdenden Wellen im strömenden Regen, der immerhin Salz von ihren Körpern spülte, und konnten nichts tun, als abzuwarten und zu hoffen, dass sie das Wetter nicht sonstwohin abtrieb. Die geplante Route würden sie also nur mit sehr viel Glück beibehalten können. Natürlich gab es Ersatzrouten, die Lilið sich zurechtgelegt hatte, aber sie war sehr nervös, ob eine davon taugte, und wenn ja welche. Wie sich dieser Tag weiterentwickelte, war derzeit völlig ungewiss. Lilið spürte durchaus auch eine gewisse Angst, zu weit von jeglichem Land abzudriften und zu ertrinken, die sie nicht ganz verdrängen konnte. Aber interessanterweise war ihr Gedanke, dass es vielleicht mit dem Zertifikat dann nicht mehr klappen würde, unangenehmer.
Marusch saß ihr gegenüber. Mit dem notdürftig aufgerollten Segel zwischen ihnen war das leider nicht einmal ansatzweise gemütlich. Lilið liebte das Wetter dennoch, aber segelnd hätte sie sich trotz Gefahr wohler gefühlt. Und als der Regen irgendwann nachließ und die ersten hellgrauen Stellen am Himmel sich zwischen die dunklen Wolken mischten, nachdem sich Marusch das Haar ausgewrungen hatte, gab Lilið Anweisung, das Segel wieder hochzuziehen.
“Jetzt schon?”, fragte Marusch. “Was, wenn das gleich wieder so heftig wird? Traust du dir bei dem zackigen Wind, den wir noch haben, steuern ohne Ruderanlage zu?”
“Das sieht dir nicht ähnlich, die Vorsichtigere von uns zu sein.”, antwortete Lilið mit einem schmalen Grinsen, in das sofort das süße Regenwasser floss. Sie bemerkte erst einen Moment verspätet, dass sie sich gerade selbst in ein Femininum eingeschlossen hatte. Weil sie Marusch gönnen gewollt hatte, sich darüber zu freuen, darin aufgezählt worden zu sein. Das Unwohlsein drückte trotzdem zu sehr, also korrigierte sie: “Die vorsichtigere Person von uns. Für mich ja kein Femininum.”
Marusch lächelte. “Ich vertraue dir, dass du die Lage richtig einschätzt.”, sagte sie. Sie mussten immer noch laut sprechen, um sich zu verstehen. “Ich wollte nur vorsichtshalber nachfragen.”
“Gib mir das eine Ersatzpaddel, damit kann ich auch ein bisschen steuern!”, forderte Lilið sie auf.
Sie hatten zwei. Sie waren für Fälle von Schiffbruch zum Paddeln gedacht, wenn sie nicht mehr segeln könnten, um sich dann auch ohne Segel antreiben zu können. Schiffbruch hatten sie ja tatsächlich. Aber eigentlich war es der alberne Stolz aller, die beim Segeln etwas auf sich hielten, es nicht zu benutzen, um schneller voranzukommen, wenn Segeln noch möglich war. Lilið war diese Regel eigentlich egal. Trotzdem fühlte sie sich oft unangenehm beobachtet, wenn sie es doch mal tat und andere Segelboote in der Nähe waren.
In diesem Fall würde sie es aber gar nicht zum Paddeln nutzen, sondern zum Steuern. Das war etwas anderes. Sie sollte es dabei nicht verlieren, eben weil es für Notfälle gedacht war. Aber sie hatten für den Fall ja auch noch ein zweites an Bord.
Lilið zog also mit Marusch das Segel wieder hoch, immer dann, wenn der Wind gerade eine Pause davon machte, peitschend und hackig zu sein. “Wenn es wieder schlimm wird, holen wir es wieder runter!”, schrie Lilið gegen den Lärm.
Sie segelten erst ohne Schwert, wieder mit Wind schräg von hinten, aber sobald Lilið den nachlassenden, hackigen Wind einigermaßen gewohnt war, forderte sie Marusch auf, es zu stecken. Sie steuerte die Ormorane bald so, dass sie fast einen Amwindkurs mit Wind schräg von vorn segelten, um ihr ursprüngliches Ziel vielleicht doch noch zu erreichen. Inzwischen erblickte Lilið Espanoge in der Ferne, eine etwas größere Reiseinsel, auf der es mehrere kleinere Städtchen gab. Espanoge wollten sie eigentlich auf backbord passieren, aber bald stellte sich heraus, dass es aussichtslos für sie wäre, ihr eigentliches Ziel anzusteuern. Und zwar nicht, weil sie zu doll abgriftet wären, zumindest nicht allein deswegen. Sondern weil der Sturm rapide nachließ und in eine Flaute überging.
Das war Liliðs Befürchtung gewesen, deshalb hatte sie beharrt, das Segel schnell wieder zu setzen. Und als es einigermaßen sicher war, dann auch das Vorsegel wieder auszurollen. Sie waren noch vielleicht eine knappe halbe Stunde bei zu dem mäßigen Wind unpassend hohen Wellen brauchbar vorangekommen, aber dann war der Wind fast ganz eingeschlafen. Die Segel labberten im Wind. Es war nicht schön. So, wie es aussah, würden sie Espanoge erst gegen späten Abend erreichen, und wenn sie auch nur ein bisschen Gegenströmung hätten, gar nicht. Und für den Fall hatte Lilið keine Alternativroute im Kopf. Vielleicht hätte sie am Abend zuvor doch etwas mehr Zeit damit verbringen sollen, sich mit der Seekarte auseinanderzusetzen, anstatt Steine zu falten. Letzteres hatte auch nicht sonderlich gut geklappt. Aber damit, dass sie eine Ausweichroute zur Ausweichroute hätte parat haben müssen, und sie dafür nicht ohne weiteres Gelegenheit auf der Fahrt haben würde, hatte sie nicht gerechnet. Für den Fall von Sturm oder Flaute hätte sie einen Plan gehabt, aber beides zusammen und ein Bootsschaden, der ihr nun Kartenlesen erschweren würde, hatte sie nicht einkalkuliert.
Sie seufzte tief und besprach mit Marusch die Lage. Sie kamen beide zu dem Ergebnis, dass sie vielleicht gerade so noch eine Chance hätten, Espanoge zu erreichen, bevor die Insel schneller wegreiste, als sie ihr folgen könnten, wenn sie jetzt alles aus der Ormorane herausholten. Also paddelten sie, versuchten sich nicht um ihre Segelndenehre zu scheren, und holten durch passenden Segeltrimm noch das letzte bisschen raus, was ging. Irgendwo weiter weg dümpelten noch andere Schiffe auf dem Meer, die durch ihre geringere Distanz oder ihren schnittigeren Bootstyp eher eine Chance hatten, Espanoge zu erreichen, oder die hochseetauglicher waren. Aber Marusch und Lilið näherten sich nur langsam, bis die Distanz irgendwann gleich blieb. Sie waren schweißgebadet und erschöpft, als sie zwei weitere Stunden später aufgeben mussten.
Lilið zog resigniert und müde die Karte aus ihrem Fach und rollte sie vorsichtig aus. Immerhin gab es keinen Wind, der Teile der Karte hätte wegpusten können.
“Warte noch einen Moment.”, hielt Marusch sie auf, als sie sich den Zirkel hinters Ohr klemmte.
Lilið sah auf und folgte dann Maruschs Blick Richtung Espanoge. Ein Ruderboot der Seewacht näherte sich ihnen. “Vielleicht möchten sie uns reinschleppen.”, murmelte Lilið. Sie fühlte sich bei dem Gedanken erleichtert, aber auch ängstlich. “Espanoge ist nicht so ab vom Schuss wie die anderen Inseln, die wir bisher angesteuert haben. Meinst du, wir könnten Unannehmlichkeiten bekommen, weil ich der Blutige Master M bin?”
Marusch zog einen Mundwinkel hoch. “Ich denke, wir sollten es riskieren.”, antwortete sie. “Wir brauchen eine Reparatur. Ich sehe nicht, wie wir egal welche deiner geplanten Routen ohne Ruderanlage schaffen können.”
Lilið nickte alarmiert. “Du hast recht.” Ja, sie konnte prinzipiell mit dem Paddel steuern, oder auch über Gewicht, aber sie hatte bei der kurzen Strecke heute schon gemerkt, dass es mächtig auf die Arme ging. Das würde sie nicht mehrere Tage hintereinander durchhalten. “Aber eine Reparatur wird nicht leicht zu bekommen sein. Es sei denn, du kennst auf Espanoge zufällig noch eine Person wie Heelem.”
Marusch schüttelte den Kopf. “Das nicht. Aber ich habe auf dem Ball, bevor du kamst, die Königin abgezogen und unter den Marken ist eine Reisemarke.”
Lilið starrte Marusch einige Augenblicke fassungslos an. “Was?”, war das einzige, was sie zunächst hervorbrachte. Und dann: “Ich habe Fragen.”
Die Königin war auf dem Ball gewesen? Hatte sie ihnen beim Tanzen zugesehen?
Wie hatte Marusch das geschafft? Und warum ging sie ein solches Risiko ein?
Von allen Königlichen aus der Monarchie, warum hatte Marusch ausgerechnet die Königin bestohlen? Von allem, was Lilið mitbekommen hatte, war sie die einzige Person aus der ganzen Monarchie-Familie, die sich für ihr Volk tatsächlich interessierte. Aber vielleicht war es auch deshalb am einfachsten gewesen, gerade sie zu bestehlen.
Hatte Marusch überhaupt nur deshalb geplant, auf diesem Ball zu sein?
“Da wir nicht viel Zeit haben, würde ich die Fragen auf später verschieben wollen.”, hielt Marusch fest. “Erst einmal: Ich würde mich als Wache der Königin ausgeben. Die Rolle habe ich schon ein paar Mal gespielt. Ich wäre in einer Mission unterwegs, über die ich nicht viel Genaueres sagen darf und du wärest mein Nautika. Ich mag die Rollenverteilung eigentlich nicht, weil du mir dabei untergeordnet wärest. Aber ich halte für realistisch, dass das klappen kann. Wir müssten aber wachsam sein, denn sobald etwas auffliegt, sollten wir verschwinden.” Marusch sah sich noch einmal zu dem sich nähernden Rettungsboot um, aber es war noch außer Hörweite. “Möchtest du das Risiko eingehen?”
Auch wenn die Königin vielleicht am nachsichtigsten sein mochte, Lilið hätte zur Sicherheit der eigenen Haut bestimmt nie gewagt, irgendeine Person aus dem Hause der Monarchie zu bestehlen. Also, nicht absichtlich. Sie hatte es ja versehentlich bereits getan. Bei dem Gedanken musste sie beinahe grinsen, aber noch fühlte sie sich zu alarmiert über Maruschs Offenlegung.
“Du kannst nicht rein zufällig in kurzer Zeit abschätzen und darlegen, was uns blüht, wenn wir auffliegen?”, fragte Lilið. Sie konnte sich vorstellen, dass es wirklich nicht gut ankäme, dabei erwischt zu werden, die Königin abgezogen zu haben.
Sie fragte sich außerdem, ob sie nach ihrem Nautika-Zertifikat gefragt werden könnte, aber vermutete, wenn Marusch die Geschichte mit der Wache abgekauft würde, dann würden sie eher noch ein Angebot bekommen, von neugierigen Blicken abgeschirmt zu werden.
“Tatsächlich halte ich das Risiko für überschaubar.”, antwortete Marusch. “Zumindest schätze ich die Folgen, wenn wir entlarvt werden, als geringer ein, als würde irgendwie rauskommen, dass du der Blutige Master M bist.”
Sie hatte leiser gesprochen, weil es vielleicht doch hätte sein können, dass einzenle Sprachfetzen beim Ruderboot angelangt wären, vermutete Lilið. Immerhin hörte sie das Stimmengewusel der Rettungscrew bereits als Gemurmel aus der Ferne.
Lilið nickte. “Ich kann in so kurzer Zeit keine durchdachte Entscheidung fällen.”, murmelte sie. “Aber wenn du meinst, dass das klappen kann, bin ich dabei. Ich versuche, mich zurückzuhalten und in dein Spiel einzufügen.”
Sie rollte die Karte wieder ein, hörte die Stimmen und Rudergeräusche der Rettungscrew herannahen und sah noch einmal auf in Maruschs Gesicht, als sie bemerkte, dass Marusch sie unentwegt anblickte. Maruschs dunkle Augen hafteten auf ihr, das Gesicht leicht angespannt und vielleicht besorgt. Um mich, dachte Lilið. Das warme Gefühl, das ihr unter der durchnässten Kleidung über die Haut rann, war nicht nur positiv. Oder doch? Es hatte eine Komponente, die sich wie Leiden anfühlte, aber es fühlte sich zugleich schön an, wie der zerrende Klang einer sehnsuchtsvoll gespielten Schwinge.
Marusch wandte sich wieder zum sich nähernden Ruderboot um, als es in einer sinnvolle Rufweite gekommen war, noch bevor diese auch ausgenutzt wurde. Sie winkte der Crew freundlich zu.
“Hey, braucht ihr Hilfe?”, hörten sie eine laute Stimme zu ihnen hinüberdonnern.
“Das wäre ganz reizend!”, rief Marusch zurück.
Lilið fühlte sich sofort angespannt. Nun war sie also ein Nautika einer Wache der Königin. Wie verhielt sich so ein Nautika professionell? Einfach ruhig sein? Vielleicht wäre das das beste.
Unvermittelt kam Lilið der Gedanke, wenn Marusch diese Rolle tatsächlich gut spielen konnte und Lilið zuvor nichts von der Marke erzählt hatte, dass sie vielleicht am Ende tatsächlich Wache der Königin gewesen war. Ob das ihre alte Identität war? Das könnte mit den Morden zusammenpassen, die Marusch erwähnt hatte.
Die acht Rudernden legten sich noch einmal kräftiger in die Riemen, bis sie bei ihnen ankamen und so dicht neben ihnen abbremsten, dass Marusch die Ruderblätter hätte anfassen können. Der Schliff sah sehr schön aus, fand Lilið, sie mochte ihre flache schaufelartige Form.
“Habt ihr zwei Hübschen einen Sturmschaden?”, fragte die Steuerperson.
Es war auch die Person, die vorhin gebrüllt hatte, erkannte Lilið an der Stimme. Sie riss sich zusammen, um nicht zu reagieren. Die Betitelung gefiel ihr gar nicht.
“Leider ja.”, antwortete Marusch. “Unsere Ruderanlage ist gebrochen. Würdet ihr uns nach Espanoge schleppen?”
Lilið fragte sich, ob sie richtig heraushörte, dass es Marusch auch nicht passte, hübsch genannt worden zu sein. Obwohl sie es aus Liliðs Sicht war. Sie könnte es ihr mal sagen. Es war schwer, irgendetwas außer Freundlichkeit aus Maruschs Stimme zu lesen, aber Lilið glaubte, sie inzwischen gut genug zu kennen. Sie hatten noch ein weiteres Mal so gestritten, wie als Marusch ihr mitgeteilt hatte, dass Lilið gefaltet trotzdem atmen können müsste. Auch da hatte Marusch eigentlich ziemlich freundlich geklungen und doch war da eben diese Anspannung in ihrer Stimme gewesen.
“Dafür sind wir da.”, antwortete die schmierige Steuerperson. “Schafft ihr das, unser Schleppseil um euren Mast zu knoten? Oder soll ich rüberkommen und helfen?”
Lilið und Marusch sprachen keinen Ton miteinander, bis sie im Hafen eingelaufen waren, was zum Glück recht zügig ging. Sobald sie mit dem Schleppboot verbunden gewesen waren, war es losgegangen. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, bei Flaute über die noch vorhandenen Wellen voranzukommen, ohne Segel. Lilið hatte hinten am Heck das nach der Verdrängung zurückströmende Wasser beobachtet. Sie liebte diesen Anblick auch nach Jahren noch.
Sie wurden in den Teil des Hafens geschleppt, der zur Werft gehörte. Eine dicke Person in einem Ringelhemd stapfte eine Rampe hinunter zu ihnen ins Wasser, um das Boot entgegen zu nehmen. Lilið knotete sie wieder los, während Marusch von Bord glitt und die Reste der Ruderanlage aushakte.
“Vielen Dank!”, sagte sie laut, an niemanden bestimmtes gerichtet.
Die Rettungscrew verabschiedete sich, um wieder hinauszurudern und nach weiteren Booten mit Sturmschaden Ausschau zu halten. Lilið erleichterte das, und nicht nur, weil dann auch für andere eine Rettung in Sicht wäre. Sie hasste so sehr, wenn Menschen, von deren Hilfe oder gutem Willen sie abhängig war, schmierig waren oder übergriffige Bemerkungen machten.
“Einen Sliphänger für eine Ormorane!”, schrie die Person im Ringelhemd, die ihr Boot immer noch hielt, in Richtung einer Halle, in die Lilið nicht einsehen konnte.
Nachdem sie alles befestigt hatte, stieg auch sie aus. Gerade als eine höchstens jugendliche Person aus der Halle einen Anhänger herausrollte. Da Marusch und Lilið inzwischen beide das Boot hielten, eilte die dritte Person der jugendlichen entgegen, um mit anzufassen. Der Hänger wurde unter Wasser gerollt, sodass die schwimmende Ormorane mühelos hinaufgeschoben werden konnte. Anschließend zogen sie das Boot zu viert in die Halle.
“Ich bin hier Hafenmeisterin und zugleich Restaurika.”, stellte die Person im Ringelhemd sich vor. “Der Hafen Goffold von Espanoge ist vielleicht ungewohnt klein für euch, was? Deshalb fällt das jedenfalls zusammen, dass ich für beides herhalten muss.”
“Guten Tag.”, grüßte Marusch. Ihre Stimme nahm dabei den selbstsicheren und gleichzeitig ausladend freundlichen Tonfall an, den Lilið von einer sehr adeligen Wache erwartet hätte. “Wir sind Marusch und Allil. Wir kommen von Angelsoge.”
Marusch hätte Lilið damit täuschen können. Irgendwann müssten sie allerdings mal darüber sprechen, ob Lilið einen anderen Decknamen bekommen könnte als Allil.
“Ah, richtig, mein Name ist Anni Sonne. Vornamen sind unter Seeleuten ja üblich, also Anni reicht von mir aus.”, fiel Anni ein. “Angelsoge! Da habt ihr ja schon ein gut Stück Reise hinter euch. Und irgendwer von euch ist ein gutes Nautika!”
“Ich kann mich nicht über Allil beklagen!”, antwortete Marusch.
“Wo soll die Reise denn noch hingehen?”, erkundigte sich Anni.
Lilið warf einen Blick auf die jugendliche Person. Sie stand ein Stück hinter Anni und wartete. Es hatte eine gewisse Symmetrie, dass Lilið ihrerseits ein Stück hinter Marusch stand und genauso untätig wartete.
“Belloge.”, antworte Marusch ohne Umschweife.
Die Insel Belloge lag noch hinter ihrem eigentlichen Ziel Nederoge. Es war eine eher wenig wandernde Insel, die bereits zu einem anderen Königreich gehörte.
“Also habt ihr nicht einmal ein Drittel eurer Reise geschafft.”, stellte die Hafenmeisterin fest. “Was sage ich, nicht einmal ein Viertel.”
Das konnte hinkommen, überlegte Lilið.
Anni beugte sich über die Ormorane und besah sich den Rest ihrer Ruderanlage. Sie strich mit der Handfläche über die Abbruchkante. Das konnte kein schönes Gefühl sein, mutmaßte Lilið. “Daran könnte ich schon was tun.”, sagte Anni. “Aber dafür würde ich schon ganz gern eine Marke sehen. Ich handele mir sonst Schwierigkeiten ein.”
Es wäre durchaus hilfreich gewesen, eine andere Marke gehabt zu haben, als ausgerechnet eine der Königin, überlegte Lilið. Es wäre harmloser gewesen. Es hätte weniger Aufsehen erregt und ein geringeres Risiko bedeutet, wenn es aufgeflogen wäre.
“Dürfte ich deine Lizens sehen?”, fragte Marusch. “Das muss seltsam auf dich wirken, das tut mir leid. Es sollte sich schnell klären.”
Anni blickte skeptisch, aber sie holte aus einer blauen Gürteltasche ein stabiles, wasserfestes Papier heraus. Sie gab es Marusch nicht in die Hand, sondern hielt es ihr bloß dicht genug hin, dass sie es mustern konnte.
Marusch berührte, wie zur Prüfung üblich, Papier und Handgelenk. Es gab Magie, mit der sich Haut auf Papier eichen ließ. Die Eichung selbst benötigte höhere Magie-Kenntnisse, aber das Prüfen durch Berührung war etwas, was Wachen üblicherweise konnten. Lilið fragte sich, ob Marusch es gerade nur nachahmte, weil das das wäre, was sie als Wache täte, oder ob sie es tatsächlich konnte.
Marusch nickte und holte ihrerseits eine kleine Börse aus einer Jackentasche, und daraus die Marke, von der sie Lilið erzählt hatte. “Ich bitte darum, vertraulich mit dieser Information umzugehen.”, sagte sie.
Anni nahm die Marke entgegen, blieb noch einige Momente misstrauisch, dann klärte sich ihr Gesicht. “Selbstverständlich.”, sagte sie. “Die Reparatur sollte in drei Stunden erledigt sein. Ihr dürft im Hafenhaus essen und in der Hafenherberge nächtigen, wenn ihr mögt. Ich schreibe euch dafür einen Wisch, mit dem ihr nirgends Probleme bekommen solltet und anonym bleibt. Sollte jemand Ärger machen, kommt gern wieder zu mir.”