Davonstehlen

CN: Vergiftung als Thema, Herzprobleme - erwähnt, Leistungsdruck, Verfolgungspanik, Küssen.

Sie trennten sich auf, was Lilið Unbehagen bereitete, aber sie sah die Sinnhaftigkeit. Für ihre Reise brauchten sie eine Karte, ein Boot und Proviant. Das war das Mindeste. Die ersten zwei Punkte auf der Liste stellten sich als viel einfacher heraus, als Lilið für möglich gehalten hätte: Marusch selbst war mit einem Boot und einer Karte hierher gekommen, – und mit einem Nautika, das die Mitreisegelegenheit genutzt und seine Nautikkenntnisse zur Verfügung gestellt hatte. Das Segelboot war eine Ormorane (nach einer Seedrachenart benannt), ein klassischer Bootstyp, den Lilið schon einige Male während der Ausbildung gesegelt hatte. Es war ein Zweihandboot, ein etwas schwereres, das auch mit stärkerem Seegang oder hackigeren Winden zurecht käme, Raum für ein wenig Gepäck bot, dafür aber etwas langsamer war, als was Lilið gewohnt war. Das Boot stand in einem Plantagenbewachungshaus unter, wo die Familie des Nautika im Dienst von Lord und Lady Pik Feldarbeit organisierte, die Plantagen und Erträge in der Zwischenlagerung bewachte und eben heimlich nicht nur das. Wenn die Häuser gerade nicht für Lagerung der Feld- und Plantagenerträge für Lord und Lady Pik gebraucht wurden, stellten sie sie unter der Hand für Diebesgesindel und andere Leute, die etwas außerhalb des Gesetzes lebten, zur Verfügung. Unter gewissen Auflagen und für gewisse Gegenleistungen zumindest. Und in einem der Lagerhallen stand Maruschs Ormorane unter.

Marusch hatte Lilið noch hierher begleitet, sie der Familie als ein Freundeswesen vorgestellt (ja, mit dieser Bezeichnung) und hatte sie sich selbst und den Karten überlassen, während sie Proviant zusammen stehlen würde. Auf Liliðs fragenden Blick in Richtung Lebensmittellager vor Ort hatte sie erklärt, dass es zu den Auflagen der Familie gehörte, dass sich dort nicht bedient würde. Höchstens für den akuten Hunger. Weil bei der Menge an gesetzlosem Volk, das hier verkehrte und längere Reisen plante, die Verluste auffällig werden würden und auf diese Weise dann die Tarnung auffliegen könnte.

Es gab zwei Gründe, warum Marusch Lilið hier zurückließ, statt erst mit ihr gemeinsam Proviant zu besorgen und anschließend gemeinsam hier Boot und Karten abzuholen: Für Lilið hätte erwischt zu werden derzeit viel üblere Konsequenzen als für Lebensmitteldiebstahl üblich und Lilið würde einiges an Zeit benötigen, um eine Reiseroute zu planen. Für die Reise mit einer Jolle, die keine so hohe Geschwindigkeit erreichen würde wie eine Reisefragette oder -kagutte, und um jene zu segeln sie auch beide wach und körperlich aktiv sein mussten, mussten sie Zwischenhalte einplanen. Die einzigen Inseln, die sich für Zwischenhalte anboten, waren die Reiseinseln, die, wie ihr Name sagte, reisten. Deren Reiserouten sie also beim Navigieren einplanen mussten. Die Navigation für diese Route mit einer Jolle war bei Weitem kein leichtes Unterfangen.

Lilið hatte zwar noch keine Ausbildung zum Nautika, aber sie stand auch nicht am Anfang, brachte durchaus einiges an Vorkenntnissen aus Unterricht und Eigenstudium mit.

Sie betrachtete die Karte ausgebreitet auf einem großen Tisch in dem derzeit in eine Bootshalle umfunktionierten Lagerraum. Nicht nur Maruschs Boot wurde hier verwahrt. Im Raum verteilt waren einige Jollen auf Böcke gelegt worden und warteten darauf, weiter überholt oder lackiert zu werden.

Der Tisch war eigentlich nur eine große Spanplatte auf Böcken, aber kippelte dankenswerter Weise nicht. Er stand direkt unter einem großen Fenster mit milchigen Gläsern, durch die die Vormittagssonne hereinschien und ihr die Arbeit erleichterte. In den Sonnenstrahlen wirbelte gemächlich feiner Staub durch die Luft.

Lilið strich mit den Fingern über die Karte. Sie hatte eine haftende Oberfläche, auf der das Kartensteinchen, eine kleine, schwere Scheibe, die für das zu navigierende Schiff stand, zwar gut bewegt werden konnte aber nicht leicht herunterfiel oder verrutschte. Es war eine große und vielteilige Karte, anders als die kleinen Seekarten, die sie fürs Navigieren in der Umgebung von Nederoge standardmäßig benutzt hatte. Aber es war auch nicht die größte Karte, die sie je gesehen hätte.

Lilið machte sich daran, sie den Daten in den Tabellen aus dem beigelegtem Büchlein entsprechend auf den heutigen Tag einzustellen. Sie war erst vor wenigen Tagen zuletzt benutzt worden. Also nahm sie sie nicht komplett auseinander, sondern verschob die Inseln über ihre Bahnen an ihre neue Position in der Karte, immer wieder in jenem Büchlein dafür nachschlagend. Anschließend kontrollierte sie alles noch einmal, bevor sie mit dem eigentlichen Navigieren anzufangen gedachte.

Sie hatte gerade das Kartensteinchen an seine Startposition gelegt und sich die Winkellineale und den Zirkel gegriffen, als eine Person die Halle betrat. Lilið blickte auf und erkannte Heelem, den Marusch ihr vorhin als den Nautika vorgestellt hatte, mit dem sie hierhergesegelt war.

Heelem trug in jeder Hand je eine Tasse dampfenden Getränks, nickte grüßend und stellte eine vor ihr ab. “Bist du also der berüchtigte Blutige Master M?”, fragte er. “Oder das Blutige Master M?”

“Was?” Lilið war äußerst verwirrt und verbarg die Verwirrung auch nicht. Hatte Marusch Heelem darüber informiert? Das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen.

“Marusch hat dich als Freundeswesen vorgestellt.”, erklärte Heelem. “Ich dachte, daher ist es dir vielleicht lieber, wenn ich nicht ‘der’ sondern ‘das’ sage. Aber im Grunde habe ich keine Ahnung, was warum richtig wäre. Ich habe weder einen Plan, warum Marusch gern eine Sie sein will, noch warum du Freundeswesen genannt wirst. Ich muss es aber auch nicht verstehen, um es einfach zu akzeptieren und umzusetzen, sofern ich eben weiß wie.”

Die Antwort ging nicht in die Richtung, die Lilið erwartet oder gern abgehakt hatte, aber legte etwas dar, was sie um jeden Preis hätte gesagt bekommen wollen. Genau, dachte sie: Warum beharrten so viele Leute einfach darauf, sie als Frau einzuordnen, die wussten, dass sie es nicht mochte, wo es doch so einfach sein könnte, es zu lassen, auch ohne zu verstehen.

Lilið nickte. “Ich mag neutrale Bezeichnungen, etwa das Nautika. Auch gern erfundene. Aber wo kommt von vornherein diese Idee her, dass ich der Blutige Master M sein könnte?”

“Ach, ich stelle gern Fangfragen.” Heelem grinste. “Ein einfaches ‘nein’ hätte mir gereicht. Die Idee, ja, vielleicht kennst du Marusch ein bisschen. Sie hat Kontakte zu den finstersten Gestalten. Es hätte ihr ähnlich gesehen, nun mit dem Blutigen Master M hier aufzukreuzen.” Heelem gestikulierte zur Tasse, aus der es angenehm aber etwas fremd roch. “Das ist für dich! Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung gebrauchen.”

Lilið grinste und schüttelte den Kopf. “Wie du selbst dargelegt hast, pflegt Marusch Umgang mit recht finsteren Gestalten.”, griff sie Heelems Wortwahl auf. “Daher werde ich so schnell nichts trinken, was mir ein Kontakt von ihr anbietet.”

“Nachvollziehbar.”, kommentierte Heelem. “Wenn auch schade für dich. Es ist guter Monua.”

Es roch verführerisch. Sie hatte Monua lange nicht mehr getrunken. Es war kein regionales Getränk auf Nederoge. Vielleicht war es sogar während ihres Schulausflugs auf Angelsoge gewesen, als sie zuletzt Monua getrunken hatte.

Lilið konnte nicht leugnen, Flüssigkeit und etwas Stärkung nötig zu haben. Aber sie hatte nicht vor, dem Sog eines Getränks so leicht zu erliegen.

Heelem schritt mit dem eigenen Monua durch den Raum und sah sich die Boote an. Vielleicht war das Gespräch vorerst beendet, also wandte sich Lilið wieder der Karte zu. Sie fühlte sich abgelenkt durch Heelems Anwesenheit, weil sie wusste, dass sie für größere Abschnitte der Routenplanung einen konzentrierten Lauf bräuchte, der hinfällig und ohne neue Erkenntnisse wäre, sobald sie dabei unterbrochen werden würde.

“Darf ich dich nochmals stören?”, fragte Heelem.

Lilið wandte sich ihm wieder zu. “Klar!”, sagte sie. “Irgendwann brauche ich einen Lauf, oder mehrere, da wäre das ungünstig, aber ich bin noch nicht im Tunnel.”

Heelem grinste. “Oh, das kenne ich gut. Daher frage ich!”

Auch das erfüllte Lilið mit Freude. Dass er es kannte, einen Lauf zu brauchen oder im Tunnel zu sein, als Nautika. Lilið hatte etwas Sorge gehabt, dass das etwas war, was nur unerfahrene Leute benötigten, und dass geübtere oder gar professionelle Nautikae jederzeit unterbrechen könnten.

Heelem hob die Hand und machte eine Geste, langsam eine Linie von oben nach unten in die Luft ziehend. Er nickte mit dem Kopf Richtung Tür der Halle.

Lilið sah, dem Nicken folgend, zur Tür, die gerade lautlos aufgespalten wurde. Das war Einwirkung ziemlich fortgeschrittener Magie, erkannte Lilið. Von der Mitte ihrer oberen Kante ausgehend trennte sie sich an einer Holzmaserung entlang auf und die Seite der Tür, die nicht in den Angeln hing, rollte sich dabei ein wie ein Sägespahn.

Heelem rollte sie bis zur Hälfte zu einer Rolle und kehrte dann den Vorgang um. Es blieb nicht einmal eine Naht zurück, als sie sich wieder zusammenfügte. Lilið blickte sich wieder zu Heelem um und begutachtete, dass er dabei zwar konzentriert aussah, aber nicht übermäßig angestrengt. Das konnte natürlich auch täuschen. Manche Menschen konnte Anstrengung gut verbergen. Trotzdem war das ohne Zweifel Magie, die nicht mehr zur Allgemeinbildung gehörte.

“Ich kann auch dein Herz stehen lassen.”, sagte Heelem. “Wenn du als Beweis gern einen ungefährlichen, aber etwas gruseligen Vorgeschmack haben möchtest, sag Bescheid.” Heelem lächelte unpassend freundlich ob dieser Ankündigung. “Ich will nicht angeben, darum geht es mir nicht. Jedenfalls, wenn ich dich töten wollte, würde ich es nicht mit Gift probieren.”

“Ah, darauf wolltest du hinaus!” Liliðs Anspannung fiel wieder ein wenig ab.

Heelem nickte. “Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr erschreckt. Das wäre das Gegenteil meiner Absicht gewesen.”

“Ich bin allgemein im Moment ein wenig angespannt.”, widersprach Lilið. Ihr Blick wanderte abermals zur Tasse Monua, die neben ihr stand. Heelem hatte schon recht. Er könnte sie, ohne Spuren zu hinterlassen, oder mit eben denen, die er jeweils verursachen wollte, töten. “Warst du beim Herstellungsprozess dabei oder hast das Getränk selbst gebraut?”

Heelem nickte. “Letzteres.”

Lilið nahm die Tasse in die Hand, drehte dem Kartentisch erst einmal den Rücken zu und setzte sich mit dem halben Po darauf, den nackten Fuß auf den Hocker daneben abstützend. Sie sog den Geruch des Getränks unter ihrer Nase in sich auf. Es roch sehr angenehm und sehr ungefährlich. Sie nickte. “Überredet.”

Heelem grinste. “Du bist also Nautika.”

“Ich möchte Nautika werden.”, korrigierte Lilið. Sie nippte vorsichtig vom Getränk. Es zerging angenehm und weich auf der Zunge, und schmeckte ebenso ungefährlich wie es roch. Wenn ein Gift darin war, dann ein schmackhaftes.

“Beachtlich, dann mit so einer Strecke anzufangen.”, sagte Heelem. “Ich würde dir gern zuschauen.”

Lilið verkrampfte schon bei der Vorstellung der Magen oder auch andere Eingeweide darum herum. Aber gleichzeitig sollte sie sich wahrscheinlich nicht entgehen lassen, dass ein Nautika ihr gegebenenfalls wichtige Hinweise geben würde, wenn sie etwas falsch machen sollte. “Warum bist du eigentlich Nautika?”, fragte sie ausweichend und gestikulierte bedeutungsschwer zur Tür.

Heelem zuckte mit den Schultern. “Ich bin bei gewissen Einbrüchen in die Ungunst von einigen mächtigen Leuten gefallen. Als Nautika habe ich einfach unabhängig davon viel Bewegungsfreiheit, ob und wie sehr mich wenige bestimmte Lords nicht mögen. Oder Ladys. Oder, wie heißen die neutralen der Sorte? Jedenfalls hätte ich die Freiheit in irgendeiner Stellung für Magieausführung nicht, fast egal wie gut die Stellung ist. Naja, und ich wäre dann vermutlich auch eigentlich in der Verpflichtung, meine Freundeswesen zu töten.”

Lilið trank noch einen Schluck und nickte. Als das Gespräch nicht weiterfloss, setzte sie die Tasse ab und wandte sich wieder der Karte zu. Heelem ließ ihr einen Moment Zeit, sich einzufinden, bevor er neben sie an den Tisch trat.

Lilið hasste es so sehr, wenn ihr Leute dabei zusahen, wie sie komplexe Aufgaben löste. Es setzte sie unter Druck. Sie rechnete immer damit, dass ihr Tun kommentiert würde und meistens eher in einer kritisierenden Weise. Oder dass sie sich an bestimmte Regeln halten musste, wie man Dinge eben täte, um positive Rückmeldung zu bekommen.

Sie machte sich klar, dass es hier nicht darum ginge, persönlich bewertet zu werden, sondern darum, auf mögliche Fehler hingewiesen zu werden, die ihnen Tage kosten könnten. Sie versuchte zumindest, sich das klar zu machen. Dieser permanente Druck, den sie in der Schule erlebt hatte, saß zu tief, um ihn einfach wegzuschieben. Aber sie konnte versuchen, sich nicht danach zu verhalten. (Darum herum zu navigieren.)

Sie seufzte und machte sich an die Arbeit. Sie schätzte die Geschwindigkeit mit ausreichend Spielraum ab, die die Ormorane fahren würde. Sie würde später für Fälle von Flaute Alternativrouten berechnen, aber zunächst galt es, überhaupt eine Route zu finden. Anschließend maß sie mit dem Zirkel eine Distanz ab, die die Ormorane mit der Geschwindigkeit innerhalb einer Zeiteinheit zurücklegen würde, die davon abhing, wie stabil die Inselkonstellation in ihrem Umkreis jeweils wäre. Sie hatte in einer Tabelle einen Wert zur Orientierung dafür nachgeschlagen und ihn nach Regeln, die sie kannte, oder vielmehr inzwischen im Gefühl hatte, etwas abgerundet. Die Distanz, die sie mit dem Zirkel abmaß, war außerdem davon abhängig, wo auf der Karte sie gebraucht wurde, weil sich die Skalierung über sie hinweg leicht änderte.

Dann kam der kniffelige Teil: Zu raten, welche Richtung vielversprechend wäre. Denn die Wanderinseln bewegten sich ja auf ihren Bahnen weiter, während die Ormorane sich fortbewegte, und ihre Reiserouten müssten mit einberechnet werden. Lilið kannte keine Person, der sich einfach eine passende Route offenbarte, sobald sie auf eine Karte blickte. Auch die Nautikae, die sie mal bei der Arbeit beobachtet hatte, gingen zunächst auf gut Glück einen Versuch durch, der selten zum Ziel führte, um sich mit der Entwicklung der Lage während der Reise vertraut zu machen.

Trotzdem war sie nervös, als sie mit dem Zirkel von der Startposition aus eine Richtung wählte, das Kartensteinchen verschob und die verschiebbaren Teile der Karte den Regeln entsprechend der gewählten Zeiteinheit weiterschob, bis sich das neue Inselbild ergab.

Sie atmete tief ein und aus, bevor sie die Prozedur wiederholte und wiederholte, bis sie herausfand, dass die Route nicht zum Ziel führen konnte. Also, nicht unter einem Jahr, oder nicht ohne am Ende eine Segelstrecke mit vier Tagen am Stück zurückzulegen, weil nur noch Reiseinseln zum Pausieren vom Kartensteinchen erreichbar wären, die sich zu schnell von Nederoge entfernten und erst im nächsten Jahr wieder von der anderen Seite annähern würden.

Lilið seufzte innerlich und versuchte, ihre Enttäuschung, die sie fühlte, nicht zu zeigen. Sie hätte damit gerechnet, im ersten Versuch vielleicht eine Woche zu spät anzukommen, nicht gar nicht.

Sie sortierte die Karte zurück in ihren Ausgangszustand. Heelem bewegte sich in der Wartezeit kurz durch den Raum, aber lehnte sich, als sie fertig war, ihr schräggegenüber neben das Fenster an die Wand, von seinem Monua nippend. “Vergiss deine Tasse nicht.”, riet er.

Lilið hatte eigentlich gerade keinen Sinn für leckere Getränke, aber nippte trotzdem. Es tat überraschend gut. Es ließ sie sich weniger steril in einem Unterrichtsraum und mehr heimelig in einem Wohnraum oder eben einer geräumigen Bootshalle fühlen, die sie mit angenehmen Erinnerungen verband. Sie hatte die Kühle von Bootshallen und die Vor- und Nachfreude darin über das Segeln immer geliebt.

Sie atmete noch einmal tief ein und aus, als sie sich für eine andere Anfangsrichtung entschied. Dieses Mal konnte sie es bereits basierend auf einer Vorstellung machen, die sie beim ersten Versuch bekommen konnte. Nun ging es wieder daran: Das Kartensteinchen bewegen, die Karte anpassen, messen und Daten nachschlagen. Wenn Kartenteile mit Inseln darauf oben aus der Karte herausfielen, führte sie sie von unten wieder an der richtigen Stelle in die Karte ein.

Dieses Mal kam sie an eine interessante Reiseinselkonstellation heran, bei denen sie detaillierter zusehen musste, wie sie sich bewegen würden. Dazu musste sie die Zeiteinheit entsprechend kleiner wählen. Doch als sie die kleine Drehscheibe nach der Tabelle ein Stück rotieren wollte, die eine Kreisströmung in das Kartenmaterial übertrug, hielt sie skeptisch inne. Ihr Gefühl sagte ihr, dass da etwas nicht stimmte. Sie runzelte die Stirn und nahm sich das Büchlein vor – und vergaß dabei Heelems Anwesenheit. Sie tauchte in das Gedankenuniversum ein, das sie am Navigieren so liebte, in diesen Fluss, in dem sie nichts anderes mehr wahrnahm, als Geometrie und komplexe Zusammenhänge von Bewegungen. Der Moment, in dem ihr Denken Raum für diese nicht visuellen, bewegten Bilder und Abläufe freigab, sodass sie alles ganz umschließen konnte und nicht mehr in Worten dachte, sondern direkt in der Struktur, erfüllte sie immer mit starker Euphorie.

Sie blickte zwischen Karte und Buch hin und her, bis ihr einfiel, was sie vergessen hatte. Es bewegten sich ja auch die großen, festeren Inseln, nur langsamer. Aber wenn die Kanten ihrer Seenplatten die kleinerer Seenplatten berührten, hatte das einen großen Einfluss. Und das war gerade für diese drei kleinen Reiseninseln, deren Route sie verfolgte, relevant.

Sie rekonstruierte den letzten Schritt mit diesem neuen Gedanken und führte die Navigation fort. Nur landete sie wieder in einer ähnlichen Situation wie eben, in der sie keine Möglichkeit hätten Nederoge zu erreichen. Was hatte sie sich da vorgenommen?

Sie seufzte frustriert und sah auf in Heelems Gesicht. Es machte einen neugierigen Eindruck, fand sie. Überhaupt gefiel ihr Heelems Körperhaltung, sie hatte einen gewissen Coolnessfaktor. Ein Arm unter den Ellenbogen des anderen gelegt, der die Tasse hielt, ein Bein angewinkelt, den Fuß an die Wand hinter sich gestützt und alles in allem sehr entspannt und selbstbewusst.

“Willst du einen Kommentar haben?”, fragte er.

Lilið biss die Zähne zusammen und nickte.

“Ich dachte schon, das wäre einer von Maruschs selbstzerstörerischen Plänen, mit einer Person ohne Ausbildung diese Strecke zurücklegen zu wollen, aber mit dir hat er eine gute Chance.”, sagte er. “Du lässt dich nicht davon, dass jemand zuguckt, oder von Ungeduld oder enttäuschten Gefühlen dazu verleiten, falsche Entscheidungen zu treffen oder Flüchtigkeitsfehler zu machen und etwas zu übersehen. Und was du dir da vorgenommen hast, ist nun mal wirklich nicht leicht. Dafür braucht es deine Geduld und Präzision.”

In Liliðs Hals bildete sich ein Kloß. Sie war gleichzeitig sehr erleichtert, dass er sie nicht heruntermachte, und überfordert mit diesem unbeschreiblichen Kompliment. Wortlos, aber vielleicht mit einer Träne im Auge, brachte sie die Karte wieder zurück in ihren Ausgangszustand.

“Du magst mit deiner fehlenden Routine wahrscheinlich einen halben Tag brauchen, bis du die ersten Routen hast, die funktionieren.”, fuhr Heelem fort. “Selbst ich bräuchte sicher eine Stunde. Und du bist maximal eine halbe dabei. Das packst du noch.”

“Danke.”, murmelte Lilið. Ihre Anspannung ließ nach, und erst dadurch merkte sie, wie groß sie eigentlich gewesen war. Schule war echt kein irgendwie heilsamer oder hilfreicher Ort gewesen.

“Ich komme später noch einmal wieder und lass dich mal eine Weile dein Ding machen.”, sagte Heelem. “Du bist ja ganz schön fertig mit den Nerven.”

Lilið kicherte nervös und nickte. “Sie waren schon halbwegs verbraucht, bevor ich überhaupt angefangen habe.”

“Ich erinnere mich.”, sagte Heelem. “Du magst keine klassische Ausbildung genossen haben, das merkt man deinen Methoden an. Aber du machst dich gut mit deiner eigenen Technik. Solltest du tatsächlich in Nederoge ankommen, kannst du dich Leicht-Nautika nennen.” Er winkte zum Abschied.

Wie denn?, dachte Lilið. Woher ein Zertifikat kriegen, wenn nicht während oder nach einer offiziellen Ausbildung. Aber sie lächelte trotzdem ein wenig in sich hinein, als sie den nächsten Versuch wagte.


Vielleicht drei Stunden später hatte Lilið den ersten Durchbruch. Sie kehrte ihn direkt um, um ihn noch einmal durchzugehen und sich dabei in das Kursbuch, das zur Ormorane gehörte, Notizen zu machen. Und während sie dabei war, kam Heelem wieder mit einem zweiten Monua und einem Stück Zapfelkuchen. Er sah ihr wieder dabei zu, was sie immer noch nervös machte, aber nicht mehr so sehr wie vorhin. Er unterbrach sie nicht, bis sie den Stift beiseite legte und zufrieden darüber war, dass sie sich alles gut gemerkt hatte. Und dass sie allmählich ein Gefühl für die Inselbewegungen der nächsten zwei Wochen bekommen hatte.

“Ist die Route gut?”, fragte Heelem.

“Sie führt zumindest zum Ziel, und das sogar in genau zwei Wochen.”, erwiderte Lilið.

“Aber ist sie gut?”, wiederholte Heelem die Frage.

Lilið fragte sich, ob er auf etwas bestimmtes anspielte und ging die Route ein drittes Mal durch. Das funktionierte doch alles so? Doch sie brauchte nicht lange, um das Problem zu bemerken: “Wenn wir auf dieser Insel nicht noch vor Sonnenaufgang aufbrechen, dann driften wir zu viel ab. Auch wenn wir früh genug aufbrechen, aber an dem Tag kein guter Wind ist.”

Heelem nickte. “Es ist eine guter Start, aber es ist deshalb keine Route, die ich empfehlen würde.”, sagte er. “Vielleicht mag eine andere einen Tag länger dauern, aber dafür darf dann auch was scheitern.”

Lilið nickte. “Danke.”, sagte sie erneut.

“Du wärest auch selbst drauf gekommen.”, erwiderte Heelem. Er schob ihr ein steifes, wasserfestes Papier zu. “Hier!”

Lilið nahm es irritiert entgegen. Es sah sehr offiziell aus, fand sie. “Ist das ein Zertifikat? Bin ich damit Leicht-Nautika?”, fragte sie ungläubig.

“Nein.” Heelem wirkte amüsiert, in einer wohlwollenden Weise. “Das kannst du in Nederoge, wenn du es in unter siebzehn Tagen in einer Nautikae-Ausbildungsverwaltung abgibst, gegen ein solches Zertifikat eintauschen.”

“Hui!”, brachte Lilið hervor. Das war eine Chance, mit der sie nicht gerechnet hätte. Stolz und Glücksgefühle durchströmten sie. Und Ehrgeiz.


Es war bereits Abend, als Marusch mit ausreichend Proviant wieder eintraf. Lilið hatte eine gute Route und allerlei Alternativrouten herausgeschrieben. Sie fühlte sich müde und zufrieden. Und sicher. In den letzten Durchgängen hatte sich in ihrer Vorstellungswelt die Karte allmählich in Bilder von Inseln und Strömungen übersetzt, die weniger abstrakt waren. Sie wusste, was auf sie zukommen würde. Heelem hatte ihr nicht geholfen, nicht mit weiteren Tipps zumindest, aber damit, ihre Fähigkeiten einzuschätzen und ihr sachlich mitzuteilen, welche Schwächen sie hatte. Nicht, um sie abzuwerten, sondern um ihr ein Gefühl dafür zu geben, auf welche ihrer Sinne sie sich mehr verlassen konnte und auf welche weniger.

Marusch verfrachtete die Vorräte in den Gepäckberereich der Ormorane. Dann kam sie zum Kartentisch und begutachtete Liliðs Vorgehen. “Ich mag Nautikae wirklich gern bei der Arbeit zusehen. Ich mag diese Hingabe, Präzision und Sorgfalt beobachten.”, sagte sie. “Aber ich habe keinen Plan, was du da gerade tust.”

Lilið blickte verwundert auf, als sie etwas realisierte, was Heelem vorhin schon angesprochen hatte. “Du legst dein Leben damit in meine Hände?”, fragte sie.

“Unsere.”, korrigierte Marusch mit einem zärtlichen Grinsen in der Stimme. “Wenn wir wegen schlechter Navigation draufgehen, dann tun wir es ja zusammen. Magst du eine Umarmung?”

Wie konnte Lilið innerhalb dieses halben Tages vergessen haben, wie sich Maruschs Art anfühlte? Sie liebte ihre liebevolle Sprechweise und teils fehlende Ernsthaftigkeit, die dann doch da war, wenn es wichtig war.

“Ja bitte!”, flüsterte sie.

Noch ehe sie sich zu Marusch umdrehen konnte, wanderten Maruschs Arme von hinten um Lilið herum. Maruschs Körper schmiegte sich weich von hinten an ihren und Marusch erlaubte sich einen zarten Kuss in Liliðs Halsbeuge.

Lilið versuchte, in Heelems Gegenwart nicht zu heftig einzuatmen oder anders stark zu reagieren. Sie strich Marusch über die Unterarme und Finger, die sich viel zu schnell von ihr wieder lösten.

“Bekomme ich auch eine?”, fragte Heelem.

Damit hatte Lilið nicht gerechnet. Sie fühlte genau in sich hinein, was mit ihr passierte, als Marusch auf diese charmante Art, die sie hatte, zustimmte, Heelem sich von der Wand abstieß, und sie eine innige Umarmung austauschten. Sie küssten sich gegenseitig die Nasenspitzen, bevor Marusch auch diese Umarmung auflöste.

Lilið fühlte keine Eifersucht. Das gefiel ihr. Sie wusste eigentlich nicht einmal, was Nasenküsschen bedeuteten, oder ob überhaupt von etwas ein Beziehungsstatus abgeleitet werden könnte, aber es sah innig und liebevoll aus, und es störte sie nicht. Im Gegenteil: Ein Teil in ihr freute sich sehr, weil es sich für sie sofort logisch und natürlich anfühlte, Beziehungen zu führen, die auf diese Art offen oder frei waren. Sie freute sich, dass sie nicht viel in sich selbst fand, woran sie hätte arbeiten müssen, damit sie nichts Schlechtes dabei fühlte, weil es bereits war, wie sie eben einfach war. Und sie freute sich interessanterweise, dass sie auf diese Art nicht ins Gesellschaftsbild passte, das sich immer so beengt anfühlte.


Diese Nacht verbrachten sie hier in der Halle in Schlafsäcken auf dem Boden, die Marusch in der Ormorane gelagert hatte. Es hätte Lilið vielleicht weniger gemütlich vorkommen sollen als das Bett in der Nacht zuvor, aber das Gegenteil war der Fall. Sie waren hier nicht so bedroht. Es fühlte sich viel mehr so an, als gehörte sie hier her.

Aber als Lilið sich über Marusch beugte, um zärtlich ihr Gesicht zu küssen, unterbrach Marusch sie, obwohl sie schneller atmete. “Ich habe zu lange zu wenig geschlafen.”, sagte sie. “So gern ich würde, heute Nacht nicht.”

Lilið ließ sofort von ihr ab. “Ich hätte fragen sollen.”

“Ich fühle mich bei dir sicher genug, etwas zu sagen.”, erwiderte Marusch.


Lilið wachte vor Sonnenaufgang auf. Sie fühlte sich sehr ausgeruht, aber sie hatten verabredet, bei Sonnenaufgang aufzubrechen, und sie hatte ein Bedürfnis, sich vorher zu waschen.

Sie trat aus der Halle in das neblige, feuchte Morgengrauen. Neben dem Eingang, halb durch eine Holzwand abgeschirmt, gab es eine kalte Dusche aus gesammeltem Regenwasser. Die ruhige Stimmung der Szenerie tat sehr gut und entspannte sie. Das Geräusch des Wassers und die angenehme Kälte auf der Haut belebte ihre Sinne. In der Ferne standen zwei Personen zusammen und unterhielten sich leise, die eine davon erkannte sie an der Haltung und Kleidung als Heelem.

Übergangslos verschwand das angenehme Gefühl von Sicherheit und Entspannung, das Lilið gerade noch gefühlt hatte, als wäre es nicht erlaubt. Lilið überkam Panik, dass Heelem doch erkannt haben könnte, wer sie war, und sie verraten hatte. Die beiden Personen blickten sich in regelmäßigen Abständen zur Halle um.

Es war vermutlich eine unsinnige Panik, aber Lilið unterbrach das Auswaschen ihrer Binde, legte ihre Anziehsachen über ihren feuchten Arm und trat wieder in die Halle. Marusch schlief noch tief. Sollte sie sie wirklich für einen Verdacht aufwecken, der sehr unrealistisch sein könnte? Würde Marusch hier so ruhig schlafen, wenn sie Heelem nicht voll vertrauen würde?

Lilið erinnerte sich daran, dass Heelem erzählt hatte, dass Marusch manchmal selbstzerstörerische Pläne ausführte. Das brachte sie auf einen neuen Gedanken: Vertraute Marusch ihr überhaupt? Oder kam es Marusch nicht drauf an, was passieren könnte? Was war das eigentlich genau für ein Mensch?

Lilið beschloss, für den Augenblick zu vertrauen, ihren Waschvorgang abzuschließen und Marusch wie geplant, zum Sonnenaufgang zu wecken. Wenn die Ühnerdrachen ihr nicht zuvorkommen würden.


Nichts passierte. Heelem hatte sich einfach in der Wartezeit, bis Marusch und Lilið aufwachen würden, mit seiner Schwester unterhalten, von der Marusch das Kleid für den Ball geliehen hatte. Heelem hatte die Heftnähte inzwischen wieder aufgetrennt, erzählte er, sodass es seiner Schwester wieder passte. Irgendwie beruhigte es Lilið, weil diese Vorgeschichte dafür sprach, dass sich Heelem und Marusch nahe standen. Interessanterweise hatte die Sache mit dem Kleid für Lilið mehr Aussage als die innige Umarmung vom Vorabend.

Heelem und seine Schwester hatten vor der Halle gewartet, bis Marusch und Lilið soweit wären, um ihnen zu helfen, das Segelboot zum Wasser zu tragen. Das war zu viert viel einfacher als es das zu zweit gewesen wäre, weil der Weg zum Wasser über eine breite Treppe hinabführte und auch nicht ganz kurz war.

Heelem und Marusch umarmten sich auch zum Abschied und gaben sich wieder Nasenküsschen, als sie bereits knietief in der Brandung standen. Lilið hielt das Boot, während Marusch das Ruder einrastete, einstieg und das größere der Segel dichter holte, sodass etwas Wind darin stand und das Boot weniger kippelte, als Lilið an Bord kletterte. Sie steuerte und bediente das Großsegel, während Marusch das Vorsegel und den Gewichtstrimm übernahm. Unter der Landabdeckung hatten sie noch recht milden Wind, aber sobald sie den Windschatten verließen, strich der ablandige Wind gleichmäßig und stark in die Segel, sodass sie Angelsoge rasch hinter sich ließen. Lilið fühlte sich überwältigt von alledem. Davon, das erste Mal so eine lange Route zu segeln, die sie auch noch selbst geplant hatte, mit einer Person an ihrer Seite, in die sie sich verliebt hatte, um einen gestohlenen Gegenstand an seinen Ort zurückzuschmuggeln. Das war das Abenteuer, das sie sich immer gewünscht hatte.