Einen Fang machen

CN: Fantasie-Gewitter, Misgendern, Nacktheit, Vergiften, fast Ertrinken, Reden über Massaker.

“Du hast es also geschafft und bist nun Leicht-Nautika.” Heelem trat neben Lilið an den Kartentisch und beobachtete ihr Werk. Er hatte Lilið gebeten, schon einmal die Rückreise nach Belloge zu planen, und ihr einen Vorsprung gelassen, bis er dazustoßen und mitplanen würde.

Lilið blickte auf in sein Gesicht und fragte sich, wie sie ihm beibringen könnte, dass sie nicht bloß Leicht-Nautika war. Sie fühlte ein Unbehagen dabei, ein inneres Schwitzen, vielleicht Angst? “Nautika.”, korrigierte sie leise.

“Wurde mein Schreiben einfach mal wieder als zu knausrig angesehen oder hast du später ein weiteres Zertifikat bekommen?”, erkundigte sich Heelem.

“Ersteres.” Lilið seufzte. “Der Mensch, der es mir erstellt hat, meinte, ich wäre benachteiligt in dieser Welt und ich würde dem schon gerecht werden.”

“Zurecht, Lilið.” Heelems Stimme war zwar nun ebenso leise wie Liliðs, aber irgendwie betonte das die Aussage um so mehr. “Spätestens jetzt verdienst du es. Ich sehe, wie routiniert und sicher du inzwischen bist. Und eine Kagutte hast du auch durch die vornederoger Inselplatten navigiert. Das ist nicht ohne.”

Lilið fühlte, wie ihr Blut ins Gesicht stieg. Und Glückseligkeit. Für ein paar Momente. Sie genoss sie einfach und hinterfragte dieses Mal nicht, ob sie das Gefühl richtig platziert fand oder ob es mit verinnerlichter Verknüpfung zwischen Selbstwert und Leistung zusammenhing. Sie fragte sich, wie sie im Vergleich mit Heelem abschneiden würde. Sie vermutete zwar, dass Heelem viel besser sein müsste, aber stellte fest, dass sie keinen Beweis dafür hatte. “Ich habe dich noch nie navigieren sehen.”

“Möchtest du?”, fragte Heelem freundlich. “Und falls ja, willst du dabei gern verstehen, was ich tue, oder willst du sehen, wie ich normalerweise vorgehe.”

Lilið kicherte. “Eigentlich beides. Kannst du erst letzteres tun, weil ich wirklich neugierig wäre, wie das aussieht, und dann wiederholen, was du getan hast, und erklären, was ich nicht verstanden habe?”

“Schon.”, meinte Heelem. “In meine Art zu navigieren, gehen allerdings eine Menge Erfahrungen und Schätzungen ein. Ich habe für viele übliche Startsituationen schon so oft alle Fälle durchgespielt, dass ich Richtungen ausschließen kann, von denen es lange dauern würde, zu erklären, warum ich so allgemein weiß, dass sie nie zum Ziel führen würden.”

“Ich bin bereit dazu.” Lilið versuchte, möglichst einladend zu lächeln.

Heelem nickte. Er setzte, ohne in irgendein Buch zu schauen, die Karte wieder zurück in den Zustand, der die Lage zu diesem Zeitpunkt widerspiegelte. Das konnte Lilið noch nachvollziehen. Alles danach wirkte irgendwie wie ein fauler Trick. Heelem bewegte das Kartensteinchen über die Karte, ohne Zwischendurch innezuhalten, drehte die Räder und verschob die Reiseinseln einfach zeitgleich, aber nicht einmal alle, sondern nur die, die zum Geschehen gerade beitrugen. Er entfernte sogar eine Inselscheibe aus der Karte, die sich sonst verklemmt hätte, was hieß, dass sie einen Einfluss auf den Weg genommen hätte. Später, als das Kartensteinchen in Belloge anlegte, korrigierte er die Karte von dort aus und setzte die fehlende Insel an ihrer neuen Position wieder ein. “So sollte das gehen.”, sagte er. “Bei der kurzen Strecke brauche ich meistens nur einen bis zwei Durchläufe.”

“Ich gebe zu, ich habe derzeit keine Chance, hinterherzukommen.” Lilið lächelte trotzdem. Es hatte etwas Schönes an sich gehabt, etwas Physik ignorierendes. “Aber ich denke, ich verstehe schon, wie du zu diesen Fähigkeiten kommst und habe Hoffnung, dass ich vielleicht in einem Jahr oder zweien so weit bin. Keine Ahnung, ob die Schätzung sinnvoll ist.”

“Das kann ich dir auch nicht sagen.”, antwortete Heelem. “Es gibt auch viele Nautikae, die nie so zu navigieren lernen wie ich. Und es gibt viele, die ihre ganz eigenen effizienten Wege finden.”

Heelem passte auf, dass sie sich beim zweiten Durchgang, bei dem er eine Menge erklärte, nicht verzettelten, sodass sie am späten Vormittag aufbrachen. Er legte wert darauf, dass Lilið verstand, was sie taten, einfach falls er aus irgendwelchen Gründen ausfiele. Der Wind war etwas stärker als am Vortag. Der Himmel war klar. Lilið spürte geradezu, wie der Rumpf des Schiffes durch das Wasser schnitt und auf welche Art die Geschwindigkeit zustande kam. Vielleicht würde sie sie dieses Mal nicht unterschätzen.

Sie war müde, aber nicht mehr so erschöpft wie am Vortag. Die Erlebnisse belasteten sie immer noch nicht mehr als eine zu lange, etwas aus den Fugen geratene Woche. Vielleicht sollte sie Drude doch fragen, warum ihre Gefühle denn nun nicht falsch wären, aber Drude spülte im Schiffsbauch und wollte dabei allein gelassen werden. Dey hatte sogar den Niedergang mit den einsetzbaren Holzbrettern verschlossen.

Lilið beschloss, über das Deck zu spazieren und sich die Teeseufel genauer anzusehen. Heelem hatte darauf wert gelegt, dass nicht er die Rennyacht Teeseufel genannt hatte, sondern irgendeine Person, die sich für besonders witzig gehalten haben mochte, von der Marusch und er die Yacht auf Nederoge übernommen hatten. Lajana fand den Namen durchaus sehr witzig und Marusch nannte ihn wohlklingend. Marusch war ja auch immer für Tee zu haben. Lilið erinnerte sich zurück an ihre erste Begegnung und musste grinsen. Ein gemütlich getrunkener Tee bei einem Einbruch. Lilið fühlte sich wohlig bei dem Gedanken, gleich vorzuschlagen, gemeinsam einen Tee zu trinken, sobald Drude die Kombüse und damit verbundene Privatsphäre nicht mehr für sich brauchte. Lilið bemühte sich, sich keine Sorgen um Drude zu machen. Dey brauchte einfach Alleinzeit. Das war normal. Es war eben nur noch nie bisher vorgekommen, dass Lilið es so sehr mitbekommen hätte. Sie wusste zwar, dass Drude sich auf der Kagutte manchmal Auszeit genommen hatte, – dann meinst unter Wasser – , aber gleichzeitig hatte sich Drude von Lilið nie zurückgezogen. Trotzdem war es eigentlich nichts, was Lilið Sorgen bereiten sollte.

Ohne es richtig zu merken, war sie bis zum Bug gegangen. Es war kein weiter Weg gewesen. Die Yacht war irgendwas zwischen 15 und 20 Meter lang. Sie war aus Holz gebaut, aber aus festerem, dünnerem als Lilið es von den Kagutten kannte. Holz, das vermutlich für sich schon sehr viel wert und dann noch mit komplexer Magie in eine gebogene Form herausgearbeitet worden war. Es fühlte sich glatt unter den nackten Füßen an, fast wie Fels, aber eben mit der Wärmeleitfähigkeit und dem Klang von Holz. Die Reling war eine niedrige Holzleiste mit lang gezogenen Löchern darin, oder alternativ ein sehr niedriges, dünnes Geländer. Sie hielt von selbst niemanden davon ab, ins Wasser zu fallen, aber die Löcher eigneten sich dazu, sich festzubinden, um auch bei Sturm sicher zum Bug zu gelangen. Neben der Reling befand sich auf beiden Seiten jeweils ein schmaler Weg zum Bug und zwischen den Wegen war das Deck erhöht. Es ging eine Stufe hinauf, in der sich schmale Luken befanden, durch die das Unterdeck gelüftet werden konnte. Das erhöhte Deck war gleichzeitig das Dach des Unterdecks. Der Mast war durch die Decke in das Unterdeck hineingelassen und stellte im Unterdeck eine Säule mitten im Raum dar.

Die Teeseufel hatte zwei sehr hohe Segel. Das Vorsegel reichte noch am Großsegel vorbei. Es war also eine sogenannte Genua. Im Prinzip hatte die Yacht Ähnlichkeiten mit der Ormorane, die Lilið mit Marusch gesegelt war, außer, dass sie größer war, ein Unterdeck hatte und ein Kielschwert, das dauerhaft daran befestitgt war. Die Teeseufel konnte nicht einfach an Land gezogen werden, sie müsste dafür mit Kränen aus dem Wasser gehoben werden.

Lilið war im Rahmen ihrer Segelprüfungen ein paar Mal auf dieser Art Schiffstyp mitgesegelt. Also, Schiffen mit einer Größe irgendwo zwischen den Kagutten und den kleinen Jollen. Viel Erfahrung hatte sie trotzdem nicht. Sie konnte erkennen, dass die Teeseufel ein anderes Verhältnis von Länge und Breite hatte als die Yachten, auf denen sie geprüft worden war. Die Teeseufel war schmaler und schnittiger. Es war eben eine Yacht, die auch für Wettkämpfe ausgelegt war. Sonst hätten Heelem und Marusch es vielleicht auch nicht so schnell hergeschafft.

Lilið stellte sich ganz an den Bug, eine Hand am Vorlik der Genua, um sich festzuhalten, die Füße ungleichmäßig belastet, weil die Teeseufel krängte, und ließ sich den Wind durch Gesicht, Haare und Kleidung wehen. Kleine Tröpfchen kamen mit ihm mit, jedes Mal, wenn die Yacht durch eine Welle schnitt. Die Abe hatte Kreise um den Mast gedreht und landete auf Liliðs Schulter. Der kleine Kopf schmiegte sich gegen Liliðs Kinn und Lilið strich mit den Fingern der freien Hand über das weiche Gescheder der Abe. Lilið überlegte, dass sie sich gerade episch fühlen sollte, aber so ganz kam das Gefühl nicht bei ihr an. Es war schon schön, aber es lag auch noch Anstrengung vor ihnen. Am meisten mochte sie vielleicht, dass sie ihren Körper wegen der Krängung asymmetrisch belastete. Auf diese Weise fühlte sie ihn mehr.

Sie schloss einen Moment die Augen, um ganz in sich hineinzufühlen, atmete. Sie runzelte die Stirn. Sie fühlte das Igeldings nicht mehr. Oder nicht mehr so gut.

Sie spazierte zurück zum Heck, wo die anderen außer Drude saßen, und stieg zu ihnen hinab in den Sitzbereich. Das immerhin war auch schön: Sie mochte zu große Stufen steigen und die Hände dabei benutzen. Die Abe klammerte sich dabei um ihren Hals und in ihrem Kragen fest.

“Ich fühle das Igeldings nicht mehr richtig.”, teilte Lilið den anderen mit. “Das Signal ist gestört.”

Heelem grinste. “Das hat Marusch auch gerade mitgeteilt. Das sind interessante Auswirkungen. Es naht ein Gewitter.”

Lilið suchte den Horizont ab. Ja, diese gelblichen Wolken dahinten mochten ein Gewitter werden. Als sie genauer hinsah, erschreckte sie sich fast. “Ein übles!”

Heelem nickte. “Wir haben leider keine Möglichkeit, auszuweichen.”, teilte er mit.

“Aber Segel einzuholen?”, fragte Lilið.

Heelem nickte und atmete genüsslich langsam ein und aus, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Die Pinne bediente er mit einem Bein. “In ein paar Minuten.”

Lilið schüttelte grinsend den Kopf und setzte sich schließlich dazu. “Tiefenentspannung, bevor alles drunter und drüber geht?”

Heelem zuckte mit den Schultern. “Ich sehe keinen Sinn, sich zu sorgen. Es ist nicht mein erstes Gewitter. Wenn uns Blitze falsch treffen oder der Sturm uns ungünstig umpustet, haben wir verloren, aber es gibt, außer Segel einholen, nicht viel zu entscheiden.” Heelem runzelte plötzlich die Stirn. “Moment: Drude ist Aquaristika, richtig? Dey beherrscht ein gutes Stück Hydromagie.”

Wie als Reaktion auf die Frage rüttelte Drude von innen an den eingesetzten Platten zum Niedergang, bis sie sich lösten. Lilið fand eher unbehaglich, dass sie klemmten. “Es ist ja nicht so, als würden mir eure Gefühle da unten entgehen. Und das Gewitter fühle ich auch.”, meinte dey. “Aber Segel eingeholt habt ihr noch nicht?”

Die Abe sprang sofort von Liliðs Schultern, als sie Drude wahrnahm. Die Krallen drückten sich dabei in Liliðs Haut am Schlüsselbein, aber sie konnte dem Drachen nicht böse sein. Er landete mit zwei Sätzen in Drudes Armen und fiepste.

Drude legte beruhigend die Arme um die Abe. “Lil weiß auch, was los ist. Dey bleibt vermutlich unter Deck.”

Heelem richtete sich aus seiner legeren Haltung auf und führte die Pinne wieder mit der Hand. “Na gut. Dann vielleicht besser zu früh als zu spät. Marusch und Lilið, holt ihr die Segel ein?”

“Aye!”, bestätigte Marusch.

Lilið folgte ihr und lauschte dabei dem Gespräch zwischen Heelem und Drude. Heelem fragte: “Kannst du Blitze beeinflussen?”

“Jein.” Drude betonte das Wort überzeugt, als handelte es sich nicht um ausgedrückte Unklarheit. “Ich kann Wellen formen, die höher als der Mast sind. Das halte ich nicht lange am Stück durch, aber es erhöht, solange ich es tue, die Chancen, dass Blitze stattdessen dort einschlagen. Ich wurde schon öfter instruiert dazu, mir das Wetter anzugucken, und wenn Blitze häufig sind, die Hydromagie so anzuwenden. Aber ich bin nicht routiniert.”

“Dann sage ich dir jeweils, wann du das tun sollst.”, erwiderte Heelem.

Drude gab einen bestätigenden Laut von sich, der auch ‘Aye’ sein mochte, aber er ging für Lilið halb in der ersten Windböe unter.

“Kann ich irgendwas tun?”, fragte Lajana.

“Ja. Siehst du das hellbraune Seil?” Heelem wartete wohl ein Zeichen ab. “Leg es um die Winsch, das ist dieser Zyllinder dort, und zieh es stramm.”

Lilið hörte auf, Heelems Unterhaltung mit Lajana zu folgen. Sie hatte sich ein paar Momente gefragt, ob Heelem Lajana nur deshalb etwas zu tun gab, damit sie sich nicht nutzlos fühlte und keine Panik bekäme. Aber es schien ihr nicht der Fall zu sein und war gerade auch nicht ihre Verantwortung.

Der Wind nahm so rasch zu, wie sie es nur von den richtig schlimmen Gewittern kannte. Binnen weniger Sekunden war das satte Blau des zuvor klaren Himmels überwuchert mit eiligen Wolken. Schönen Wolken, kam Lilið nicht umhin festzuhalten. Blaues und grünes Flimmern schoss darunter und in ihnen entlang wie ein Netz aus Ranken und kribbelte unter Liliðs Haut, – ähnlich wie das Igeldings und doch wieder ganz anders. Waren Blitze und Bitzeln physikalisch wirklich nicht so weit auseinander? Wenn das Igeldings Wellen auf Basis dieser Energieform kommunizierten, war dann ein Gewitter für es unerträglich laut? Wie cool war das eigentlich, sich über solche Distanzen unterhalten zu können, wenn nicht gerade ein Gewitter im Raum stand? Könnte sie das mit Marusch lernen?

Marusch und Lilið hatten gerade das Segel gefaltet, als der Regen einsetzte, und zwar, wie kaum anders zu erwarten, schräg von der Seite. Sie banden das Segel am Baum fest. Lilið auf der einen Seite davon und Marusch auf der anderen. Während Liliðs vordere linke Seite trocken blieb, musste es bei Marusch die hintere rechte sein. Lilið hatte versäumt, die Segeljacke anzuziehen, weil es eben noch so warm gewesen war. Wasser strömte in ihren Nacken und hämmerte auf ihr eines Ohr und die zugehörige Gesichtshälfte. Sie konnte nicht bestreiten, dass sie dieses Wetter liebte.

Heelem schrie irgendetwas. Über die vielleicht fünf Meter Distanz und das Flattern des Vorsegels drang fast nichts zu ihnen durch. Aber als sie zu ihm blickten gab er Anweisungen mit den Armen, die Marusch für Lilið übersetzte. Während Lilið am Bug die Genua bergen sollte, sollte Marusch Lajana dabei helfen, das Fall nur langsam kommen zu lassen, damit sich das sich senkende Segel nicht in der Saling am Mast verfangen würde. Lilið blickte den Mast empor zur Saling, so etwas wie Ausleger am Mast, über die die Seitenverspannung (Wanten) den Mast am seitlich Umkippen hinderte, während Vor- und Achterstak, die weiter oben am Mast angebracht waren, das Umkippen nach vorn oder hinten verhinderten. Lilið wollte schon über das Dach des Unterdecks nach vorn gelangen, um Heelems Befehl Folge zu leisten, als Marusch sie noch einmal am Arm festhielt. “Du gehst keinen Schritt weiter ungesichert vom Mast weg.” Lilið hatte sie vielleicht noch nie so eindringlich erlebt.

Marusch trat zwei Schritte Richtung Heck, wo ihr Lajana einen Gurt samt Seil übergab, den Lilið sich anziehen sollte. Es waren im Prinzip nur zwei Schlaufen für die Beine mit so etwas wie Hosenträgern, und vor dem Bauch waren zwei weitere Seile befestigt. Eines eher kurz, das andere länger. Lilið befestigte das lange um den Mast mit einem passenden Knoten und schwankte durch Wind und Regen zum Bug. Hier hörte sie nichts als das Wetter. Zum Peitschen des Regens und Singen des Windes in der Takelage war nun endlich auch Donnerkrachen gekommen. Inzwischen war sie völlig durchnässt. Ihre baren Füße hielten sie einigermaßen stabil auf dem Deck, aber sie merkte doch, dass Festbinden eine gute Idee gewesen war. Die Wellen wurden höher und unberechenbarer und auch der Wind peitschte in kaum vorhersehbaren Attacken ins Segel. Sie konnte sich halten, aber eine Unachtsamkeit, ein verspätetes Reagieren, und ohne Sicherung wäre es dann wohl um sie geschehen gewesen.

Sie zog kräftig am Segeltuch, das sich gegen ihren Griff wehrte. Erst passierte gar nichts, aber wenige Momente später ließ es sich nach unten ziehen. Wahrscheinlich gaben Lajana und Marusch nun nach, da sie hier war. Lilið fragte sich, ob Heelem nicht doch hätte etwas früher zum Einholen der Segel auffordern können. Aber die Arbeit war überraschend schnell und relativ einfach erledigt. Vielleicht spielte dabei eine Rolle, dass sie gut darin war, zu falten. Sie machte aus dem Segel ein Bündel, das dem Wind kaum Angriffsfläche bot, löste es vom Vorstag und hängte es sich über die Schulter. Neben dem Mast stand inzwischen Drude und blickte in die Wellen hinaus.

“Brauchst du etwas?”, schrie Lilið demm ins Gesicht.

Drude schüttelte kurz den Kopf. Also löste Lilið ihre Verbindung zum Mast, um beim Heck ankommen zu können, da berührte Drude sie noch einmal am Oberarm. Lilið wandte sich ihr zu.

“Danke. Dass es dich in meinem Leben gibt.”, sagte dey, gerade laut genug, dass Lilið demm gegen den Wind hören konnte.

Einen Moment fühlte Lilið sich zu überwältigt, etwas zu sagen. Sie lächelte. “Gleichfalls, Drude.”

“Husch!”, fügte Drude hinzu.

Lilið beeilte sich, samt Segel zurück ins tiefer gelegene Heck zu gelangen. Marusch wartete unter Deck, um das Segel entgegenzunehmen und zu verstauen. Lajana saß auf einer der Bänke und band sich fest. Heelem war auch festgebunden, also wartete Lilið gar nicht erst seinen Hinweis ab, dass sie es ebenso tun sollte, und folgte ihrem Beispiel. Sie blickte zu Drude, dey sich inzwischen an den Mast gebunden hatte. Wie in solchen Sagen, dachte Lilið, in denen alle ins Wasser sprangen, wenn sie den Gesang der Nixen hörten, und nur die an den Mast gefesselte Person überlebte, die es dann aber mit Hunger zu tun bekam.

Lilið war gespannt, was passieren würde, denn sie hatte so ein Gewitter noch nie auf dem Meer erlebt. Es hieß wohl abwarten. So richtig losgegangen war das noch nicht. Es war kühl, düster und stürmisch, aber entgegen der Windrichtung kam eine noch viel dunklere Wand auf sie zu. Der starke Regen zeichnete sich gegen den Horizont ab.

“Marusch, was machst du da unten?”, schrie Heelem. “Die Luke muss bald zu!”

“Ich mache Tee!”, schrie Marusch zurück.

Es hatte etwas Witziges, Heelems Gesichtszüge entgleiten zu sehen. “Was.”, murmelte er, gerade so laut, dass Lilið es verstehen konnte, aber auch nur, weil sie die Lippen mitlas. “Marusch! Auch wenn ich für Quatsch zu haben bin, ich weiß nicht, wie das funktionieren soll!”

Marusch stieg die Treppe hinauf und kam mit zwei tiefen Holzbechern wieder, die halb gefüllt waren. “Wer möchte denn noch?”

Lajana meldete sich. Maruschs Lächeln war warm, als sie Lajana einen Becher reichte. “Versuch, dir nicht die Zähne damit auszuschlagen.”

Lilið blickte zwischen Heelem und Marusch hin und her. “Nimm ruhig.”, murrte Heelem ihr zu.

Also meldete sie sich auch und bekam den anderen Becher.

“Drude? Willst du Tee?”, schrie Marusch gegen den Wind an.

Drude schüttelte den Kopf. “Wenn alles vorbei ist, gern!”, ergänzte dey schreiend.

Marusch verschwand noch einmal im Unterdeck, um sich auch einen Becher zu holen, reichte auch diesen Lilið, um die Hände zum Verschließen der Luke freizuhaben, sowie um auch sich festzubinden, und nahm ihn Lilið wieder ab, als alles getan war. “Auf ein gemütliches Gewitter.”

“Auf gemütliche Ungemütlichkeit!”, fügte Lajana hinzu und hob den Becher.

Es dampfte aus den Bechern, während der Regen hineintropfte. Lilið fand es durchaus urgemütlich.

“Ich bin gespannt, wieviele Becher wir verlieren.”, brummte Heelem.

Der Übergang zum schlimmeren Wetter war fast unscheinbar. Es wurde einfach noch dunkler, das Donnern lauter, die Yacht schlingerte mehr. Ein Blitz erhellte für volle fünf Sekunden gefühlt die ganze Welt. Er sog eine Wassersäule aus dem Wasser, die in gleißendem Licht erstrahlte, bevor sie sich wieder ins Meer ergoss, – nicht sehr weit von ihnen –, und eindrucksvolle, tiefe Dunkelheit hinterließ. Heelem schrie Drude zu, dey möge mit der Magie beginnen. Auch dass war beeindruckend. Immer in einiger Entfernung erhob Drude Wassermassen aus dem Wasser, die die Teeseufel weit überstiegen und im Geflimmere des Wetters schillerten. Sie schaukelten und schlingerten. Lajanas Tasse ergoss sich über das Deck. Lilið nahm ihr die Tasse ab, weil Lajana weinte und sich zu Marusch in den Arm schmiegen wollte. Sie rutschten trotz Fesselung und obwohl sie sich alle an etwas festklammerten, auf den Bänken hin und her, und wie Lilið es schaffte, die Teetassen festzuhalten und aus ihrer nicht viel zu verschütten, wusste sie nicht. An Trinken war jedenfalls nicht so richtig zu denken, da hatte Heelem wohl recht. Lilið probierte es trotzdem, als sie sich an alles einigermaßen gewöhnt hatte. Der herbe Geschmack, der ihre Lippen und dann direkt auch ihr ganzes Gesicht bedeckte, war angenehm. Und als sie die Augen wieder öffnete, sah sie den ersten Blitz krachend in eine von Drudes Wellen einschlagen. Wenig später brauchte Drude gar nicht mehr zu werkeln, weil die Wellen durch das Wetter von selbst so hoch wurden. Heelem kommandierte mit vereinbarter Zeichensprache.

Als die Blitze um sie herumzuckten und Lilið wusste, dass sie sie nur um Haaresbreite verfehlten, setzte auch bei ihr endlich Panik ein. Warum eigentlich? Was half das? Wie Heelem gesagt hatte, sie könnten eh nichts tun. Das Krachen und Donnern grollte fast ununterbrochen. Der Regen peitschte wie Sand im Sturm auf die Haut. Lilið mochte den Schmerz. Das war interessant. Sie mochte auch die Kälte. Und als die erste riesige Welle sich über die Teeseufel stülpte, vergaß Lilið ihre Angst auch wieder. Heelem steuerte, was kaum möglich war, weil ihre Nusschale keine Fahrt hatte, aber irgendwie schaffte er es doch, sie mehr mit dem Bug in die Wellen zu drehen. Das salzige Wasser ergoss sich über sie. Ein paar Sekunden konnten sie jeweils nicht atmen (außer Drude), bis das Wasser wieder vom Deck herunterfloss. Es schäumte dabei an der niedrigen Reling, floss zwischen den Ritzen ab, verweilte in ihrem Fußraum noch am längsten, aber hatte durchs Heck hin Platz, um wegzuströmen. Es hatte einen Grund, dass sie festgebunden waren.

Vielleicht hätte Lilið es ab jetzt nur noch genossen, bis sie überlebt hätte oder gestorben wäre, wenn Lajana nicht so gewimmert hätte. Marusch redete auf sie ein. Lilið wusste nicht, was sie tun sollte. Schließlich beschloss sie einfach, ein Seelied zu singen. Heelem lachte laut, als er es hörte. Lilið dachte zunächst, er hielte die Idee für ähnlich albern wie den Tee, aber er stieg schief mit ein. Es half gegen die Panik. Lajana setzte beim zweiten Lied mit ein und bestimmte das dritte selbst. Sie grölten ein Lied nach dem anderen in den Sturm, bis das Unwetter endlich weniger garstig wurde. Hatten sie es tatsächlich überstanden, ohne dass ein einziger Blitz eingeschlagen war?

Im heller werdenden Licht weit entfernt erblickte Lilið eine Kagutte, die gerade wieder Segel setzte und auf eine Insel zusteuerte, die sie in der Ferne sehen konnte. War das schon Belloge? Oder war es eine ganz andere Insel, weil sie so sehr vom Kurs abgekommen waren? Die Kagutte blieb nicht lange im Sichtfeld. Sie war zu schnell.

Heelem brüllte Drude zu, dey möge wieder Wellen erzeugen. Lilið beobachtete demm dabei. Sie hatte sonst nichts zu tun. Heelem wartete noch mit einem Befehl, Segel wieder zu setzen.

Drude wirkte müde. Halb in derer Fischform hob dey Arme, spannte Muskeln an wie um zu flexen. Lilið hatte keine Ahnung, wie sich diese Art Magie auszuüben anfühlte. Es war so anders als Falten. Mit deren Bewegungen, immer wenn die Anspannung am höchsten war, schossen Wellen um die Teeseufel herum aus dem Wasser, die sie überragten. Eher Wassersäulen. Drude erhöhte damit Wellen, die ohnehin da waren. Ihre Spitzen wurden vom Wind abgerissen und Gischt sprühte zu ihnen herüber, aber sie ergossen sich nicht aufs Deck. Keine von ihnen fing einen Blitz ab, weil zufällig keine in ihrer Gegend einschlugen. Aber besser, sie waren vorsichtig.

Eine hastige Bewegung in Liliðs Rücken ließ sie herumfahren. Heelem war aufgesprungen, soweit die Fesselung das zuließ und hatten seine Hand wie für einen geraden Schnitt bewegt. Es knackste und ein schmerzhaftes Gefühl durchrann den Schiffsrumpf, drang Lilið über ihre am Deck verkramfpten Hände in die Glieder. Als sie sich wieder zu Drude umblickte, konnte sie gerade noch sehen, wie der obere Teil des Mastes abriss, von einem Blitz erwischt wurde und ins Meer gerissen wurde. Er flammte grün und rot auf, bevor er zwischen den Wellen verschwand. Heelem musste ihn abgeschnitten haben.

Lilið fühlte ihren Blutdruck und ihre Angst noch einmal ansteigen, mehr als vorhin. Es war noch nicht vorbei. Woher Heelem gewusst hatte, dass der Blitz die Teeseufel treffen würde, erschloss sich Lilið nicht, aber es hätte Drude erwischt, wenn er durch den Mast weiter nach unten ins Schiff durchgedrungen wäre.

Lilið zitterte am ganzen Leib und die Teeseufel mit ihr. Der Mast war an seiner Spitze durch Vorstag und Achterstag gehalten worden, etwas tiefer saßen die Wanten, die ihn zur Seite hielten. Vor- und Achterstag hatte Heelem mit zerschnitten. Das würde der Mast nur stehend überleben, wenn keine großen Erschütterungen mehr das Schiff ergreifen würden. Wenn er nach vorn oder hinten umkippte, würde er das Dach des Unterdecks gleich miteinreißen. Lilið fühlte panisch in die Takelage hinein, um sie zu stabilisieren, aber sie saß quasi am falschen Ende des Hebels. Sie konnte den Mast nur an der Unterseite halten, was Ähnlichkeiten damit hatte, einen Spazierstock auf einem Finger zu balancieren. Sie konnte nur mit viel Kraft ausgleichen, was mit wenig durch die nun fehlende Abspannung am oberen Ende möglich gewesen wäre.

Sie schlotterte heftiger, je mehr sie sich konzentrierte, konnte kaum denken, hoffte nur darauf, dass es endlich vorbei wäre. Sie verlor das Zeitgefühl. Und als endlich irgendwann der Regen aufhörte und sie die Blitze hinter sich ließen, konnte sie sich kaum daran erinnern, was sie eigentlich genau getan hatte.

Sie hätte vielleicht damit gerechnet, dass Drude nun erschöpft zu ihnen kommen würde und sie sich gemeinsam ein wenig erholen würden, bevor sie Pläne machen würden, wie sie mit dem Schiffsbruch verfahren sollten. Aber stattdessen löste dey hektisch die Seile von derem Körper und… sprang über Bord.

“Was.”, sagte Heelem ein weiteres Mal.

“Es ist halt umgekehrt zu diesen Sagen.”, meinte Lilið. “Hier geht die Person möglichst zügig über Bord, die am Mast festgebunden ist.” Sie nahm wie von außerhalb ihres Körpers wahr, wie sehr sie ihre Angst überspielte.

Heelem blickte sie mit gerunzelter Stirn an. “Ergibt Sinn. Vor allem, dass es die nixen-ähnlichste Person ist, die ich kenne, die über Bord geht. Das ist dann noch umgekehrter.” Er sagte es, als meinte er es todernst. “Aber mal scherzlos: weiß irgendwer von euch, warum?”

Alle anderen schüttelten den Kopf.

“Und was nun?”, fragte Heelem.

“Warten wir ein bisschen ab?”, schlug Marusch vor. “Lilið, du kennst Drude am besten, oder Lajana, was meint ihr?”

“Zuletzt, als dey ohne ein Wort von Bord gegangen ist, war es, um mir mein Leben zu retten.”, überlegte Lilið.

“Ich habe keine Ahnung!”, sagte Lajana. “Aber sie wird schon wiederkommen. Nicht ‘sie’. Drude.”

Lilið überlegte und kam zum selben Schluss. Drude war treu. Es gab gerade nur irgendetwas sehr Wichtiges. Wobei dey sich schon den ganzen Tag seltsam verhalten hatte. Oder nicht?

“Hm.”, machte Heelem. “Bei jeder anderen Person, die über Bord gesprungen wäre, hätte ich große Bedenken, dass sie ertrinken könnte. Aber Drude hat Kiemen, richtig?”

Lilið nickte. “Drude passiert nichts.” Sie sagte es sicherer, als sie sich fühlte. Aber sie könnten ohnehin nichts für Drude tun, selbst wenn dey Hilfe bräuchte.

Heelem blickte am Mast hinauf. “Marusch, du übernimmst das Ruder.”, bestimmte er. “Lilið und ich gehen mal schauen, ob wir den übrigen Mast sichern können und ob wir einen Fetzen Stoff gehisst kriegen. Die Kagutte, die uns hätte schleppen können, ist uns leider schon zu weit davon gesegelt. Ich sehe eine Insel, das müsste Oesteroge sein. Also nicht unser Ziel, aber wir haben mit dem Schiffsbruch keine Möglichkeit, Belloge zu erreichen. Oesteroge hat immerhin eine Werft. Wenn wir bis in einer Stunde einen vernünftigen Fetzen gehisst haben, sollten wir bis Mitternacht dort sein können.”


Schiffsbau war durchaus auch ein Beruf, für den Lilið sich mal interessiert hatte, aber sie war nie tief ins Thema eingestiegen. Navigation hatte sie mehr interessiert. Heelem und sie hatten eine Ansammlung an Ersatzseilen zum Mast geschleppt und machten sich nun Gedanken darüber, wie und mit welchen Knoten sie den Mast nun nach vorn und hinten absichern könnten. Dabei mussten sie schließlich so gefährliche Dinge tun, wie bei immer noch chaotischem Seegang auf mehrere Kisten zu steigen, selbst gestapelt (Lilið saß auf Heelems Schultern). Das Problem war, dass auch die Führung oben am Mast in den Fluten verschwunden war, und auch die Fallen waren zerschnitten, mit denen normalerweise das Segel oder im Zweifel auch anderes gehisst oder den Mast hinaufgezogen wurde. Lilið hatte zunächst versucht, eine neue Führung in den Mast zu falten, was ihr auch einigermaßen gelungen war, aber sie bekam es nicht hin, mit irgendwelchen Falttricks die dünnen Seile den Mast hinaufzubekommen. Stattdessen faltete sie ein Loch an die höchste Stelle durch den Mast, die sie erreichen konnten, wo sie nun ein Fall hindurchführen konnten, um ein Segel zumindest etwas zu hissen, sowie neue Verspannungen befestigen konnten.

Als sie endlich Drudes Stimme wieder hörten, war der Mast ausreichend gesichert, aber noch kein Fetzen Tuch gehisst. “Hilft mir wer?”, fragte dey. Die Stimme kam von unterhalb des Hecks.

Heelem blickte ins immer noch sehr aufgewühlte Meer. “Klar! Moment!” Und ließ die Arbeit am Mast vorübergehend liegen.

Auch Lilið half. An zwei Seilen befestigte Drude einen Körper einer erschöpften Person, die kein Wort über die Lippen brachte, aber noch atmete und bei Bewusstsein war. Heelem und Lilið zogen sie herauf. Sie konnte kaum einen Schritt gehen, also platzierten sie sie erst einmal auf einer Bank, bevor sie Drude an Bord halfen.

“Ich hatte einen Menschen im Wasser wahrgenommen.”, berichtete Drude. “Schon während des Gewitters, aber da konnte ich logischerweise nicht weg. Trockene Kleidung, Tee und etwas zu essen würde ich verordnen. Marusch machst du Tee? Ich kümmere mich um trockene Kleidung für dich.”

Die Person ließ sich von Drude unter Deck tragen. Lilið fühlte sich mit einem Mal unbehaglich und wusste nicht so genau warum. War es einfach, dass sie nun eine fremde Person mehr an Bord waren? Lilið hätte sich außerdem am liebsten selbst umgezogen. Lajana hatte bereits trockene Kleidung an. Aber Lilið wollte da unten nicht stören und es gab auch oben noch etwas zu tun, wofür es vielleicht praktisch war, noch ein wenig in der nassen Kleidung zu schlottern.

“Es ist also noch umgekehrter!”, sagte sie grinsend zu Heelem, als er wieder zu ihr an den Mast trat, um einen Teil des Großsegels zu hissen. “Wir hatten eine nixen-ähnliche Person in der Crew, die am Mast festgebunden war, aber statt eine Person in den Fluten zu verlieren, haben wir nun eine zusätzliche aus dem Wasser gefischt.”

Heelem lächelte. “Bedrohliche Situationen machen so interessante Sachen mit Menschen.”, sagte er. “Manche weinen, manche wollen Tee trinken, – wobei ich glaube, dass das zur Beruhigung beigetragen hat. Manche verhalten sich extra gelassen, als könnte sie nichts aus der Ruhe bringen. Damit meine ich mich. Manche arbeiten einfach sehr viel und du singst Lieder und erzählst humorvolle Geschichten.”

“Der Tee hat tatsächlich beruhigt.”, bestätigte Lilið.

“Deine Strategien funktionieren auch gut.” Heelem lächelte sie an.

Sie fühlte sich trotzdem irgendwie nicht, als wären sie nun sicher. Das unbehagliches Gefühl von vorhin, vielleicht, als sollte sie etwas wissen, ließ sie weiterhin die ganze Zeit nicht los, während sie mit Heelem ein Reff im Segel mit ein paar Seilen improvisierte. Es war immerhin ein befriedigendes Gefühl, als sie das Segel dicht holten und es sich mit überraschend viel Wind füllte. Es flatterte seltsam, aber sie standen nicht mehr still zwischen den Wellen. Sie nahmen Fahrt auf.

Erschöpft und weiterhin durchnässt ließ sich Lilið im Sitzbereich im Heck nieder. Sie übernahm das Steuer von Marusch. Marusch hatte gemeint, Lilið solle sich umziehen, aber Lilið brauchte zunächst eine Pause von der vielen Anspannung und Bewegung. Also zog sich Marusch zuerst um und Lilið war für wenige Augenblicke mit Heelem allein an Deck. Einfach nur kurz ein wenig zur Ruhe kommen.

Die neue Person stieg den Niedergang hinauf und wirkte dabei so schwach, dass Lilið sich fast überlegte, die Pinne zu fixieren und ihr entgegen zu kommen, um sie zu stützen, aber sie wäre zu langsam gewesen. Die Person ließ sich ihr gegenüber nieder. Lilið erstarrte. Ihre Anspannung stieg wieder rapide an. “Allil?”

Allil seufzte und nickte. “Du solltest dir auch was Trockenes anziehen.”, meinte sie. “Also, das sagt Marusch, und du siehst sehr mitgenommen aus.”

“Du denkst wohl, ich würde dich aus den Augen lassen.” Lilið runzelte die Stirn und fragte sich, ob sie es irgendwann würde tun müssen.

“Eigentlich dachte ich, du schmeißt mich gleich wieder ins Wasser.”, murmelte Allil.

Lilið wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Deshalb starrte sie Allil einfach an.

“Ihr scheint euch zu kennen und keine guten Erfahrungen miteinander gemacht zu haben.” Drude war lautlos in den Niedergang getreten und hatte sich dort verkeilt, damit das Schlingern durch die Wellen demm nicht umwarf. Auch dey sah mitgenommen aus. “Ich habe dich zwar aus dem Wasser gefischt, aber wenn du Lilið auch nur ein Haar krümmst, komme ich deinem Vorschlag nach und werfe dich zurück in die Fluten, wo du hergekommen bist.”

Allil nickte. “Ich habe verstanden und ich habe nicht vor, hier irgendwem ein Haar zu krümmen.”, sagte sie.

“Hm.”, machte Drude skeptisch. “Leider merke ich dir an, dass du wahrscheinlich gut genug im Vorspielen wärest, um mich zu täuschen.” Dey wandte sich an Lilið. “Du solltest dich umziehen. Wenn du möchtest, halte ich diese Person so lange fest, sodass sie sich nicht wehren kann. Du weißt, dass ich das kann.”

“Allil arbeitet mit Giften.”, informierte Lilið. “Das macht sie gegebenenfalls weniger wehrlos, als du denkst.”

“Gut zu wissen.” Drude kam die letzten Stufen hinauf und nahm neben Allil Platz, direkt an der Pinne, Lilið gegenüber. “Ich bin Wache gewesen, Lilið. Zieh dich um.”

Lilið verharrte noch, aber Drude blickte sie so auffordernd an, dass sie schließlich nachgab, Heelem die Pinne überließ und aufstand. Sie spürte ihre Beine kaum noch. Sie hätte vielleicht um Hilfe bitten sollen. Auf den unteren Stufen des Niedergangs verließ auch ihre Arme die Kraft, sie konnte sich nicht mehr halten und fiel hin.

Marusch war sofort bei ihr und wenig später auch Lajana. Lilið erkannte, dass sie gerade damit beschäftigt gewesen waren, aus ihren übrigen Vorräten ein Abendessen auf Tabletts anzurichten. Aber sie blieb erst einmal einfach liegen. Und weinte, stellte sie fest.

“Du musst keine Zeit mit ihr verbringen.” Marusch sprach in beruhigendem Ton, aber es gab Lilið kein Gefühl von Sicherheit. “Du kannst zum Beispiel hier unten bleiben, oder alternativ sie.”

“Ich möchte sie nicht aus den Augen lassen.” Lilið richtete den Oberkörper auf. Sie zitterte nun so sehr, dass sich selbst diese Haltung instabil anfühlte. Lajana stützte sie. “Nur Trockenes anziehen und dann an Deck aufpassen, dass sie niemandem was antut.”

“Sie tut niemandem etwas an.” Maruschs Worte klangen leise und sanft, aber auch ohne jeden Zweifel. “Wir haben ihr gerade das Leben gerettet. Sie ist selbst am Ende. Sie ist gerade von uns abhängig. Und sie hat kein Motiv.”

Lajana strich Lilið über das nasse Haupt, stand auf und kramte trockene Kleidung aus dem Stauraum. Sie kam mit einem Kleid zurück, einem ähnlichen, wie Marusch es trug. “Hose gab es nicht mehr in deiner Größe. Ist ein Kleid für dich in Ordnung?”

“Wird schon gehen. Könnt ihr mir beim Umziehen helfen?” Lilið fühlte sich seltsam dabei, um diese Art Hilfe zu bitten. Sie war vielleicht noch nie so erschöpft gewesen.

Beide stimmten zu, aber am Ende half ihr vor allem Marusch. Lajana brachte das Abendbrot nach oben. Marusch half ihr aus der Kleidung, die am Körper klebte, und das Zittern machte das Unterfangen auch nicht leichter. Sie trocknete Lilið ab, hielt sie dabei sanft fest, aber sonst hielt sie sich mit Zärtlichkeiten zurück.

“Du nutzt die Situation gar nicht aus.”, bemerkte Lilið. Sie hatte aufgehört, zu weinen, stellte sie fest.

“Natürlich nicht.”, antwortete Marusch.

Lilið fragte sich, ob sie enttäuscht war, oder ob das eigentlich ganz gut so war. Sie war zu erschöpft, um solche Entscheidungen zu fällen. Im Nachhinein kam ihr seltsam vor, die Frage gestellt zu haben. Marusch hatte recht, natürlich tat sie so etwas nicht. Liliðs Kopf hatte aus dem Wunsch nach Nähe, der sich mit der fehlenden Kraft dafür stritt, diese merkwürdige Frage geformt. Oder so. Sie war zu erschöpft, um sich selbst zu verstehen.


Als Lilið sich wieder an Deck schleppte, wurde es still und relativ eng. Drude, Heelem und Allil saßen auf der einen Bank, Heelem bediente immer noch die Pinne, und Lilið setzte sich zwischen Lajana und Marusch auf die andere. Marusch reichte ihr vom Brot, von dem sich Lilið etwas abriss, um von den Pasten und dem Gemüse zu nehmen.

“Es tut mir leid, dass ich dich fast umgebracht hätte.”, leitete Allil ein Gespräch ein. Eines, der seltsamen Sorte. “Ich kann auch verstehen, wenn du mir nicht verzeihen kannst.”

Lilið reagierte einfach nicht, sondern schob sich das Stück Brot in den Mund. Eigentlich schmeckte es lang nicht so gut wie auf der Kagutte. Sie merkte dem Gemüse an, dass es alt war, und auch handelte es sich insgesamt nicht um so eine gute Auslese. Es war egal. Gerade hätte Lilið alles geschmeckt.

Sie versuchte, Restkonzentration darauf zu richten, beim Schmecken auf Gift zu achten. Es wurde ihr dadurch erschwert, dass ihr Körper in regelmäßigen Abständen erbärmlich zitterte, obwohl ihr inzwischen eigentlich wieder warm war.

“Es ist schön, dass du noch lebst, auch wenn du mir so sehr viel Ärger machen konntest.”, fügte Allil hinzu. “Ich glaube, das ist keine gute Einleitung. Vielleicht habe ich es auch verdient.”

“Wer verdient schon irgendetwas?”, murmelte Marusch. “Wenn es ums Verdienen ginge, was soll dann mit mir geschehen?”

Lilið blickte sie an. Vielleicht verstand sie jetzt zum ersten Mal richtig, wie Marusch zu ihrer Haltung Allil gegenüber kam. Lilið fand die Situationen immer noch nicht vergleichbar. Aber wenn Menschen in der Sakrale überlebt hätten, die Marusch nicht hätten angreifen wollen, dann wären sie vielleicht nun so sauer auf Marusch wie Lilið auf Allil. Vielleicht gab es aber auch einfach kein Aufwiegen.

“Darf ich wissen, wie du das Gift überlebt hast?”, fragte Allil.

“Ich habe kein zusätzliches zu mir genommen. Nur den Schluck im Tee. Ich bin dann zu einer Reiseinsel geschwommen und gerade so dort angekommen, bevor das Fieber eingesetzt hat. War eine gute Insel, mit Medika, kann ich empfehlen.” Lilið kicherte über ihren eigenen Tonfall und riss sich noch einen Schnipsel vom Brot ab. “Darf ich wissen, wie du im Meer gelandet bist, wo Drude dich freundlicherweise herausgefischt hat?”

“König Sper sucht verzweifelt nach Wegen, um unser Königreich unter Druck zu setzen, mit dem Ziel dass König Sper darüber herrschen wird oder dass alternativ Marusch es täte. Und da Marusch den Blutigen Master M sucht, hat König Sper veranlasst, ihn zu entführen, um Marusch dann einen Handel vorzuschlagen. Den Blutigen Master M gegen Regentschaft.”, erklärte Allil. “Als über den Blutigen Master M herausgefunden wurde, dass Lilið von Lord Lurch dahinter stecke, – das habe ich dir gar nicht zugetraut! –, war ich natürlich dran. Weil ich ja so tue, als wäre ich du. Ich wurde von einigen mächtigen Wachen überwältigt und auf einer Kagutte von König Sper gefangen gehalten. Ziel war Mazedoge, also der Sitz von König Sper, aber da nun irgendwie auch die Bundesorakel mitmischen und so halb auf König Spers Seite sind, war neues Ziel die Zentral-Sakrale auf Belloge. Ich habe in diesem Gewitter, als viel Gewusel an Bord war, die letzte Möglichkeit gesehen, von Bord zu fliehen. Ich hoffte, weil ich die nächste Insel schon habe sehen können, dass ich sie schwimmend erreichen können würde. Ich wusste, dass es lebensgefährlich würde. Allein wegen des Gewitters, aber wohl auch wegen der Entfernung. Ich hätte es wohl nicht geschafft, meint Drude.”

“Sehr unwahrscheinlich.”, bestätigte Drude.

“Vielleicht kommt dir entgegen, dass ich König Sper ermordet habe.” Marusch sagte es fast beiläufig.

Allil starrte sie an. “Schon. Aber,”, sie unterbrach sich. “Scheiße! Wie geht es dir damit?”

Die Frage überraschte Lilið.

“Im Moment fühle ich mal wieder wenig.”, antwortete Marusch. “Ich denke, es kommt einfach mit auf den Stapel der Dinge, die ich nicht verarbeiten können werde. Aber ich möchte als Täterin auch lieber kein Mitgefühl haben.”

“Nun ja, du kennst meine Einstellung zu Leben und Sterben. Und dass ich da sehr anders gepolt bin als du. Lass mich trotzdem kurz ausholen, um dir zu erzählen, warum ich Empathie mit dir habe, egal was für ein Gräuel du anrichtest.”, sagte Allil. “Ich habe beinahe einen dir sehr wichtigen Menschen getötet. Das war mir, als ich es getan habe, nicht klar, aber darum geht es mir gerade auch nicht. Du hättest allen Grund, wütend auf mich zu sein und dich an mir rächen zu wollen. Aber du bist das absolute Gegenteil einer rachsüchtigen Person. Du würdest nie eine Person aus dem Grund töten, dass du findest, dass sie eine schlimme Person ist. Du strafst nicht, du willst niemandem weh tun, du wünschst dir kompromisslos einen Grundrespekt für alle Wesen dieser Welt. Dafür, dass du tötest, muss Gefahr im Verzug sein und es muss üble Ungerechtigkeit am Passieren sein.”

Marusch nickte und nahm die Beine mit auf die Bank, um sie zu umarmen. “Es hat sich schrecklich angefühlt. In der Zentral-Sakrale darüber zu reden, wie die Politik denn zu laufen hätte, weil diese und jene Regel existiere. Niemand in der ganzen Sakrale hat auch nur probiert, zuzulassen, darüber nachzudenken, worum es eigentlich geht. Niemand der Anwesenden hätte ein System gewollt, in dem es Menschen wie meiner Schwester möglich ist, mehr zu sein, als eine geduldete Kreatur. Das habe ich gefühlt, und es war schrecklich.”

Lilið war nicht klargewesen, dass Marusch auch Stimmungen erfühlen konnte, aber sie zweifelte nicht an der Wahrheit. Sie wusste es irgendwo selbst. Sie wusste, was das für Leute gewesen waren und dass schon ein aktives sich nicht gegen Macht wehren dazu gehörte, dass sie die Positionen innehatten, die sie besetzten. Sie wusste es zum Beispiel von ihrem Vater.

“War eigentlich die Wache auch darunter, die immer so freundlich zu mir war, außer, dass sie mich wie ein Kleinkind bemuttert hat?”, fragte Lajana. Sie fügte stirnrunzelnd hinzu: “Beeltert. Aber das klingt wie älter machen, aber die wollte mich jünger machen.”

“Die war auch dabei.” Lilið bestätigte es, bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie es Lajana irgendwie vorsichtiger hätte beibringen sollen.

“Ich schließe, du hast direkt auch gleich ein paar Wachen mit umgebracht?”, fragte Allil.

“Ich habe etwa ein Drittel der Zentral-Sakrale zerstört mit allen Anwesenden darin, außer Lilið und mir.”, antwortete Marusch. “Darunter war ein Gutteil des entscheidungstragenden Adels aus dem Königreich Sper, sowie ein Großteil von König Spers Garde, viele Sakrals-Wachen und ein paar Mitmischende aus dem Königreich Stern. Es waren so um die sechzig der mächtigesten Leute des Königreichs Sper.”

“Wow.”, hauchte Allil. “Das wird politisches Chaos nach sich ziehen. Und was zur Unterwelt hast du bitte für eine Macht!”

“Eine, mit der kein Mensch existieren sollte.”, antwortete Marusch ohne Zögern.