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CN: Ungerechtigkeit, Freiheitsentzug, Entführung, Damsel in Distress, Gedanken über Gift, Fesseln und Knebeln erwähnt, Erotik, Body Horror.
“Ich bin nicht so angetan von Krankheitsnummern.”, raunte Lilið Marusch zu, als sie außer Hörweite waren. “Ich glaube, das schadet real kranken Menschen. Ihrem Ruf sozusagen.”
Marusch drängte sie zwischen zwei unbewohnte Gebäude, Lagerräume wahrscheinlich, und lehnte sich an die Wand. “Ich mag so etwas auch nicht. Ich musste rasch improvisieren.”, verteidigte sie sich. “Der Überfall bekommt noch einen zweiten und vielleicht einen dritten Akt. Vielleicht gefällt dir, dass der zweite Akt dazu führen wird, dass unsere Rollen eben wahrscheinlich eher in guter Erinnerung bleiben.”
Lilið runzelte die Stirn. “Du überforderst mich.”, sagte sie. Trotzdem war ihr Gehirn schon dabei, mögliche Auslegungen des Gesagten zu sortieren. “Möchtest du noch einmal in anderer Rolle in den Imbiss gehen, dieses Mal als gesunde Person, der im Nachhinein wahrscheinlich eher der Manteldiebstahl angehängt wird?”
“Ja.”, antwortete Marusch. “Du bist gut! Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du aus meinem Gerede schon so viel ableiten kannst.”
“Was?” Lilið ließ es zwischen Frage und ungläubigem Ausruf klingen. “Du willst was? Warum?”
“Ich möchte das Nautika gern daran hindern, morgen auf Nederoge zur Crew zu stoßen.”, erklärte Marusch. “Das erfordert einen zweiten Akt. Möchtest du mitmachen? Der zweite Akt geht schneller aber ist risikoreicher.”
“Risikoreicher als einen Mantel unter sechs paar Augen und Ohren wegzustehlen?”, fragte Lilið.
Marusch wiegte den Kopf hin und her. “Schon, denke ich, ja.”, sagte sie. “Ich sprach von Ausstiegsmöglichkeit. Dies ist die erste.”
“Wieviele bekomme ich?”, fragte Lilið. “Und vor allem, haben wir die Zeit, dass du mich etwas detaillierter ins Wie genau und ins Warum einweihen kannst?”
“Du bekommst vor dem dritten Akt eine weitere. Sogar mit mehr Bedenkzeit dann. Für den zweiten Akt haben wir leider nicht viel Zeit, aber ich weihe dich rasch über ein paar Details ein, wenn du möchtest.”, versprach Marusch. Sie griff nach ihrem Gepäck, das Lilið bei sich trug und nun ihr überreichte.
“Natürlich möchte ich!”, betonte Lilið.
“Du würdest auch durch Mitwissenschaft schon mehr gefährdet sein.”, erklärte Marusch ihr Hadern.
“Aber ohne Details kann ich nicht entscheiden, ob ich mitmache.”, argumentierte Lilið. “Das Risiko werde ich also schon eingehen müssen, wenn ich nicht jetzt unwissend bereits abspringen wollte. Was ich nicht will. Also leg los.”
“Ich werde dem Nautika ein Verbrechen anhängen.”, sagte Marusch. “Einen Diebstahl. Das werde ich als Lord Bärlauch tun. Ich habe eine Marke, die mich als Lord Bärlauch ausweisen kann.”
Liliðs Augenbrauen fühlten sich an, als würden sie versuchen, sich in ihrem Haaransatz zu verstecken. “Du hast einen Mantel gestohlen, also, eher durch mich stehlen lassen, und möchtest nun der bestohlenen Person einen Diebstahl anhängen.”, fasste sie zusammen. “Und die Marke? Hast du sie Lord Bärlauch auch auf dem Angelsoger Adelsball abgezogen?”
Marusch nickte. “Auch eine von Lady Bärlauch. Deshalb gerade diese zwei.”
“Und ich soll Lady Bärlauch spielen?”, fragte Lilið.
“Sie ist eher zurückhaltend und spricht meistens leise. Das ist keine so schwierige Rolle.”, ermutigte Marusch.
“Ich habe keine Ahnung, wie sie aussieht.”, gab Lilið zu bedenken.
“Die da drinnen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht.”, argumentierte Marusch.
“Hmm.”, machte Lilið. Ganz überzeugt war sie von dem Plan noch nicht. Vor allem kam er ihr sehr drastisch vor. Äußerst ungerecht. Das Nautika könnte dabei sterben. “Das finale Ziel ist, die Kronprinzessin zu retten?”
Marusch nickte abermals. “Magst du mir deinen Anzug leihen?”
Lilið schloss aus der Unterbrechung des Gesprächsfadens, dass ihre Zeit knapp wurde. Das verstand sie: Maruschs gefaltete Jacke gab zwar einen guten Ersatzmantel her, aber der Unterschied war auf jeden Fall erkennbar. Spätestens, wenn keine Karten darin waren, sondern der Stoff an den entsprechenden Stellen nur dicker war. Wenn sie den Verdacht von einer vermeintlich kranken Person ablenken und auf Lord und Lady Bärlauch verschieben wollten, mussten sie wieder reingehen, bevor es aufflöge. Allein dafür wollte Lilið eigentlich zustimmen. Aber sie fragte sich, was schlimmer war: Einem Nautika etwas anzuhängen, für das es hingerichtet werden könnte, oder den Ruf behinderter und kranker Menschen zu schädigen. Normalerweise immer ersteres, aber auf der anderen Seite ging es um eine entführte Kronprinzessin. Wobei Lilið scheiß egal war, dass sie eine Prinzessin war. Sie hatte Gefühle für diese Frau, weil sie eben im Imbiss wieder einmal eine Situation erlebt hatte, in der diese als dumm bezeichnet worden war. In einem vermeintlich positiven Zusammenhang. Was es noch schlimmer machte, fand Lilið. Und sie hasste so etwas.
Wo waren eigentlich Maruschs Flammen?
“Ja, du kannst den Anzug haben.”, sagte sie. “Aber passt der dir überhaupt?”
“Noch nicht.”, antwortete Marusch trocken.
“Ich soll dich kleiner und dicker falten?”, fragte Lilið.
Sie hatte es schon einmal probiert: Marusch so zu falten, dass sie wie Lilið aussah. Das war ihr nicht so gut gelungen. Dazu hatte sie sich ihr eigenes Gesicht zu wenig vorstellen oder auf eine andere Person projizieren können, aber auch die Körperform war so verändert zu Maruschs originaler, dass die Faltung schlecht gehalten hatte. Allerdings, so erinnerte sie sich, war das auch am Anfang ihrer Übungen gewesen, kurz nachdem sie sich selbst in Marusch gefaltet hatte. Vielleicht hatte sie inzwischen ausreichend dazu gelernt.
Marusch nickte. “Das wäre ganz reizend.”, sagte sie. Der Charme klang nicht so sehr durch, wie er es in einer weniger unangenehmen Lage getan hätte.
“Ich versuche es.”, versprach Lilið. “Aber bevor ich entscheide, ob ich Lady Bärlauch spiele, noch zwei Fragen. Ich hoffe, die gehen schnell. Ich sehe, dass es eilig ist.”
Marusch forderte sie mit einer Geste auf, zu fragen, während sie den Anzug aus dem Gepäck hervorhedderte, sowie ein Kleid, das nicht ganz so edel wirkte wie das geliehene Ballkleid, aber doch einer veradelten Person würdig. Sie hatte es bisher nur einmal auf der Reise getragen.
Also sollte Lilið sich nun in dieses ihr eigentlich zu enge Kleid stecken, schloss sie. Die Vorstellung, wie sie sich versehentlich im Kleid entfalten würde und es auf diese Art sprengte, belustigte sie völlig unpassend.
“Was hilft es, dem Nautika ein Verbrechen anzuhängen? Und wie hilft der ganze Plan der Prinzessin?”, fragte Lilið. “Ich nehme an, mit ersterem willst du irgendwie verhindern, dass das Nautika morgen zur Kagutte gelangt?”
“Genau!”, bestätigte Marusch. “Ich habe mich lange gefragt, wie ich vermeiden kann, dass das Nautika dort morgen ankommt. Ich habe zunächst an Gift gedacht, aber ich kenne mich mit Giften nicht aus. Gifte sind auch gefährlich und nicht so sehr mein Gebiet. Aber wenn du dich damit gut auskennst und eine Idee hast, versuche ich gern, Pläne zu ändern. Ich dachte nur, es ist auffällig, wenn das Nautika nun für zwei Tage in tiefen Schlaf verfällt?”
Lilið schüttelte den Kopf. “Ich habe tödliches Gift dabei!”, fiel ihr ein. “Aber eigentlich will ich von deinem aktuellen Plan eher weg, damit er weniger tödlich ist.”
“Wenn wir das Nautika eines Verbrechens bezichtigen, würde Smutje Andert in der Verpflichtung stehen, das Nautika von den Wachen Danmoges festhalten zu lassen, wenn ich als Lord Bärlauch das einverlange.”, erklärte Marusch. “Das Nautika würde dann erst einmal festsitzen, bis sich die Lage klärt.”
Lilið nickte. “Ich kenne mich nicht so genau aus.”, gab sie zu. “Ich weiß, dass je nach gestohlenem Gegenstand Hinrichtung droht.”
Marusch nickte. “Ich versuche, zuzusehen, dass das nicht passiert.” Sie hatte nun auch die Marken gefunden, die sie brauchte, und fing an, sich zu entkleiden. “Hast du eine bessere Idee, ein Nautika für ungefähr zwei Tage aus dem Verkehr zu ziehen?”
Lilið versuchte, nachzudenken, aber kam auf die Schnelle nicht auf eine gute Idee. “Einschließen, wenn es schlafen geht?”, fragte sie wenig überzeugt.
“Dann klopft und schreit das Nautika und wird wieder ausgesperrt.”, sagte Marusch. “Fesseln und Knebeln hatte ich noch überlegt, aber das können wir nicht ohne Weiteres leisten. Und zwei Tage ohne Flüssigkeit sind auch eher ungesund.”
Lilið nickte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie angefangen hatte, ihren Körper zu falten, aber als sie das Kleid überstreifte, mit den Gedanken noch beim Problem, passte es wie angegossen.
“Verstehe ich deinen festlichen Aufzug richtig, dass du mitmachst?”, fragte Marusch.
“Die zweite Frage noch.”, wiedersprach Lilið. “Wenn das Nautika aus dem Verkehr ist, was hilft das der Kronprinzessin?”
“Ich nehme an, dass im Mantel des Nautika Infomationen zu finden sein werden. Eine Einladung oder so etwas. Ein Treffpunkt.”, erklärte Marusch. “Gut, dass du das ansprichst. Es ist gut, vorher nachzuschauen. Sonst muss ich noch herausfinden, wie ich es aus dem Nautika herausbekomme.”
Lilið entfaltete sofort Maruschs Jacke in den Mantel des Nautikas und griff gezielt in eine der Taschen, in der ein Brief steckte, den sie beim Falten erfühlt hatte. Sie reichte ihn Marusch, weil sie sich in der Aufregung gerade nicht zutraute, sinnerfassend zu lesen.
Marusch nahm ihn entgegen, warf einen Blick darauf und nickte. “Sehr simple Kodierung. Treffpunkt ist in einem Flachdachgebäude, das oberhalb einer Bootshalle am nederoger Handelshafen liegt. Dem Partnerhafen des Königreichs Sper. Eine Treppe führt dort hinauf. Es ist kein offizielles Gebäude und eine geschlossene Gesellschaft. Nur die Crew wird anwesend sein und dich dann begutachten.”
“Mich?”, fragte Lilið überrascht. Und ärgerte sich dann, denn das hätte ihr klar sein sollen. “Mich.”
“Wenn du beim dritten Akt mitmachen magst. Sonst mich.”, korrigierte Marusch.
“Aber du bist kein Nautika!”, protestierte Lilið. Sie selbst konnte rechtzeitig eines sein. Ein Leicht-Nautika allerdings nur. Hoffentlich reichte das, um das Nautika zu ersetzen, das sie gerade aus dem Verkehr zu ziehen gedachten.
“Viel schlimmer ist, dass ich kein Zertifikat haben werde, das auf mich geeicht ist, mit dem ich mich als eines ausgeben könnte.”, antwortete Marusch. “Ich müsste das des Nautikas nehmen und irgendwie verhindern, dass sie es mit meiner Haut abgleichen.”
“Dass du keine Fähigkeiten hast, eine Kagutte ans Ziel zu navigieren, hältst du für weniger problematisch?”, fragte Lilið.
“Da sie nicht ans Ziel soll, ja.”, antwortete Marusch und hielt sich nicht davon ab, leise zu kichern.
Lilið musste mitlachen und versuchen, das nicht allzu laut zu tun. “In Ordnung. Ich falte dich. Und ich versuche mich an einem Spiel als Lady Bärlauch. Du würdest den Plan ohnehin ausführen, oder? Es macht ihn nur sicherer, wenn ich mitmache.”
Marusch nickte. “Zu zweit mit Schauspiel zu betrügen, bringt häufig mehr Sicherheit mit sich.”, sagte sie. “Und du machst deine Sache eigentlich immer sehr gut und souverän.”
Das Kompliment hatte eine unerwartet starke Wirkung auf Lilið. Sie hätte in diesem Zusammenhang nicht mit einem gerechnet, aber sie wollte gut darin sein, Rollen zu spielen. Das positive Gefühl blockierte in der Aufregung einen Moment ihre Atemwege.
Sie hatten keine Zeit für dieses Gefühl. Obwohl es schön war, versuchte Lilið, es zu verdrängen, und trat auf Marusch zu. Sie legte ihre Hände an Maruschs nackte Oberarme (Marusch war auch sonst fast nackt, trug nur Unterwäsche und die rasierten Haare bildeten eine Gänsehaut), um sie zu fühlen, und schloss die Augen. Sie begab sich in den Zustand, in dem sie falten konnte, und freute sich, dass sie beim Wechsel in dieses Gedankenuniversum allmählich Routine bekam. Auch diese Freude lenkte sie kurz ab.
Sie fühlte, wie sie Maruschs Knochen zieharmonikaartig ineinander faltete. Irgendwo musste Masse immer hin, was zur Folge hatte, dass die Knochen nach einer Faltung in etwas Kleineres einen dickeren, stabileren Eindruck machten. Das Gewebe darum herum war nun zu weit für sie, aber Lilið hatte bereits mit dem Falten desselben anfangen müssen, dort, wo es mit dem Knochen verbunden war.
Marusch gab einen leicht zischenden Laut von sich. Lilið fand rasch die Stelle in den Waden, die weh getan haben musste und korrigierte den Vorgang. Dann ging alles ziemlich schnell, und als sie von Marusch wegtrat, stand dort eine etwas kleinere Person mit einem Körperbau, der in den Anzug passen sollte.
Noch hatte Lilið eine mentale Bindung zu Marusch, die sie nun auflöste. Auch dazu schloss sie die Augen, um es behutsam zu tun, aber sie merkte, dass dabei etwas nicht richtig lief. Als sie die Augen öffnete, musste sie kichern. Um Maruschs Gesicht zu verändern, hatte sie die Nase mit einer Falttechnik verzwirbelt und in einer neuen, kleineren Form fixiert. Die Drehung hatte sich halb aufgelöst, sodass die Nase nun zur Seite ausgerichtet war. Warum waren Nasen eigentlich immer am schwierigsten?
Marusch fasste sich mit der Hand an die Nase. “Das ist nicht richtig so, oder?”, fragte sie. Sie versuchte vorsichtig, sie nach unten zu drehen, aber dabei sprang ihr Arm in seine alte Länge zurück. Abgesehen von Ring- und Kleine Finger.
Lilið schüttelte den Kopf. “Das hält nicht.”, sagte sie.
Marusch schüttelte sich, sodass die Faltung nach und nach wieder aufsprang. Lilið berüherte sie, um die letzten Verhedderungen aufzulösen, dort, wo Falten unter andere geschoben waren, um eigentlich das Gesamtkonstrukt zu stabilisieren, was aber ja nicht geklappt hatte.
“Lohnt es sich, wenn du es noch einmal probierst?”, fragte Marusch sanft.
Lilið hatte eigentlich wenig Hoffnung. Aber sie atmete tief ein und aus und lehnte noch nicht ab. Sie dachte stattdessen nach, oder versuchte es zumindest.
“Brauchst du etwas?”, fragte Marusch, noch weicher als eben, vielleicht besorgt. “Setze ich dich unter Druck?”
Lilið schüttelte den Kopf. “Ich setze mich selber unter Druck.”, fiel ihr auf. Und dann wusste sie, was helfen könnte. “Dreh dich um.”
Marusch gehorchte ohne Zögern und ohne Fragen.
Lilið trat von hinten an sie heran, so nah, dass sich ihre Körper großflächig berührten. Sie fasste Marusch sanft an den Schultern an und legte ihre Nase in Maruschs linke Halsbeuge. Sie roch den Geruch, der ihr so vertraut war. Sie wanderte mit den Händen an Maruschs Oberarmen hinab und um sie herum, langsam und zartfühlend.
“Soll mich das erregen?”, fragte Marusch leise. “Ist das das Ziel?”
“Nein, aber es ist nicht schlimm für mich, wenn es passiert.”, antwortete Lilið. “Du steckst halb in einer Rolle, in einem Schauspiel. Du verdrängst Gefühle, die dich sonst sehr aufwühlen würden. Das ist in Ordnung, die gehen mich nur was an, wenn du sie mir zeigen willst. Aber du verdrängst auf diese Weise auch fast alles, was du bist. Ich kann dich nicht greifen.”
Sie spürte die Wirkung ihrer Worte. Marusch musste nichts aussprechen. Sie fühlte, wie Maruschs Körper an Anspannung verlor, die dazu da war, sich zu beherrschen, und stattdessen einem neuen Gefühl Platz machte. Es berührte Lilið sehr, dass dieses Gefühl Zuneigung für sie war. Und eine Art tiefe Trauer. Wie ein dunkler, ruhiger See. Mehr musste sie nicht wissen. Mehr musste Marusch ihr nicht anvertrauen dafür, dass sie eine Verbindung aufbauen konnte, die mehr Stabilität versprach.
Maruschs Körper lag vertrauensvoll an ihren gelehnt, als sie die Arme sanft um sie schloss und sie faltete. Und als sie Marusch dieses Mal losließ, hielt die Faltung. Marusch gab nun einen überzeugenden Lord ab, der zudem entspannter und mehr in sich ruhend wirkte als das Bild, das Lilið zuvor zu falten versucht hatte.
“Danke.”, hauchte Marusch. “Das war schön.”
Lilið lächelte. “Für mich auch.”
Marusch genoss den Moment nicht lang. Sie zog den Anzug an und zuppelte ihn zurecht. Sie ließ Lilið noch ein paar Anpassungen an der Kleidung vornehmen, damit sie weiterhin edel, aber nicht ganz so festlich wirkte. Das war weniger schwierig. Dann versteckte Marusch ihrer beider Gepäck. Lilið konnte nicht lassen, ihre Jacke mit dem Buch darin in eine Handtasche umzufalten, die zu Maruschs Kleid passte. Marusch warf einen letzten prüfenden Blick auf sie beide und führte sie schließlich eiligen Schrittes zurück zum Imbiss an.
Vor der Tür unter den Orcheenschwänzen, die inzwischen nicht einmal mehr im Traum zuckten, verschnauften sie nur solange, bis sie atmeten, als wären sie normal schnell gegangen. Marusch trat ein, erhobenen Hauptes wie so ein Lord und hielt ihr galant die Tür auf. Auch Lilið drückte den Rücken durch und folgte gemessenen Schrittes. Eigentlich kannte sie die Rolle einer Edeldame als Spross des Lord Lurchs, aber gerade fühlte sie sich sehr fremd an. Sie blieb, weil Marusch Lady Bärlauch als zurückhaltend beschrieben hatte, dicht hinter Marusch, als diese ein paar Schritte in den Raum hinein trat und sich umblickte.
Nicht wenig überraschend für sie warf Smutje Andert ihnen keine freundlichen Blicke zu. Sie vermutete, dass sein Raunen in Richtung Schiffskoch, dessen Teller er gerade einsammelte, einen abwertenden Spruch ihnen gegenüber beinhaltete. Sie verstand nichts, außer das Wort ‘Anzug’.
“Guten Tag, verehrte Leute. Wir sind Lord und Lady Bärlauch.” Marusch sprach in einem Ton, der eine gute Mischung aus bemüht einladend, aber eigentlich eher geschäftlich war. “Wir wissen, dass wir hier nicht willkommen sind. Deshalb werden wir auch nicht lange bleiben, aber leider ist gerade das der Grund, warum wir hier sind. Meine Frau möchte in der Hafenstadt gegen Mittag den Dieb gesehen haben, der uns einen Kompass gestohlen hat. Einen wertvollen. Ich vergesse immer, wie genau das Gerät heißt?” Marusch wandte sich fragenden Blickes an Lilið.
Lilið versuchte, angestrengt nachzudenken. Das war nicht abgesprochen. Sollte sie sich etwas ausdenken? Aber gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass Marusch vorhin Gelegenheit gehabt hatte, eben erwähnten Kompass in das Gepäck des Nautikas zu schmuggeln, damit der Diebstahl belegt werden könnte. Das war nicht unwahrscheinlich.
Trotzdem musste sie rasch antworten. Es sollte ein wertvoller Gegenstand sein, vermutete sie. Und Marusch fragte sie nach einer genaueren Bezeichnung, weil Marusch sich wiederum mit nautischen Begriffen nicht auskannte. Wäre es schlimm, wenn der ins Gepäck des Nautikas geschmuggelte Kompass den Kriterien dann nicht entspräche? Das Problem müsste Marusch dann lösen, beschloss sie. Sie suchte also einen Kompromiss zwischen wahrscheinlich und wertvoll und sagte leise, fast scheu: “Einen hegemonischen Kleinkompass.” Hegemonisch bedeutete, dass der Kompass eine Eichung hatte, die zwar nie ganz präzise war, aber an allen Stellen der Welt ungefähr richtig. Diesen hatte ein Musika vor etwa zwei Jahrhunderten entwickelt. Es war spannend, wie oft Magie, Musik und Nautik, obwohl die drei Disziplinen so verschieden waren, in der Wissenschaft von Berühmtheiten zusammen betrachtet wurden. Das Gerät war jedenfalls auch heute so komplex herzustellen, dass es kaum Kompantikae gab, bei denen sie zu bekommen waren. Besonders, wenn die Mechanik so klein gebaut wurde, dass sie in eine Tasche passen konnten.
“Ein hegemonischer Kleinkompass wurde uns gestohlen.”, widerholte Marusch Liliðs unsichere Worte und formten daraus phonetisch etwas, was auch nach Anschuldigung klang.
Lilið fiel ein weiterer Grund ein, warum gut war, dass sie eine zurückhaltende Rolle spielte. Sie war im Gegensatz zu Marusch noch nicht so geübt darin, ihre Stimme zu verstellen.
“Die Person hat sich als Nautika ausgegeben. Daher sind wir hier. Das wäre die passende Absteige für so eine Person.”, erklärte Marusch selbstbewusst. “Wir sind also gleich wieder weg. Es sei denn, meine Frau entdeckt die Person. Magst du dich kurz umsehen, mein Lapizstern?”
Lilið nickte und trippelte zwei Schritte vor, als wäre sie ängstlich. Tatsächlich hätte sie vielleicht ängstlich sein sollen, hatte für das Gefühl aber keinen Platz. Sie sah für ihr unsicheres Schauspiel erst auf den Boden, um nicht zu stolpern, und dann in die fünf Gesichter der verstummten Gruppe. Sie hoffte, dass sie ihren Schock gut spielte, als sie sich an ihrem Anzugärmel an Maruschs Arm festhielt – nicht zu verkrampft, damit die Faltung keinesfalls aufsprang. “Diese Person!” Sie deutete auf das Nautika und sprach nur minimal lauter als vorhin. Ihre Stimme war dabei trotzdem überzeugend dünn und um einiges höher, als sie sie vorhin benutzt hatte.
“Ich habe nichts gestohlen!”, rief das Nautika aus.
Lilið erkannte die Stimme, und war erleichtert, dass sie sich nicht geirrt hatte. Gesichter hatte sie nicht wiedererkannt. Sitzposition, Haarlänge und Hautfarbe, sowie der gefälschte Mantel hatten ihr die Indizien für ihren Fingerzeig gegeben, aber vorsichtshalber hatte sie bei der Geste auch etwas gezittert.
“Ich würde nie stehlen!”, betonte das Nautika ein weiteres Mal. Seine Stimme bebte vor Angst. “Ihr könnt deshalb keine Nachweise haben.”
Lilið fand interessant, dass das Nautika sofort an Nachweise dachte. War das nicht eher eine Sache, zu der vor allem Menschen neigten, die Verbrechen abstreiten wollten, die sie auch tatsächlich begangen hatten?
“Nicht hier.”, bestätigte Marusch und legte den Arm schützend um Liliðs Schultern. “Der Diebstahl hat auf unserem Hof in Angelsoge stattgefunden. Meine Frau hat dich dabei gesehen, ohne dass du es gemerkt hast. Unser Imagika hat hinterher mit ihr ein Abbild von dir erstellt.”
Von so etwas hatte Lilið gehört. Wenn Menschen, die im Gegensatz zu ihr sich an Gesichter erinnern konnten, unter Stress eine Person dabei beobachteten, ein Verbrechen zu begehen, so wurden hinterher manchmal speziell ausgebildete Imagikae darauf angesetzt, ein Phantombild mit ihnen zu erstellen. Der Stress sorgte oft dafür, dass sich viele wichtige Details für Imagikae erreichbar einbrannten. Imagikae, die tief in der Wissenschaft der menschlichen Psyche steckten, konnten dann oft überraschend genau ein Abbild erstellen.
“Natürlich wollen wir nicht, dass eine unschuldige Person zu schaden kommt.”, versicherte Marusch. “Ich verlange daher, dass diese Person von danmoger Wachen zu unserem Hof nach Angelsoge verbracht wird, damit geprüft werden kann, dass meine Frau sich nicht irrt. Leider sind wir nur auf der Durchreise und selbst ohne Wachen hier.”
Lilið schüttelte den Kopf, wie um klar zu machen, dass sie sich definitiv nicht irrte. “Ich bin sicher, aber ich stimme dieser Gründlichkeit nur allzu gern zu.”, sagte sie schwach.
“Das weiß ich doch, mein Lapizstern.”, murmelte Marusch ihr ins Haar.
Smutje Andert trat auf sie zu. “Ich werde selbstverständlich die danmoger Wachen holen.”, sagte er. “Ich muss leider aus formalen Gründen darauf bestehen, wenigstens eine Marke zu sehen. Und aus Gründen der Kapazität darauf, dass ihr hier bleibt und die Lage im Griff behaltet, bis ich wieder da bin.”
“Selbstverständlich.”, erwiderte Marusch. “Für beides habe ich volles Verständnis. Danmoge ist ja nicht so groß, dass jeder Imbiss seine eigene Wache hat.” Sie löste ihren Arm von Lilið und holte die beiden Marken hervor, die sie auswiesen.
Lilið überraschte, dass Smutje Andert sie nur kurz betrachtete. Sie überraschte auch, dass sie damit betraut wurden, den Imbiss zu bewachen, während Smutje Andert sich einen Mantel nahm und hinauseilte. Aber letzteres ergab für sie plötzlich einen Sinn, der sie fast schockierte: Sie waren hier in der Stellung von Lord und Lady Bärlauch, Personen, die auch auf dem Angelsoger Adelsball willkommen gewesen waren. Wo sie nicht willkommen gewesen wären, wenn sie nicht auch derbst skorsch gewesen wären. Mit anderen Worten, sie wurden hier wie selbstverständlich für zwei Personen mit vielfältiger und sorfälgtig geschulter Verteidigungs- und Angriffsmagie gehalten. Es musste für alle hier nun eine bedrohliche Stimmung sein, in der sie lieber nichts falsch machten, weil sie zu wissen glaubten, dass sie keine Wahl hätten.
Marusch setzte sich mit Lilið zusammen an den Tisch, an dem vorhin die Person im Anzug gesessen hatte. Sie drehte den Stuhl etwas Richtung Raum und behielt ihn im Blick, ohne es zu verschleiern. Unheimlich sozusagen, in der gegenteiligen Bedeutung von heimlich.
Es ergab sich kaum ein Tischgespräch in der Runde am mittigen Tisch. Sie unterhielten sich kurz über die Möglichkeit, dass die beiden Seeleute von eben etwas damit zu tun haben könnten, aber kamen rasch zum Schluss, dass das unwahrscheinlich wäre. Diese hätten direkt die Wachen geschickt, das wäre einfacher gewesen. Sie besprachen das sehr indirekt, sodass Lilið das Gespräch nicht verstanden hätte, hätte sie nicht den Kontext aus ihrem letzten Besuch gekannt. Das Nautika teilte anschließend noch einmal verzweifelt mit, dass es doch morgen einen wichtigen Termin hatte, und was es denn nun tun sollte. Der Schiffskoch gab resigniert zu verstehen, dass das Nautika froh sein solle, wenn es die neue Situation jetzt überlebte. Eines der werdenden Nautikae sprach ihm Mut zu, dass, wenn es sich wirklich nichts zu Schulden kommen lassen hätte, es auf Angelsoge wieder frei gelassen würde. Die Person aus dem Königreich Sper berichtete, dass sie auf ihrer Handelsreise im Land auch noch in Angelsoge vorbeikommen würde, und besonders leise flüsternd fügte sie hinzu, dass sie gehört hatte, dass Lord und Lady Bärlauch gerechte Leute sein sollten, die sehr genau prüften, bevor sie Urteile fällten.
Lilið beobachtete, wie dem Nautika die Tränen kamen. Ihr war sympathisch, dass es dies nicht zu verbergen versuchte. Der Schiffskoch nahm es in den Arm und streichelte über seine Schulter. Lilið taten alle Beteiligten in der Runde leid.
Es kam ihr vor, als wäre eine Stunde vergangen, als endlich Smutje Andert mit der Wache zurückkam. Auch diese besah sich nur kurz die Marken, die Marusch abermals vorlegte. Lilið schloss, dass Lord und Lady Bärlauch wirklich den Ruf haben mussten, sehr mächtig zu sein, und niemand sich leichtfertig mit ihnen anlegen würde, wenn selbst die Wache nicht genauer kontrollierte, ob sie wirklich Lord und Lady Bärlauch waren. Sie hätten Eichungen prüfen können, aber das taten sie nicht. Sie führten das Nautika ab, das sich dabei nicht wehrte, und versicherten, dass sie mit ihm in spätestens vier Tagen an Liliðs und Maruschs vermeintlichen Hof eingetroffen sein sollten.
Lilið ging auf, wie geschickt das alles war. Auch, dass Marusch keineswegs einen Kompass in die Taschen des Nautikas geschmuggelt hatte, also ein Nachweis erst vier Tage später erbracht hätte werden können. In vier Tagen würde das gesamte Lügenkonstrukt auseinanderfallen. Das Nautika würde wissen, dass sie nicht Lord und Lady Bärlauch gewesen wären, hätte aber keine Möglichkeit, sie je wiederzufinden. Es würde frei gelassen werden und alle wären verdutzt und verärgert. Aber niemand hätte einen langfristigen Schaden davon, außer, dass das Nautika nicht zur Crew hatte gelangen können.
Und ja, Marusch hatte wohl recht mit der Annahme, dass das Nautika eher vermuten würde, dass sie ihm in der Rolle von Lord und Lady Bärlauch den Mantel gestohlen hätten. Es war alles sehr elegant eingefädelt.
Marusch bedankte sich, aufrichtig wirkend, bei Smutje Andert. “Die Störung tut uns wirklich außerordentlich leid.”, betonte sie.
“Da könnt ihr ja nichts für.”, nuschelte Smutje Andert.
“Trotzdem. Ich hinterfrage oft, wo wir erwünscht sind, und wo zurecht nicht.”, antwortete Marusch. “Es ist schade, wenn wir diesen Raum nicht immer geben können. Gehabt euch wohl. Ich wünsche, dass es nicht allzu bald wieder zu Vorfällen wie diesem kommen wird.”
Marusch deutete eine Verbeugung an und legte Lilið die Hand zwischen die Schulterblätter, um sie gen Tür zu leiten. Wieder hielt sie ihr die Tür auf. Die Luft fühlte sich besonders frisch in der Lunge an, als Lilið realisierte, dass bei diesem zweiten Akt wirklich alles gut gelaufen war, vielleicht gefühlt zu gut. Und für Akt drei hätte sie sicher einige Stunden Bedenkzeit. Aber vielleicht zu wenig Schlaf, um diese voll zu nutzen.