Katherina Ushachov – Der tote Prinz

CN: Spoiler für “Der tote Prinz”, Sklaverei und sexualisierte Gewalt erwähnt

“Der tote Prinz”, geschrieben von Katherina Ushachov, ist eine Märchenadaption von “Die tote Zarewna und die sieben Recken”. Das Märchen (es hat Ähnlichkeiten mit dem in Deutschland bekannteren Märchen Schneewittchen) wurde für die Adaption gendergeswappt und in eine dystopyische Wüstenzukunft geworfen, in der Warladys Kriege führen, während es kaum möglich ist, im Freien ohne starken Körperschutz herumzulaufen, weil die Strahlung schwere gesundheitliche Schäden nach sich zieht. Die Geschichte ist aus vielen Perspektiven geschrieben, die sich abwechseln.

Interessant am Genderswappen:

  • Es gibt trotzdem überraschend mehrere Situationen, wo Frauen im Kampf unterliegen oder sogar fast Damsel in Distress sind.
  • Es gibt die Amazonen, von denen ich in einem Matriarchat erwarten würde, dass es Männer (und vielleicht andere im Matriarchat in Bezug auf Geschlecht marginalisierte Menschen) wären, aber es sind auch hier Frauen. Das hat eine interessante Aussage.
  • Es gibt eine Beziehung zwischen einem bösen Mann und einer Frau, in der sexualisierte Gewalt vom Mann gegen die Frau passiert. Während sie überall nach außen hin stark wirkt, den Erwartungen an eine Warlady (also eine hochrangige Frau) entsprechend, so ist das doch der Ort, wo er nach der Hochzeit Macht über sie habe.

So ganz klappt das mit dem einfach ins Matriarchat umgedrehte Patriarchat also nicht. Beziehungsweise, natürlich gibt es auch im Patriarchat Ecken, die aus dem typischen Patriarchats-Bild fallen, die hier umgedreht gezeigt werden können. Ist das interessant? Ist das Absicht? War das vollständige Umdrehen gar nicht die Absicht? Ist es ausversehen durch zu verinnerlichten Sexismus passiert? Keine Ahnung and not my place to judge. Darum sollte es aber auch nicht gehen. Viel interessanter finde ich die Frage: Was macht es mit uns Lesenden? Wie fühlt es sich an? Sehen wir es? Was bedeutet es für uns?

Die Charaktere

Felix: Der schöne Mörder. Er findet einen Spiegel, in den eine KI verbaut ist, die ihm jeweils mitteilt, wer der schönste Mann in ganz Lue-Land ist. Schönheit bedeutet für einen Mann Macht und Felix strebt mörderisch nach viel davon.

Dario: Felix’ Stiefkind. Er ist in der Rückblende recht frisch geboren und in der eigentlichen Geschichte ein 15-jähriger Junge, der (leider für Felix) fortan der schönste Mann im Land ist. Deshalb will Felix ihn ermorden. Dario ist relativ naiv.

Alixena: Darios Mutter, eine mächtige Warlady. Sie ist im Krieg mit Warlady Aino und hat übertrieben viel Reichtum (der zum Beispiel aus Glas und Blumen besteht.)

Aino: Eine Warlady aus dem Nachbargebiet, die gegen Alixena Krieg führt, aber es sieht schlecht für sie aus. Ihre Ressourcen gehen zur Neige. Daher reist sie mit ihrer Tochter Elessa zu Lady Alixena, um mit letzterer Friedensverhandlungen zu führen.

Elessa: Die nun auch etwa 15-jährige Tochter von Warlady Aino. Sie hat ein eher zerknirschtes Verhältnis zu jener, aber kommt doch mit zum Lue-Schloss, wo die Verhandlung stattfindet. Sie erkennt, dass Alixenas Sohn Dario in Gefahr schwebt und schlägt vor, ihn zu ehelichen. Das würde zugleich ein Ende des Krieges bewirken und, wenn Dario dadurch Lue-Schloss verlässt, auch ihn außer Gefahr bringen.

Avital: Darios bester und einziger Freund und Felix’ Sklave. Er wird mehrfach gezwungen, Dario umzubringen, was nicht immer besonders erfolgreich ist. (Lapidar ausgedrückt.)

Lyra: Eine der sieben Amazonen. Sie verliebt sich in Dario und würde ihn gern aus Liebe heiraten.

Gedanken zur Adaption

Es hat mir Spaß gemacht, die Auflistung der Charaktere zu schreiben und dabei zu erkennen, wie sinnvoll diese Reihenfolge dabei ist. Ich mag, wie sich die einzelnen Rollen der Vorlage auf diese Weise relativ kurz zusammenfassbar in dieses Setting verzahnen. Ich mag, wie sich durch diese kurze Auflistung der Charaktere und ihrer Motivation schon fast die Handlung ergibt. Und sie ist aus meiner Sicht sehr spannend geschrieben.

Am interessantesten finde ich dabei vielleicht, dass wir die Entsprechung des “rettenden Prinzen” (Elessa) und seine/ihre Motivation einsehen dürfen, und es sich dabei nicht um romantische Liebe handelt, aber doch um eine Form von Liebe. Es geht dabei darum, einer Person in Not zu helfen, noch bevor das Unheil für alle sichtbar und offensichtlich hereinbricht. In dieser Adaption bekommt eine Person also schon zu einem Zeitpunkt mit, dass es ein liebloses Elternhaus ist, zu dem es in den meisten Geschichten, die ich kenne, noch völlig normal und “ist halt so” wirkt.

Ich finde auch interessant, das Setting in eine Dystopie zu verlegen, denn Märchen dieses Typs machen auf mich oft einen ähnlich bedrückenden Stimmungseindruck, aber eher in einer Vergangenheit.

Das Worldbuilding

Ich gebe hier nur Teile des Worldbuildings wider, weil ich über einige Elemente denke, dass sie etwas mit kultureller Aneignung oder Rassismus zu tun haben könnten und ich das hier weder beurteilen noch reproduzieren will. Stichworte: Kriegsbemalung, bestimmte Trommelmusik, Sklaverei.

Abgesehen davon: Es hat eine Zeit gegeben, die als “die große Dunkelheit” bezeichnet wird, aber sie wird kaum genauer beschrieben. Anschließend ist überall Wüste und es gibt Müllberge, es ist stets sehr heiß und eine Strahlung existiert, durch die die Haare bleichen, die Iriden rot werden und Menschen auf Dauer krank werden lässt.

Es gibt Müllsammelnde, die meist arm sind, und unter ihnen Hierarchien, die angerissen werden. Von Wert ist besonders Glas. Aber auch Plastik kommt in allen möglichen Dingen vor und ist viel wert. So wird etwa aus Plastikbechern getrunken. Ein Haufen Zahnräder, die an Dinge dranverteilt sind, geben dem ganzen noch einen leicht steampunkingen Flair (wenn ich denn davon Ahnung hätte).

In jener Welt gibt es Städte, die jeweils nach einer über sie herrschenden Warlady benannt sind. Die beiden Zentralen sind Lue-Stadt und Dotar-Stadt. Sie liegen eine längere Fahrstrecke auseinander, die meistens mit einem Dampfmobil zurückgelegt wird.

Außerhalb der Städte irgendwo in der Wüste leben die Amazonen, die sich gegen die Warladys zur Wehr setzen wollen. Ganz durchsichtig ist für mich deren Rolle nicht, aber sie sind ein netter Haufen.

Zu guter Letzt gibt es die KI Narzissa. Einst fand Felix einen Spiegel im Müll, auf dem die KI läuft und die ihm Fragen beantwortet. Die KI läuft außerdem auf einem Krabbelvieh, das bei den Amazonen wohnt, und auf einem Kinderspielzeug, das Elissa von ihrer Müllsammelclique geschenkt bekommt und ihr Richtungen anweist, als sie etwas sucht. Das Vorgehen der KI ist dabei eine Mischung aus Navigations-System (“die nächste links”) und verglichen mit den sonst durchaus gegebenen Begründungen im Buch, warum was wie funktioniert, überraschend Unerklärtem (“Folge dem Wind”).

Wie schon erwähnt, haben wir ein gegenderswapptes Märchen vorliegen, und auf diese Art ein Matriarchat. Es kommen oft Sätze vor wie “ihm wurde beigebracht, dass er als Mann nichts wert wäre”. Das wirkt auf mich persönlich in der Form nicht so ganz immersiv. Die meisten in irgendeiner Form von Gesellschaft oder Familie abgewerteten Menschen, die ich kenne, brauchen eine Weile, bis sie realisieren, dass sie dieser Abwertung ausgesetzt sind, und dann sagen sie es selten ohne Bezug auf Situationen, vielleicht sogar, weil es gefährlich ist, es direkt zu sagen. Aber manchmal sind Dinge, die marginalisierte Menschen erfahren, realistisch, die uns nicht so vorkommen.

Abgesehen davon habe ich an dieser Geschichte vielleicht das erste Mal einen Zugang zu Genderswap gefunden: Ich dachte bisher, es ist ein altes Trope, das machen so viele. Aber die Umsetzung ist irgendwie jedes Mal anders. Jedes Mal gibt es andere Aspekte, die patriarchal bleiben, oder andere, an denen wir das Swappen besonders deutlich sehen, auf die sich konzentriert wird. Das finde ich spannend. Hier haben wir zum Beispiel das Thema Schönheit, bei dem geswappt wird, aber auch einzelne Wörter, wie Frauschaft, zeigen Aspekte in Sprache, die geswappt sind. Durch so ein Swappen wird manchmal erst sichtbar, an was für Stellen sich dann doch noch ein Stück Patriarchat in unsere Welt verhakt hat, wo wir es nicht vermutet haben.

Fazit

Anlass, das Buch zu lesen, war in diesem Fall, dass ich eine Fanfiction dazu schreiben wollte. Das Worldbuilding und besonders die KI hat mir dabei Spaß gemacht. Es ist ein kurzweiliger Roman mit vielen interessanten Aspekten über Charaktere mit verschiedenen Motivationen, über Geschlecht und die Vermischung von Politik mit Familie und Gesellschaftsregeln.

Content Notes zu “Der tote Prinz”

Tröt