Einleben

CN: Erotik, Küssen, BDSM, Knien, Sowas wie Blutegel, Nacktheit, Körpergeruch, Genitalien, Untersuchung, questionable consent, masturbieren, Vergiften - erwähnt, Leichen, Sanism, Ableismus, häufige Benutzung des Wortes ‘dumm’, Schlafmangel.

Sie träumte davon, dass sie Marusch küsste. Leidenschaftlich und verzehrend. Dass ihre Körper dazu eng aneinander gepresst waren, ohne das Arme dazu überhaupt notwendig gewesen wären. Sie träumte, Marusch dabei sanft zu halten und ihr Gesicht zu berühren. Aber sie fühlte im Traum die Haptik der Lippen nicht. Interessanterweise war es kein großer Verlust, vielleicht sogar im Gegenteil. Das Gefühl entsprach wieder mehr der Vorstellung von Küssen, bevor sie je geküsst hatte. Und die Vorstellung war in vielen Punkten besser gewesen als die Realität. Die Realität mochte sie eigentlich trotzdem lieber, weil sie weniger flüchtig war. War sie das wirklich nicht?

Sie wachte auf und wünschte sich sofort zurück in den Traum. Er war intensiv gewesen. Das Sehnen und Wollen, das Verlangen und gegenseitige Verschlingen waren genügend starke Gefühle gewesen, um dieses dumpfe Ding in ihr drin, von dem sie nicht einmal wusste, ob es ein Gefühl war, einen Moment nicht zu spüren. Ob Marusch sie deshalb geküsst hatte? War Maruschs Grund, Lilið dieses Gefühl und diese Leidenschaft entgegen zu bringen, dass sie dadurch für eine gewisse Zeit etwas verdrängen konnte, was schlimm in ihr lastete?

Lilið hätte es ihr nicht verübelt. Aber sie glaubte eigentlich sogar, dass es nicht so war. Vielleicht am Anfang. Vielleicht auch in dem Moment, als Marusch entflammt war. Und da hatte es gar nicht so gut geklappt. Aber zum einen waren manche Dinge für Marusch in der Beziehung wichtig, die völlig außerhalb dieser Leidenschaft lagen. Zum Beispiel, dass Lilið zugehört hatte und bestimmte Seiten von Marusch akzeptiert hatte. Und zum anderen war Maruschs Fokus, wenn sie miteinander körperlich wurden, immer so sehr darauf gerichtet gewesen, dass es Lilið dabei gut ging. An so etwas hatte Lilið im Traum nicht gedacht. Sie hatte sich einfach genommen.

Aber nun war der Traum vorbei, und wie das mit Träumen bei ihr so war, würde er nicht auf Kommando wiederkommen, wenn sie später irgendwann wieder Gelegenheit hätte, zu schlafen. Ein alberner Teil von ihr fragte sich, ob sie einfach Drude fragen sollte, ob dey mit ihr leidenschaftlich küssen wollte. Sie merkte, dass sie verglichen mit vor ihrem Anheuern hier verhältnismäßig wenig Hemmungen hatte, es tatsächlich zu tun, aber eben doch genug, es zumindest fürs erste zu lassen.

Beim Frühstück stellte sie sich so unsinnige Fragen, wie, ob es für sie leichter wäre, zu wissen, dass Marusch tot wäre, weil sie dann eine unaufgelöste Sorge los wäre, oder ob die Hoffnung die bessere Alternative war, die irgendwo in das Gefühlsgewusel in ihr verzwirbelt war, das sie mühevoll zu verdrängen versuchte. Ob sie die Hoffnung alleine fühlen könnte? Lilið hatte Sorge, dass, wenn sie dieses Gefühl von Hoffnung aus dem Ballen auszufädeln versuchen würde, dieser sich in ihr völlig entfalten würde. Und vielleicht wäre es gut, wenn er es täte, aber wer würde sie dann auffangen? Was würde dann passieren? Wäre sie dann zu der notwendigen Rolle, die sie spielte, noch in der Lage?

Fehlte ihr Fokus, weil sie diese Hoffnung hatte? Hätte sie ohne die Hoffnung eher versucht, hier wegzukommen, weil ihr die Kronprinzessin in Wirklichkeit egaler war, als sie zugeben wollte, und sie es doch ein Stückweit für Marusch tat? Sie wollte diese Frage unbedingt verneinen. Sie glaubte, dass sie hinter dem stand, was sie tat, aber eigentlich wusste sie auch nicht genau, ob sie überhaupt noch irgendwo stehen konnte.

Badete sie in Selbstmitleid? Sie kicherte lautlos. Nein, das tat sie nicht. Eher in einer negativen Gedankenspirale. Keine, die sie in die Tiefe riss, sondern eher eine, die sie auseinanderfächerte, sodass sie nichts mehr beurteilen konnte. Mitleid hätte sie hingegen aus ihrer Sicht mit sich selber durchaus haben gedurft. Viel mehr, als sie derzeit aufbringen könnte.

Nachdem sie nach dem Frühstück anhand von Sonnenstand und der erwarteten Insel, die sie wie vorgesehen passierten, Daten gemessen und notiert hatte und die Karte im Kartenraum nach ihnen neu justiert hatte, fing sie an, sich selbst zu streicheln. Zunächst nur ein paarmal über die Arme, aber dann unterbrach sie sich. Ihr wäre es vielleicht peinlich gewesen, wenn jemand zugesehen hätte. Deshalb guckte sie gründlich in alle Ecken, ob sie Drude finden würde. Sie vertraute nicht darauf, dass Drude nicht trotzdem irgendwo gut versteckt wäre, vielleicht mit Magie, aber wenn dey sich nicht finden lassen wollte, dann müsste dey wohl damit leben, einen intimen Moment mitzuerleben. Lilið legte sich dazu auf den Boden, die Tür im Blick und streichelte sich sehr zartfühlend über das Haar, das Gesicht, den Hals. Und schließlich über den ganzen Körper. Um an die Beine zu kommen, zog sie sie an.

Sie brach abrupt ab, als sich die Tür öffnete, und erwartete Ärger vom Kapitän oder dem Matrosen zu bekommen, weil sie einfach faul auf dem Boden herumläge, aber es war bloß Drude. Und die Abe hopste sofort begeistert von einer Tasche, die Drude bei sich trug, auf Liliðs Bauch, wo sie sich kraulen ließ.

“Ich glaube, ich bin ein bisschen größer als du, aber vielleicht passen dir trotzdem ein paar Sachen von mir.”, sagte dey. “Deine sehen so aus, als hättest du in ihnen mindestens drei Wochen am Stück abwechselnd im Salzwasser und in der Sonne gebadet und gleichzeitig Schwerstarbeit mit ihnen verrichtet, wenn ich das so sagen darf. Außer der Mantel, der für sowas gemacht ist, natürlich.”

Lilið lachte. Sie war überrascht über diesen eindeutigen Laut der Freude aus ihrem Körper. “Das kann jedenfalls hinkommen.”, sagte sie. “Es waren gute drei Wochen. Ich hatte nur einen Satz Kleidung, den ich, immer wenn das Wetter ihn auch trocknen konnte, im Meer gewaschen habe.”

Drude stellte die Tasche auf dem Tisch ab und suchte ein Hemd daraus hervor. “Steh auf, damit ich schauen kann, ob es passt, oder ob ich weitersuchen muss.”

Lilið atmete resigniert einmal tief ein und aus. Auf Aufstehen hatte sie so gar keine Lust, aber wenn Drude schon so freundlich war, Kleidung zu verleihen, dann sollte sie auch entgegenkommend sein. Sie schob die Abe von ihrem Bauch und rappelte sich hoch. “Es ist so lieb von demm, an mich zu denken.”, teilte Lilið der Abe mit, die darauf nicht reagierte. Lilið streifte noch im Aufstehen den Mantel ab. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihn auch deshalb dauernd trug, weil er den müffelnden Geruch ihrer Kleidung darunter daran hinderte, allzuweit von ihr wegzuwabern und andere zu stören.

Drude verzog allerdings nicht einmal das Gesicht, als dey ihr das Hemd vor den Oberkörper hielt. “Könnte passen.”, sagte sie. “Probier an!”

Lilið haderte mit sich. War das eine Aufforderung von demm, sich hier vor demm im Kartenraum umzuziehen? Vielleicht sollte sie vorsichtshalber fragen. “Meinst du, ich soll mich hier ausziehen?”

“Oh, macht es dir etwas aus?”, fragte Drude.

Lilið dachte an ihre Gedanken vorhin. Sollte sie Drude doch fragen, ob sie küssen wollten? Sollte Lilið ausprobieren, was mit demm passierte, wenn sie versuchte, sich erotisch auszuziehen? Sie beeilte sich, den Kopf als Antwort auf Drudes eigentliche Frage zu schütteln, bevor sie gedanklich den Faden verlieren würde.

Sie fragte sich, ob es nicht irgendwie übergriffig wäre, wenn sie sich erotisch auszöge, und zeitgleich fragte sie sich, ob sie überhaupt wüsste, wie das ginge. Also zog sie sich am Ende einfach nur aus, versuchte dabei selbstsicher rüberzukommen und sich wenigstens selbst dabei schön zu finden.

Lilið bemerkte, dass Drude sie dabei durchaus ansah, aber vermutlich in einer ähnlichen Weise, wie dey es getan hätte, hätte Lilið einfach neue Kleidung getragen. Eindrücke aufnehmend, nicht wertend. Soweit Lilið das ablesen konnte, was, wie immer, nicht einfach bei Drude war.

“Dreh dich mal um!”, forderte dey Lilið auf.

Lilið runzelte die Stirn, aber drehte Drude den Rücken zu. Was sollte das?

“Du hast da zwei Schluppen in der linken Pobacke.”, informierte Drude. “Ich hole eine Schluppenzange, Desinfektionsmittel und einen Eimer Wasser. In Ordnung?”

“Was?”, fragte Lilið. Sie schüttelte den Kopf leicht, um zu versuchen, das Gefühl der Absurdität abzuschütteln.

“Kennst du keine Schluppen?”, fragte Drude.

“Doch, klar! Es würde an ein Wunder grenzen, wenn irgendwer nicht über die Jahre hinweg nach dem Schwimmen im Meer mal welche gehabt hätte.”, erwiderte Lilið. “Also, klar, du hast Recht. Ich komme da wahrscheinlich nicht gut selber dran.” Lilið widerstand dem Drang, nachzufühlen.

Aber als Drude den Raum wieder verlassen hatte, verrenkte sie sich so, dass sie die zwei dunklen Punkte auf ihrem geröteten Po sehen konnte. Ausgedacht hatte dey sich das also nicht. Dass Lilið sich ausgerechnet beim Baden in den Überresten der Kriegskaterane zwei Schluppen eingefangen hatte.

Sie krachte fast auf den Boden, genau auf die Pobacke, als die Abe sie anflog und sich mit Schwung auf ihren verrenkten Schultern niederließ. Sie hatte sich gerade wieder aufgerappelt, als die Tür sich wieder öffnete. Das war zu früh, dachte sie, und hatte Recht. Der Matrose schaute herein, gab ein sehr verwundertes, peinlich berührtes Geräusch von sich und schloss die Tür wieder. “Ich komme dann später wieder!”, rief er durch die Tür.

“Ich habe gerade frische Kleidung bekommen!”, rief Lilið zurück. “Es wird nicht wieder vorkommen.”

Ein Brummeln drang zu ihr durch, dass ihr wenigstens verriet, dass der Matrose es noch gehört hatte. Dann hörte Lilið ihn mit Drude reden, und kurz darauf kam dey wieder herein. “Ott meinte, irgendetwas wäre peinlich gewesen?”, fragte dey.

“Ein wenig.”, antwortete Lilið. “Außerdem ist mir wieder eingefallen, warum ich so auf die Information über die Schluppen reagiert habe. Ich habe realisiert, dass ich ganz schön fertig sein muss, dass ich sie nicht eher bemerkt habe.”

“Bist du.”, antwortete Drude trocken. “Und ich kann dir die Schluppen nur entfernen, wenn du mir den Rücken zudrehst.”

Lilið folgte der indirekten Aufforderung und fühlte nur Momente später eine angenehm kalte Hand in Hüftgegend, die sie leicht fixierte, während die andere mit der Zange die zwei Lebewesen, die es gewagt hatten, ihre Köpfe in Liliðs Körper zu bohren, kurz und schmerzlos herauszupfte.

“Die Viecher sind häufig so gemein, dass sie sich auch in Vulvalippen beißen. Wäre es dir eher unangenehm, wenn ich nachsähe? Oder fändest du gut, wenn ich das kurz mache?”, fragte Drude. “Ich hätte kein Problem damit.”

Lilið schluckte und atmete einmal langsam ein und aus, um sich zu beruhigen. Sie hoffte, dass es sie nicht erregte, denn inzwischen war sie recht sicher, dass Drude nichts im Sinn hatte, wozu Erregung passen könnte. Aber Schluppen kamen selten allein und Drudes Vorschlag war technisch sinnvoll. “Beides.”, antwortete Lilið also wahrheitsgemäß.

Auch diese Inspektion tat Drude wie angekündigt kurz und schmerzlos. Dey beugte sich geschickt über Kopf, sodass dey von unten einen Blick in Liliðs Genitalbereich hatte, zog mit den kühlen Fingern Liliðs Vulvalippen einmal auseinander und blätterte sie sozusagen um. Es ging sehr schnell. Das war gut. “Nichts.”, versicherte Drude.

Als nächstes desinfizierte Drude Liliðs Po. Als dey auch damit fertig war, fühlte Lilið sich irgendwie atemlos, und sie wusste selbst nicht, ob es daran lag, dass sie bei Untersuchungen nie gern im Genitalbereich angefasst worden war, oder ob sie Drude als attraktiv empfand. “Findest du mich anziehend?”, rutschte ihr heraus, als sie sich wieder zu demm umwandte. “Entschuldige, das war nicht in Ordnung zu fragen.”

“Doch, war in Ordnung.”, widersprach Drude. “Und nein, ich finde dich nicht anziehend. Sexuell jedenfalls nicht, das meintest du doch, oder?”

Lilið nickte. Und zuckte dann innerlich sehr zusammen, als Drude einen Schritt auf sie zumachte und deren Zeigefinger gekrümmt unter Liliðs Kinn legte. “Was?”, brachte Lilið hervor.

Drude nahm den Finger wieder weg. “Würdest du dich vor mir hinknien?”, fragte dey.

“Was zum!” Lilið merkte, dass sie fast wütend klang, als sie das sagte, aber vielleicht auch sehr verwirrt. Sie war auch tatsächlich verwirrt. Sie fühlte, wie sie die Frage allein erregte, wie ihre Vulvalippen, die gerade noch durchaus recht unauffällig eine Untersuchung überstanden hatten, mit dieser simplen Frage anschwollen oder so etwas.

“Ich dachte, ich frage mal.”, sagte Drude. Dey vergrößerte ihren Abstand dankenswerter Weise wieder. “Ich kann Menschen nicht gut lesen, aber du wirktest kurz auf mich, als ob du an dem Gedanken durchaus Gefallen gefunden hättest.”

Lilið konnte das nicht leugnen, so sehr sie wollte. “Was hättest du davon?”

“Spaß.”, antwortete Drude schlicht. “Habe ich eine Grenze übertreten?”

Mit dieser Frage klang die Erregung endlich ein kleines bisschen wieder ab. Was sollte das? “Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, wenn nicht, warst du zumindest nah dran.”, sagte Lilið. Ein Teil von ihr wollte, dass Drude es wieder täte. Dieser Teil nahm ihren Vorstellungsapparat an die Hand und spielte Lilið noch einmal die Sequenz vor, in der Drude dicht vor ihr gestanden hatte und sie gefragt hatte, ob sie sich hinknien wolle. Sie wollte doch nicht neue Kleidung direkt einschleimen!

“Es tut mir leid. Ich war wohl zu offensiv.”, sagte Drude. “Ich bringe Zange und Desinfektionsmittel weg. Das Wasser im Eimer ist frisch und der Lappen darin auch. Wasch dich und zieh dich an. Du riechst nach Erregung.”

Lilið schluckte noch einmal schwer. Drude hatte ihren Geruch ansonsten unkommentiert gelassen, fiel Lilið auf. Diesen hatte dey angemerkt. Demm war also bewusst, dass dey da etwas ausgelöst hatte, aber benutzte es nicht als Begründung dafür, Lilið zu bedrängen, sondern sie in Ruhe zu lassen. Das gefiel Lilið schon, auch wenn ihr die Gesamtsituation gerade sehr unangenehm war.

Drude verließ einfach den Raum, und nahm die Abe leider mit.

Lilið stand noch einige Momente da. Wie vom Donner gerührt? Lilið hatte die Redewendung noch nie als so passend empfunden wie jetzt. Ihr Körper reagierte also auf die Vorstellung von Unterordnung. Lilið musste sich mit Gewalt davon abhalten, sich das Ganze noch einmal auszumalen. Oder weiterzugehen. Sich tatsächlich vorzustellen, zu knien. Sie atmete hastig ein, um sich abzulenken.

Warum funktionierte das jetzt? Warum nicht schon, als sie Drude kennen gelernt hatte und dey sie auf den Boden gedrückt hatte? Aber jetzt auf einmal war auch die Erinnerung daran erotisch. Gab es einen Ort an Bord, wo sie unbemerkt masturbieren könnte, damit ihr Vorstellungsapparat vielleicht in den Griff zu kriegen wäre?

Sie würde Navigieren. Das würde helfen. Sie kannte zwar genug Routen, aber sie würde einfach noch ein paar Alternativen erkunden oder sich mit sehr abstrakten Nautikaufgaben beschäftigen, die unauffällig wären. Keine, die so wirken könnten, als würde sie einen Weg nach Nederoge zurücksuchen.

Sie wusch sich also, zog sich an, navigierte, ging dann ihren Pflichten wieder nach, und überprüfte, ob sie noch auf Kurs waren. Leider waren sie es nicht mehr ganz, und zwar auf unpraktische Weise: Sie waren zu schnell. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, auf eine Route zu wechseln, die sie einen Tag früher ans Ziel bringen könnte. Und da Lilið noch in ihrer selbst gesetzten Probezeit war, musste sie es verkünden und umsetzen. Vielleicht würde ihr, weil sie einen ganzen Tag herausholte, nun schneller vertraut und sie könnte es doch irgendwann ausnutzen. Immerhin hatten sie durch die Abdrift in den ersten Tagen der Reise bis zum Angriff durch die Kriegskaterane auch einige Tage verloren und die neue Route würde sie immer noch etwa zwölf Tage kosten.


Beim Mittagessen fiel ihr auf, was sie an der Sache besonders störte, die sie gerade mit Drude über sich herausgefunden hatte: Es war noch etwas, was sie nun irgendwie verarbeiten musste, was in ihr Raum einnahm und sich ungefragt immer wieder in ihre Gedanken schob, was ihr Fokus und Konzentration für wichtigere Dinge raubte. Sie hatte ohnehin einen einigermaßen eng getakteten Plan als Nautika, und ihre Arbeit wurde weiterhin regelmäßig vom Matrosen Ott überwacht, wenn er nicht gerade schlief, was er ja nicht zu den gleichen Zeiten tat wie Lilið. Aber in den kurzen Zeitspannen, in denen es gerade nichts zu tun gab, wollte sie mit Drude politische Gespräche führen und die Prinzessin suchen.

Während Drude an sich eine hilfreiche Person war, ohne die Lilið sich weniger wohl gefühlt hätte, zum Beispiel eben, weil frische Kleidung auf der Haut nach all der Zeit ein Gefühl von im größten Luxus leben mit sich brachte, stand Drude Lilið bei dem Vorhaben sehr im Weg, die Prinzessin zu finden. Dey erwischte Lilið direkt beim ersten Versuch, die Kagutte unauffällig zu durchsuchen. Dey tauchte jedes Mal aus den Schatten auf und konfrontierte Lilið damit, dass das bestimmt Liliðs Plan wäre.

“Nutz die Zeit lieber für Gespräche mit mir.”, riet dey. “Wenn du die Prinzessin aufsuchst, ist es für den Rest der Crew verdächtig, und außerdem sehr kontraproduktiv, was deine Möglichkeiten angehen, mich von irgendwas zu überzeugen.”

Leider musste Lilið demm recht geben. Dere Argumentationsweisen folgten so oft einer unbarmherzig stechenden Logik. Lilið würde nicht mehr viel Zeit haben, Drude von etwas zu überzeugen. Ungefragt drängte sich ihr der Gedanke auf, dass sie versuchen könnte, Drude zu beseitigen. Mit Gift zum Beispiel. Sie aßen oft genug zusammen. In einem Raum, in dem keine politischen Gespräche möglich waren, weil zu viele Ohren zuhören konnten, was ihre Zeit für politische Gespräche noch weiter dezimierte.

Lilið hatte keine Ambitionen, Drude zu töten, aber in ihren ersten drei Stunden Schlaf der folgenden Nacht träumte sie intensiv davon, wie sie das Gift, das sie noch von Allil bei sich trug, in Drudes Speisen mischte, und sich dann überfordert sah, eine Leiche zu entsorgen. Sie wurde geweckt, als sie gerade dabei war, Drudes Leiche zwischen den Toten von der Kriegskaterane zu verstecken, die in ihrem Traum immer noch hinter der Kagutte herschwammen, denn wo eine Leiche besser verstecken, als unter anderen Leichen?


Lilið war nicht überrascht nach ihrem Gang an Deck, um Messdaten zu sammeln, Drude im Kartenraum vorzufinden. Dieses Mal trat dey direkt aus den Schatten, gab sich keine Mühe, unbemerkt zu bleiben. Dey setzte sich Lilið gegenüber an den Kartentisch und sah ihr dabei zu, wie sie die Karte auf ihren neuen Stand brachte. Das war unheimlich, fand Lilið. Drudes Blick war dabei wach und aufmerksam, als würde dey alles verstehen, und auf die Frage, ob es so wäre, antwortete dey einfach nicht. Drude war eine sehr aufgeweckte Person und Lilið traute demm zu, eine Menge Fähigkeiten erfolgreich zu verbergen. Das würde irgendwann vielleicht ein Problem bedeuten, wenn Lilið versuchen würde, die Crew zu betrügen.

Aber warum hätte Drude dann das Schiff nicht navigiert, als Lilið noch nicht als das Nautika eingesetzt worden war?

Lilið legte das Kartensteinchen an seine aktuell richtige Position und blickte auf. “Fertig.”

“Hältst du mich für dumm?”, fragte Drude.

“Was?” Lilið fühlte schon wieder Fassungslosigkeit. Warum sollte sie das von Drude denken? “Ich habe gerade eher das Gegenteil über dich gedacht.”

“Viele denken von mir, dass ich dumm wäre.”, informierte Drude. “Ich weiß, dass ich es nicht bin. Aber egal, wo ich hingehe, mir werden zum Beispiel Dinge zunächst möglichst einfach erklärt. In so einer miesen Art, als wäre ich ein kleines Kind. Wobei ich finde, dass man auch mit kleinen Kindern nicht so reden sollte.”

Lilið runzelte die Stirn, sagte aber erst einmal nichts. Sie konnte es sich eigentlich nicht vorstellen. Aber sie würde es demm auch niemals absprechen. “Warum erzählst du mir davon?”

Drude gab ein tonloses Lachen von sich, das Lilið schon kannte. “Ich habe den Eindruck, du bist nicht dumm, aber schon eine Ecke weniger schlau als ich.”, sagte dey. “Es wird hoffentlich irgendwann in diesem Gespräch noch um die Kronprinzessin gehen, die, so schätze ich es ein, tatsächlich dumm ist. Und das meine ich nicht abwertend, aber es hat halt trotzdem Konsequenzen.” Drude zog die Augenbrauen zusammen. “Ich habe Angst vor dem Gespräch, weil es Tabuthemen sind. Menschen sind kaum in der Lage, nicht zu werten, gehen also im Gegenzug davon aus, dass ich werten würde, sobald ich bestimmte Wörter benutze, aber sie sträuben sich auch gegen jede Alternative, sobald sie ausdrückt, was ich meine. Es ist schwer, darüber zu reden, ohne dass jemand an die Decke geht. Darf ich ein bisschen ausholen?”

Lilið konnte nicht leugnen, dass ein Teil von ihr jetzt schon ein starkes Bedürfnis danach hatte, an die Decke zu gehen. Ein Teil, den sie zumindest derzeit noch gut im Griff hatte. Sie nickte.

“Menschen widersprechen sich dauernd oder denken nicht logisch zu Ende. Sie sagen, niemand ist dumm.”, leitete Drude ein. “Zum Beispiel sagen sie, manche bräuchten einfach nur mehr Zeit, um etwas zu lernen, aber irgendwann könnten sie es doch lernen. Glaubst du daran?”

Lilið zögerte. Sie kannte diese Behauptungen durchaus. Und sie hatte sie instinktiv für nicht richtig, aber auch nicht schlimm falsch gehalten. “Ich habe mir nicht ausreichend Gedanken gemacht, um eine abgeschlosse Meinung dazu zu haben.”, antwortete sie.

“Ich finde gut, dass du das so sagst. Und dass du es kannst, zu einem Thema, das für dich emotional belastet ist, keine fertige Meinung zu haben, mit der du gegen miese, abwertende Leute antreten kannst.”, sagte Drude. “Die Sache ist die, dass Menschen eine bestimmte Lebensspanne mit einer bestimmten Varianz haben. Sagen wir 80 Jahre, plus minus 20. Vielleicht ist die Varianz etwas kleiner, aber ich kann nicht gut rechnen, also übertreibe ich. Wenn es stimmen sollte, dass manche Menschen bloß langsamer lernen würden, dann müsste dieser Umfang von 40 Jahren, – also zweimal die 20 –, ausreichen, diese Geschwindigkeiten auszugleichen, damit wir am Ende sagen könnten, dass alle Menschen durchschnittlich das Gleiche in ihrem Leben lernen könnten. Ich glaube nicht, dass die Varianz ausreicht, die Unterschiede der Lernfähigkeiten von Menschen aufzufangen, sodass es weiterhin signifikante Unterschiede dazwischen gibt, was Menschen in ihrem Leben lernen können. Und das ist nur das oberflächlichste Problem an der Idee, abzustreiten, dass es dumme Menschen gibt. Kannst du mir folgen?”

Lilið nickte. “Schon.”, sagte sie. “Ich brauche auch nicht mehr Erklärungen dafür, dass es eine Hierarchie gibt. Ich sehe zum Beispiel Skorem als eine Unterkategorie von Intelligenz an, die sich konkret auf Magie bezieht. Und da werden wir ständig einsortiert. Das ergibt eine sehr klare Hierarchie.”

“Genau!” Drude bestätigte es so schnell, dass dey Liliðs Gedankengang damit abriss. “Es gibt auch immer wieder Leute, die sagen, eigentlich wären doch alle skorsch und alle können jede Magie lernen. Nur manche eben langsamer. Alles dasselbe wie mit Intelligenz. Und recht haben die Leute damit, dass manchen Menschen zu unrecht einfach abgesprochen wird, skorsch oder intelligent zu sein. Frauen zum Beispiel, oder Leuten, die für welche gehalten werden, oder Leuten, die irgendwie sonst nicht in ihr Bild von skorsch fallen. Aber das heißt halt nicht, dass das bei allen Menschen zutrifft, dass da ein Vorurteil im Spiel ist. Manche Menschen sind einfach nicht skorsch.”

Lilið nickte abermals. “Die Frage, die ich mir stelle, ist, warum wollen wir das überhaupt einordnen und vergleichen?”

“Na ja, mit einem Grund dafür habe ich das Gespräch eröffnet.” Drude lächelte beinahe für einen Moment, aber irgendwie hoben sich die Mundwinkel dabei nicht. “Auf Basis dessen, dass Leute mich für dumm halten, behandeln sie mich irgendwie. Und zwar unpassend, nicht hilfreich für mich. Ich behaupte nicht, dass ihre Art und Weise bei Leuten automatisch richtig wäre, die tatsächlich dumm sind, aber es wäre wahrscheinlich eine gute Sache, wenn wir lernen würden, wie wir uns beim Kommunizieren mit Leuten darauf einstellen, ob unser Gegenüber mitkommt oder nicht, und wie wir auf es eingehen können.”

Das klang im ersten Moment einleuchtend. Aber Lilið störte noch etwas daran. Drude ließ ihr die Zeit, nachzudenken. “Meinst du, es hilft uns, vorgefertigte Muster zu erlernen, die sich auf diese Skala beschränken? Ist es nicht sehr unterschiedlich, auf welche Weisen Menschen kognitiv Schwierigkeiten mit etwas haben?”, fragte Lilið. “Ist das nicht auch etwas, was bei dir ein Problem sein könnte? Leute schauen dich an und sehen irgendetwas, was sie auf die Idee kommen lässt, dass du dumm wärest, obwohl es nur irgendeine Eigenschaft von dir ist, die sie auf diese Skala runterbrechen, und dann wenden sie ein Muster auf dich an? Ich weiß, dass Muster schon irgendwie notwendig dafür sind, um uns überhaupt zu orientieren, aber die Dumm-Schlau-Skala kommt mir viel zu einfach heruntergebrochen vor, als dass nicht tausende Menschen darunter leiden würden.” Sie bemerkte, wie mies es sich angefühlt hatte, das Wort ‘dumm’ auszusprechen. Es haftete so viel Stigma daran. War es möglich, das loszuwerden?

“Hm.”, machte Drude und schwieg dann erst einmal.

Das tat dey so ausgiebig und lange, bis Ott verschlafen an die Tür klopfte, kurz darauf eintrat und Lilið fragte, ob sie auf ihre zweiten drei Stunden Schlaf verzichten wollte.

“Wir reden danach weiter.”, bestimmte Drude. Dey verließ einfach den Raum.

Lilið würde also nicht auf den wertvollen Schlaf verzichten. Oder zumindest versuchen, das nicht zu tun. Es war ein merkwürdiges Gefühl von mittendrin Abbrechen und Lilið fragte sich, ob sie überhaupt schlafen können würde. Und falls ja, welchen Unfug sie dieses Mal träumen würde.