Hang zum Träumen
Content Notes: Selbstkritik/-reflexion, Ratten, andere Tiere, Erwähnung von Selbsthass, Blut (Verletzung, aber keine gefährlichen), Ekel? (Ich weiß selbst nicht, wie Ekel funktioniert), Tiefen, fahrlässiges in Gefahr bringen, Othering, Objektivizierung, Ableismus
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Die Geschichte
Ich verlasse das Haus im Abendgrauen und merke erst jetzt, wie fertig ich eigentlich bin. Luana hatte mich und vier weitere Herzwesen zu einer Waffelfeier eingeladen. Wir haben viel über Programmieren und Politik geredet und es war wunderschön, aber auch sehr Energy Draining. Seltsamerweise merke ich das nicht so sehr in der Situation selbst, sondern erst hinterher. Energie wird zur Verfügung gestellt, die eigentlich gar nicht da ist, aus so einer Art Aktivspeicher. Und sobald ich den Raum verlasse, muss der Aktivspeicher aus den Langzeitressourcen aufgefüllt werden. Innerhalb von Sekunden bin ich den Tränen nahe, weil nichts mehr geht. Es ist schwierig, das wieder so zu verschieben, dass es wieder ginge. Es ist manchmal möglich, aber auch gefährlich. Das Gute ist, ich muss nicht. Luana weiß, wie das bei mir ist. Dass ich eben 90% meiner Zeit me-time brauche, und das nichts damit zu tun hat, dass irgendeine Person sich schlecht verhalten würde, sondern einfach Bewegung, Mimik, Sprache, Klänge, Gefühle und überhaupt alles von und unter Leuten viel ist, was mich so auslastet, wie andere ein Marathon-Lauf.Seltsamerweise ist das bei Enne anders. Eins könnte sagen, rie gehöre nicht so richtig in die Kategorie Leute. Aber das wäre absolut nicht respektvoll. Das musste ich lernen.
Immer noch weiß ich nicht, ob es nicht doch einen respektlosen oder anders unguten Beiklang hat, in meinen inneren Monologen das Pronomen 'rie' für ien zu wählen. Ich bin selbst nicht-binär und habe für mich ein Neopronomen eingeführt. Für mich. Wenn es darum geht, von Personen zu sprechen, die nicht von sich selber sagen können, was sie bevorzugen, wird es schwierig. Noch einmal besonders, wenn für jene Personen Fortpflanzungsbiologie anders funktioniert und, solange Menschen Biologismus internalisiert haben, die Wahl dadurch begründet erscheint. Mein Grund dafür, ein Pronomen zu benutzen, ist der Respekt, dass Enne eine Person ist, und mein Grund, jenes zu nehmen, ist die Idee, mit einem Pronomen kein Geschlecht zuzuordnen oder nahezulegen, auch kein nicht-binäres.
***
Ich atme die Abendfeuchte ein. Sie riecht nach Salz und Stein, nach Regen, der aber schon ein paar Stunden in der Vergangenheit liegt. Ich schlendere. Schlendere den Hang hinab. Bewusst langsam. Ich setze meine Füße in den weichen gelben Schuhen so auf und zwischen das Felsgestein, das aus dem Gras herausbricht, dass es gerade so nicht weh tut und ich durch die dünnen Sohlen spüre. Ich spüre die Kanten, einzelne Steine, weiche, nachgiebige Erde. Die Schuhe sind waschmaschinengeeignet.
Der Abendwind dringt durch die orangenen Leggins und umspielt die freien Fußknöchel besonders kühl. Es fühlt sich nach Freiheit an und sehr nach Ich. So sehr ich mich oft hasse, weil ich mit ungefähr allem, was ich bin, schon auf Ablehnung gestoßen bin, so sehr mag ich auch ich sein, wenn ich allein bin und die Frage, ob ich andere störe, sich einfach nicht stellt. Eigentlich sollte ich mir allmählich sicher sein, dass sich die Frage bei Luana und den anderen auch nicht stellt, aber naja, Vergangenheit und so. Und Masking, nun ja, dieses Wissen, dass eben doch meine Ausdrucksweise neurotypisch interpretiert wird, und ich deshalb bewusst steuere, damit diese Interpretation nicht total daneben liegt. They can't help it.
All das fällt hier draußen von mir ab. Wie, wenn grelles Sonnenlicht von Wolken verdeckt wird, und die Gesichtsmimik nicht mehr leisten muss. Wie der Moment, in dem der Bohrhammer zu hämmern aufhört, oder der Bus, durch den eins spaziert, nicht mehr um Kurven schlingert. Der Körper muss nicht mehr ausgleichen, kann einfach sein. Und ein Stein unterm Schuh ist nicht mehr ein überfordernder Reiz unter vielen, sondern der eine Reiz, der nun ausgekostet werden kann.
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Der Hang fällt einsam von den Hinterhöfen der Häuseransammlung hinab zum Meer. Das Meer ist von hier aus nicht einfach erreichbar, weil der Hang in eine Steilküste mündet. Vom alten Hof nahe der Kante ist fast nichts mehr übrig. Teile sind mit in die Tiefe gebrochen, als die Steilküste so entstanden ist, wie sie heute da liegt. Das Restmaterial wurde überwiegend abgetragen und in anderen Bauwerken verbaut. Aber der Brunnen und eine halbe Mauer steht noch, eingewuchert in Hagebuttenbüschen, Brenesseln und Kletten. Ich habe hier viel Zeit verbracht, Vögel, Hasen und Sonnenuntergänge fotografiert. Einmal habe ich Enne fotografiert. Das Foto existiert nicht mehr. Enne hat sehr deutlich gemacht, dass rie das nicht will, hat die Kamera mit Wasser bespritzt und sich mehrere Tage nicht blicken lassen. Eigentlich glaube ich, dass rie gar nicht so richtig weiß, was eine Kamera ist, wozu dieses Gerät da war. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass rie erschließen konnte, dass ich rie erforschen wollte, darauf hyperfokussiert habe, und der Kamera-Apparat das spätestens deutlich gemacht hat. Ich kann nicht leugnen, dass ich auch jetzt noch am liebsten alles über rie herausfinden möchte, wie rie lebt, was rie isst, wie rie kommuniziert, und furchtbar intime Details. Es fällt mir schwer, mich davon zu lösen, mit dem selben Gedanken an rie heranzugehen, wie irgendwelche Forschenden an zum Beispiel Ratten oder Krähen, nur weil rie kaum größer ist und eben auch nicht meine Sprache spricht. Sprache ist so ein wichtiger Aspekt. Ich habe selbiges forschend objektifizierendes Gedankengut auch schon in Bezug auf mich oder andere autistsche Personen erlebt, wenn wir wegen Reizüberflutungen nicht sprechen können. Die Art, wie mir ein Mensch aus dem Bekanntenkreis meiner Eltern stolz erklärt hat, dass meine autistische Herzperson ausdrücklich mit ihm interagiert hätte. Dieses widerliche, objektivizierende auf die eigene Schulter klopfen für die Fähigkeit, das Vertrauen bei diesen komplizierten Menschen geschaffen zu haben. Oder wie Leute erklären, wie mit non-verbalen Menschen Kommunikation angeblich generell funktioniere wie so eine simple Anleitung. Ich frage mich, ob es bei der moralischen Bewertung dieser Objektivizierung überhaupt eine Rolle spielt oder spielen sollte, dass ich oder besagte autistische Herzperson Menschen sind. Oder ob es nicht ganz allgemein eklig ist. Menschen haben diese Neigung, alles kontrollieren und wissen zu müssen, und dabei zu vergessen, wen sie vor sich haben. Und ich kann mich davon nicht ausnehmen, noch nicht zumindest. Ich schäme mich und arbeite an mir.
Sicher ist jedenfalls, dass seit der Sache mit der Kamera mein Hauptaugenmerk, wenn ich Enne besuche, Konsens ist. Gibt mir Enne irgendwie zu verstehen, dass ich iem Raum nehme, dann ist das einfach nicht okay. Ich versuche, bei dem, was ich tue, herauszulesen, was für Enne okay ist, nicht zu drängen, sondern eher zu fragen, so höflich das eben ohne gemeinsame Sprache geht.
***
Was ich nun mache, sollte mir besser keine Person einfach nachmachen. Ich lege meinen Rucksack ab (okay, das ist noch ungefährlich), knote meinen einen Fuß in eine Schlinge eines am Brunnengestänge befestigten Flaschenzugs, knote die Lampe an meinem grünen Gürtel fest, der das gleichfarbige Kleidungsstück meines Oberkörpers daran hindert, mir über den Kopf zu rutschen, und lasse mich kopfüber in den Brunnen hinab. Kopfüber, weil der Brunnen zu schmal ist, um sich darin umzudrehen. Das heißt auch, dass es brenzlich wird, wenn sich aus irgendwelchen Gründen meine Füße vom Seil lösen oder der Flaschenzug nicht mehr funktioniert. Dann lande ich kopfüber in einem schmalen Tunnel im Wasser. Immerhin weiß ich aus den ersten Malen, als ich mich noch mit den Füßen zuerst hinabgelassen habe, dass es nur ein wenig weiter unter der Wasseroberfläche einen Hohlraum gibt, in dem ich tatsächlich wenden kann. Trotzdem ist es sicher sehr gefährlich, was ich da mache, nur gibt es viele Gründe, warum ich nicht wieder abtauchen und zugleich mit dem Kopf nahe der Wasseroberfläche sein will.
Die alten, abgerundeten Steine des Brunnens sind glitschig von etwas zwischen Algen und Moos. Sie riechen wundervoll. Ich mag mit den Händen darübergleiten, aber ich habe lieber beide am Seil des Flaschenzugs, als ich mich in die Dunkelheit hinablasse.
Kurz oberhalb der Wasseroberfläche, die mein Licht reflektiert und sonst nichts, ist das Seil aufgebraucht. Das habe ich so eingerichtet. Ich kann es hier einfach vorsichtig loslassen und hänge. Dann bringe ich die mitgebrachte Leuchte hinter mir an einer Halterung an und hänge sie mit einem gelben Tuch ab. Ungefiltert ist Enne das Licht zu hell. Rie hat mich längst gehört oder das Licht gesehen. Mich wahrgenommen auf jeden Fall. Sain kleiner, nasenloser Kopf taucht halb aus dem Wasser auf, fixiert mich mit den im gelben Licht schimmernden Augen.
"Moin", sage ich leise.
Das ist ein Ritual. Ich habe keine Ahnung, ob es einen Sinn für rie hat. Es ist vielleicht vor allem für mich ein Ritual. Damit ich nicht anfange, mit iem zu reden, als wüsste ich, dass rie mich nicht verstünde. In Wir-Form etwa, oder in irgendeiner anderen Weise, die mich als wichtiger werten würde. Ich erinnere mich dadurch daran, dass ich weder weiß, was rie denkt, noch wie, und dass das auch okay ist.
Ich bewege meine Hand vorsichtig zur Wasseroberfläche. Rie beobachtet das, bis sie die Oberfläche berührt. Dann schwimmt rie heran, greift mit den winzigen Fingern mit den Schwimmhäuten dazwischen nach der Hand, zieht sie unter Wasser. Natürlich hätte rie keine Chance, wenn ich rie nicht führen ließe. Rie schlingt den langen, Katzenhai-artigen Fischschwanz einmal um die Hand, um den eigenen Körper zu stabilisieren, legt saine Hände sachte auf meinem Unterarm ab und schaut noch einmal kurz vom Handgelenk auf in mein Gesicht. Dann stülpt rie sainen Mund seitlich über meinen Unterarm. Saina Augen klappen zu. Die winzigen, rasiermesserscharfen Zähnchen dringen vorsichtig einmal in die Haut ein. Sain Gesicht bekommt für einen Augenblick einen sehr entspannten Ausdruck. Rie atmet langsam aus. Das merke ich nicht an Luftströmungen, sondern am schmaler werden des Brustkorbs und am Wasser, das aus den Kiemen über meine Haut strömt. Ich bin nicht einmal sicher, ob Enne mein Blut trinkt oder bloß schmeckt. Es fühlt sich nur anfangs kurz nach ein wenig Sog an. Dann lösen sich die Zähne aus der Haut. Die Verletzungen sind so klein, dass sie rasch wieder heilen.
Auch das Beißen ist Tradition. Dadurch habe ich überhaupt von Ennes Anwesenheit mitbekommen. Als ich hier das erste Mal mit den Füßen zuerst eingetaucht bin, hat rie zugebissen, damals weniger vorsichtig. Wahrscheinlich war es in der Situation auch aus Angst oder Verteidigung von Raum passiert. Enne reagiert nicht entspannt, wenn ich unvorsichtig oder tief ins Wasser eintauche. Das ist der Hauptgrund, warum ich es nicht mehr tue.
Als ich anfing, zurückhaltender zu sein, hat Enne eine Weile nicht gebissen und sich dann vorsichtig wieder daran herangetastet. Mysteriöserweise fühlt es sich nach Freundschaft an.
Enne löst den Mund wieder von meinem Arm und streicht mit den glibschigen Händen darüber. Rie untersucht Leberflecken, Falten, Gelenke, Poren und Rillen in der Haut. Dieses Mal ist rie sehr forsch und mutig dabei. Rie verharrt an einem Kratzer, untersucht ihn sehr langsam und schaut mich dann an. Vielleicht ist der Blick fragend, wer weiß das schon.
"Ich bin in einer Hagebuttenhecke hängen geblieben. Die Pflanzen in der Welt da oben haben Dornen. Die sind spitz, aber weniger spitz als deine Zähne. Deshalb heilt das nicht so rasch", erkläre ich.
Im Nachhinein gehe ich durch, was ich gesagt habe. Vielleicht habe ich humansplaint und rie weiß das alles. Aber dann wieder weiß ich nicht, ob rie mich überhaupt versteht.
Einen Augenblick stelle ich mir vor, dass rie vielleicht heilende Magie oder so etwas wirken kann, was rie mir nun anhand dieser Schramme offenbaren würde. Vielleicht indem rie darüber leckt. Aber das tut rie nicht. Es ist auch ein unsinniger Gedanke. Rie ist keine Sagengestalt, sondern einfach eine Nixe, vielleicht eine Katzenhainixe. Der Körper ist hellgrau mit dunkelgrauem Muster. Rie ist etwa 25cm lang und hat für diese Größe eine erstaunliche Kraft.
Enne entspannt den Körper kontrolliert, gleitet von der Hand herab zurück ins Wasser. Es platscht nicht einmal laut. Nachdem Enne Luft geholt hat, taucht der halbe Kopf wieder auf, die Augen richten sich auf mein Gesicht. Meistens verbringen wir an dieser Stelle nun einfach still Zeit miteinander. Das macht Ennes Gesellschaft so entspannend und so anders. Nichts in mir fühlt sich danach an, dass ich irgendetwas vorspielen müsste. Ich kann einfach ich sein und genießen, in dieser Welt zu sein.
Aber dieses Mal streckt Enne die Arme aus, schnellt aus dem Wasser hervor und hält sich sanft in den Spitzen meiner blonden Haare fest. Es tut nicht weh. Sain Gewicht wird noch zu einem großen Teil vom Wasser getragen. Rie sieht mich an und zieht vorsichtig. Ich beginne zu verstehen, dass rie möchte, dass ich mit dem Kopf untertauche. Aber dazu muss ich das hier unten befestigte Seil des Flaschenzugs etwas lösen.
Ich nicke langsam und vorsichtig. Ich habe iem einmal erklärt, was es mit Nicken auf sich habe und dann versucht Ja-Nein-Spiele zu spielen. Das hat zu nichts geführt. Vielleicht versteht rie dazu einfach zu wenig meine aurale Sprache. Trotzdem lässt Enne die Hände nun aus meinen Haaren gleiten und verschwindet wieder fast im Wasser.
Ich löse das Seil vom fest verankerten Haken und gebe sehr langsam Raum. Enne wirkt gefasst, wenig ängstlich, wartet. Ich stecke nicht direkt den Kopf ins Wasser, sondern fixiere mich erst wieder in gebeugter Haltung, sodass ich ihn ohne Änderung des Flaschenzugs anschließend eintunken kann. Nachdem ich mir sicher bin, dass alles stabil ist, merke ich erst, dass mein Herz rast. Ich habe immer Angst, wenn ich etwas am Flaschenzug ändere. Ich atme langsam ein und aus und schaue in Ennes Gesicht. Dann strecke ich behutsam und kontrolliert meinen Körper. Enne schwimmt wieder zu meinem Kopf und zieht vorsichtig an der oberen Seite meines Ohrs, oder viel mehr an der unteren, führt den Kopf ins Wasser. Ich bin überrascht, dass rie ihn auf eine Weise führt und neigt, dass zwar die Ohren im Wasser sind, aber die Nase knapp oberhalb des Wassers bleibt. Ich öffne vorsichtig die Augen unter Wasser, aber sehe nur den Schein an der Wasseroberfläche. Ich frage mich, ob rie über Wasser so wenig klar sieht, wie ich unter Wasser. Das Wasser ist angenehm kühl. Ich mag es, wenn mein Haar sich mit Wasser voll saugt und wie es sich unter Wasser bewegt. Ich schließe die Augen wieder und dann höre ich Enne singen. Singen, oder etwas, was ich lediglich als Singen bezeichnen würde, weil Menschen die Worte für diese Art Tonerzeugung fehlt. Vielleicht das Fischäquivalent zu Zwitschern. Es ist hoch, vielseitig und schön. Ich lächele und entspanne, wie beim Klang einer vertrauten Stimme. Nun bin ich in der Position, vielleicht nie zu wissen, ob ich Enne verstehen lernen werde, aber auch das Lauschen dieses Gesangs allein bedeutet Vertrauen und Zuneigung.