Im unsicheren Hafen

CN: Verbrennungen, Alkohol, Betrunkene, sexuelle Übergriffigkeit, Ableismus, Krieg, Nacktheit in der Öffentlichkeit, Sexismus, wirbellose Tiere.

Lilið versuchte, sich mehrfach klarzumachen, dass sie nur eine Rolle spielte. Marusch gab ihr Anweisungen, das Gepäck zu tragen und ihr zu folgen oder sich bereit zu halten. Es wäre vielleicht erträglicher gewesen, wenn Marusch es einfach schroff wie einen Befehl hätte klingen lassen, aber sie drückte sich dabei so wohlwollend und freundlich aus, wie eine Wache, die sich an einem Hof sicher Beliebtheit sowohl unter Vorgesetzten als auch unter Untergebenen erfreut hätte. Nur war sie eben distanziert, als würden sie sich nicht privat kennen.

Das Spiel war so überzeugend, dass Lilið einige Male innerlich automatisch anfing, sich damit auseinanderzusetzen, ob sie Marusch vielleicht etwas getan hätte. Und dafür schämte sie sich fast, immer, wenn es ihr auffiel, weil sie gern schauspielen können wollte.

Kurz bevor sie die Halle verließen, nahm Marusch Lilið beiseite und flüsterte ihr in der gleichen, distanzierten Art wie zuvor im Schauspiel zu, dass sie, sobald sie unter Leuten draußen wären, eine privatere Beziehung vortäuschen sollten, damit sie nicht so sehr auffallen würden. Lilið blickte sich um und sah Anni schmunzeln. Sie hatte es mitgehört. Lilið begriff erst verspätet, dass das beabsichtigt war. Sie nickte.

“Gibst du mir einen der Beutel?”, fragte Marusch immer noch leise raunend.

Lilið schluckte. Wie konnte diese Person dieses doppelte Spiel so perfekt beherrschen? Lilið fühlte im Raunen immer noch die ungewohnte Distanz.

Aber es gab keine Zeit, es zu bewundern. Sie sollte tunlichst auch so ein Spiel hinlegen. Sie blickte Marusch verstört an, und veränderte den Gesichtsausdruck sofort so, als würde sie es überspielen wollen. Nicht ganz überzeugt reichte sie Marusch das leichteste Gepäckstück. Und mit einem Mal machte ihr die Sache doch etwas Spaß.


Marusch folgte Annis Wegbeschreibung zu einem der größeren Häuser am Hafen, zügig gehend, aber so, dass Lilið neben ihr gut mithalten konnte. Öwenengeschrei drang vom Himmel, wo die gräulichen Drachen kreisten. Lilið mochte ihre schwarzen Flügelspitzen. In Häfen waren Öwenen oft aggressiv und stahlen essenden Menschen ihre Töffelstäbchen oder Asamenspieße aus den Händen. Das Feuer der Öwenen war nicht sehr heiß, weshalb es nur selten dabei auch zu Brandverletzungen kam.

Über das quietschige Gekreisch der Öwenen hinweg drang Musik einer Schifferklave zu ihnen hinüber. Sie näherten sich den Tönen des Blasebalginstruments auf ihrem Weg an den Stegen vorbei. Als sie die Terasse vor dem Haus erreichten, das ihnen Anni beschrieben hatte, sahen sie die Quelle der Musik: Eine ziemlich kleine Person saß in einem Rollstuhl direkt hinter dem Zugang zur Terasse links. Sie schien vertieft in die eigene Klavenmusik, die zurückhaltend genug für Tischgespräche, also wohl als Hintergrundmusik gedacht war.

Lilið folgte Marusch die flache Rampe auf die alten Holzdielen hinauf, die mit ihren wetterverursachten Unebenheiten sicher nicht mehr bestens für einen Rollstuhl geeignet waren, zu einem Tisch am Rande nahe der Brüstung zum Hafen hin. Marusch zog für sie den Stuhl zurück, tat dabei verunsichert. Lilið räumte das ganze Gepäck griffbereit zwischen Tisch und Brüstung und setzte sich. Es war ein sehr ulkiges Gefühl von Marusch mit einer Höflichkeit behandelt zu werden, wie das vielleicht von Bediensteten für den Adel vorgesehen war, während ihr Anblick weiter von Adel weg kaum hätte sein können. Sie fühlte deutlich, dass sie mit einer Hose, die mal dunkelgrün gewesen war, aber von deren Farbe Wasser, Salz und Sonne nur noch marmorierte Erinnerungen zurückgelassen hatten, in diesem Hafenhaus sehr underdressed war.

Sie setzte sich mit so viel Würde hin, wie sie vermochte. Als die noch nasse Hose wieder gegen ihren Po drückte, fröstelte sie ein wenig. Das war nicht gut. Frieren war für sie meist ein Alarmsignal dafür, dass sie sehr erschöpft wäre oder krank würde. Ob sie Gelegenheit haben würden, auszuruhen, bevor sie Hals über Kopf wieder fliehen müssten?

An einem der benachbarten Tische saß eine Gruppe aus drei Personen und starrte sie unverholen an. Vielleicht war das der Grund, warum Marusch und sie kein Wort sprachen, bis eine Person in Dienstkleidung auf sie zutrat. “Ich bin Lenste und ich bringe heute Speis und Getränk zu den Tischen.”, verriet sie. “Möchtet ihr hier nur sitzen oder auch etwas zu euch nehmen?”

“Wir würden gern essen und trinken.”, antwortete Marusch und legte unaufgefordert den Zettel vor, den die Hafenmeisterin geschrieben hatte.

Lenste berührte ihn beiläufig kurz. Das fand Lilið interessant. Also schrieb Anni auch auf geeichtem Papier! “Wir haben heute im Angebot:”, holte Lenste aus, las aber dann doch von einer kleinen Tafel vor, die an Lenstes Gürtel baumelte und überbrückte die Zeit mit Randinformationen. “Ich bin noch nicht so lange dabei heute. Der Sturm hat ein bisschen mehr Arbeit verursacht, es geht ein bisschen drunter und drüber. Wir haben Ulaschsuppe, Schrimpenreis und Öffelstäbchen mit Schnepsel.”

Das hörte sich doch ziemlich brauchbar an, dachte Lilið. Öffelstäbchen mit Schnepsel waren in Häfen ein Standardessen, weshalb Lilið sich zwischen einem der anderen Angebote zu entscheiden versuchte.

“Ich hätte gern die Öffelstäbchen ohne das Schnepsel.”, bestellte Marusch. “Hättet ihr so etwas wie eine Kräuterbrause dazu?”

“Zart-Rohnen-Brause haben wir.” Lenste wirkte grüblerisch. “Wirklich nur Öffelstäbchen? Vielleicht ein kleiner Salat dazu?”

“Einen Salat nehme ich gern.”, antwortete Marusch.

Lilið blickte Marusch überrascht an. Sie brauchte einen Moment, um eine andere Beobachtung, die sie gemacht, aber nicht entsprechend gewertet hatte, nun neu einzuordnen: Marusch hatte für ihren Proviant kein Fleisch gestohlen. Lilið hatte es weniger Überzeugung zugeordnet, sondern eher vermutet, dass es sich vielleicht einfach praktisch ergeben hätte.

Ob Marusch unangenehm wäre, wenn sie Fleisch äße? Sie wusste noch nicht, was es damit auf sich hätte, aber beschloss, vorsichtshalber eher zu viel Rücksicht zu nehmen als zu wenig, bis sie wüsste, wie Marusch zum Thema allgemein fühlte. “Ich hätte gern das Gleiche.”, bestellte sie also.

Vom benachbarten Tisch klang eine leise Stimme herüber, die sie vermutlich eigentlich nicht hätten hören sollen. “Banausen.” Als Lilið kurz den Kopf zu den drei Leuten umwandte, blickten diese gezielt irgendwo andershin.

Lilið überlegte, in Zukunft auswärts kein Fleisch mehr zu bestellen, einfach schon, weil sie diese Verachtung verabscheute. Sollte sie je wieder mit ihrer Familie auswärts speisen, würde sie auch mit Diskussionen rechnen, kam ihr kurz darauf in den Sinn. Ein Grund mehr, es zu tun, denn sie hatte Kraft, zu trotzen, und es würde vielleicht Leuten den Weg ebnen, einfacher zu entscheiden, wie sie entscheiden wollten.

“Auch Zart-Rohnen-Brause bei dir?”, versicherte sich Lenste.

Lilið nickte. Ein Getränk aus der Kategorie trank sie eigentlich immer, wenn sie auswärts etwas bestellte.

“Es kann ein wenig dauern.”, verabschiedete sich Lenste. “Chaos, wie gesagt.”

Bevor Marusch das Papier wieder einstecken konnte, berührte auch Lilið es mit der Hand. Sie sog die Beschaffenheit so rasch in sich auf, wie sie konnte. Sie erkannte nichts Besonderes daran. Aber vielleicht musste sie mehr als ein geeichtes Papier angefasst haben, um überhaupt eine Möglichkeit zu haben, die Eichung herausfühlen zu können.

Das Chaos wurde noch um einiges unangenehmer, als die Rettungscrew, die sie an Land geschleppt hatte, einkehrte, und sich aus vielen kleinen Tischen eine lange Tafel in der Mitte aufbaute. Erst dachte Lilið, sie würden sich unverschämt viel Platz verschaffen, was zu ihnen gepasst hätte, aber nur eine knappe Viertelstunde später kehrte eine zweite Rudergruppe ein, die sich dazugesellte. Lenste hatte viel damit zu tun, Getränke zu verteilen, und für die Uhrzeit waren dem Geruch nach bedenklich viele alkoholische dabei. Lilið verabscheute den Geruch, weil sie ihn damit verknüpfte, dass übergriffige Leute ihre Griffel noch weniger bei sich behielten als ohnehin schon. Die ganze Begebenheit erfüllte sie mit Unwohlsein. Hätte sie keine Rolle gespielt, hätte sie Marusch vermutlich gebeten, möglichst direkt nach dem Essen hier zu verschwinden.

Immer wieder hoben sich kurz einzelne Stimmen aus den lauten Unterhaltungen und der leisen Hintergrundmusik hervor. Anfangs waren es vor allem weitere Bestellungen. Eine Person, deren Stimme nicht so dominant klang, obwohl sie laut war, bestellte eine Zeitung. Eine Zeitung hätte Lilið auch interessant gefunden. Vielleicht könnte sie sie am Ende mitgehen lassen. Oder auch nicht, fiel ihr ein, weil sie hier nicht mehr als nötig auffallen sollten.

“Heutzutage hat ein Titel ja irgendwie keine Aussagekraft mehr!”, verschaffte sich eine andere Stimme Gehör. Vielleicht, Lilið war sich nicht sicher, gehörte sie zu der schmierigen Person, die das Rettungsboot gesteuert hatte. “Ich dachte, ich sehe nicht richtig, als da diese portuoger Batrosse, dieses Fünfmann-Schiff, wo ja in diesen Gewässern ein Nautika an Bord Vorschrift ist, direkt in den Engelsstrudel manövrieren wollte!”

“Nichts ist Vorschrift.”, korrigierte die Stimme mit der Zeitung halbwegs sachlich. “Es ist eine Empfehlung, und die Lords und Ladys schreiben ihren Schutzbefohlenen meistens vor, dass dieser nachzugehen wäre. Unabhängige Leute müssen das nicht.”

“Aber wer ist denn heute noch unabhängig?”, fragte eine weitere Stimme. “Also, mal abgesehen von diesem Monarchie-Pack da oben.”

“Könnt ihr mal diese Korinthenkackerei lassen?”, mischte sich die schmierige Stimme wieder ein. Inzwischen war sich Lilið sicher, die Steuerperson an der Stimme wiedererkannt zu haben. “Jedenfalls befindet sich der Engelsstrudel zwischen Portuoge und Espanoge seit ich ein kleines Kind bin. Ich bin ja selbst kein Nautika, aber sowas sollte doch einfach nicht passieren! Das müssen die doch drauf haben, oder hat ihnen das Stürmchen vorher solche Angst gemacht, dass sie nicht mehr klar denken konnten?”

Das Stürmchen hatte Lilið durchaus zu schaffen gemacht. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie diese Leute über sie lästern würden. Vielleicht hatten sie sozusagen Glück im Unglück und sie täten es nicht, weil Lilið und Marusch anwesend waren und sie sie erkannt hatten.

“Vielleicht haben sie sich auch gedacht, diesen Engelsstrudel besiegen wir mit links!”, brüllte eine weitere Stimme und lachte dann schallend. “Titel verleiten ja heutzutage auch zu, sagen wir, sehr riskanten Vorhaben. Und zu der Vorstellung, Naturgesetze galten für diese Titel-Fuzzis nicht.” Aus der immer noch vom Lachen bebenden Stimme glaubte Lilið, einen bösen Sarkasmus herauszuhören.

“Spielst du auf die Kronprinzessin an?”, fragte die sachlichere Stimme mit der Zeitung.

“Das hast du gut erkannt.”, antwortete die zuvor.

Mit einem Mal war es etwas ernster und ruhiger an der Tischkette. Lilið verstand das. Die Monarchie-Familie, die derzeit über Angelsoge, Nederoge, Espanoge und Frankeroge und alle kleineren Inseln, die mit ihnen vereinigt waren, herrschten, bot oft Stoff, um sich über sie lustig zu machen oder sich bitter zu beschweren, aber an sich war das Thema sehr ernst. Von den Entscheidungen der Monarchie-Familie hing die Zukunft des Reiches ab. Wie viel Freiräume wurde Schutzbefohlenen gewährt, welche Handelsvereinigungen wurden geschlossen, wie wurden sie gepflegt, wie sicher waren abhängig davon die Meere und vor allem, bekamen sie ihr Aushandeln, welche Familie gerade über was herrschte, ohne Krieg gebacken.

Eine Übergabe der Macht des aktuell herrschenden Königspaares an ihre Kinder stand bevor, vor der sich viele fürchteten, gerade weil das Thema Krieg dabei ständig auf den Tisch kam.

Eigentlich wollte niemand in dieser Inselvereinigung, dass die Königin abdankte. Oder vielleicht nicht niemand, aber an sich war sich das Volk recht einig, dass sie das kleinste Übel wäre. Leider hätte sie eigentlich bereits nicht mehr an der Macht sein sollen. Die vom Bundesorakel schon vor knapp zwei Jahrhunderten in Kraft gesetzte übergeordnete Regelung der Monoarchie-Vereinigung sah vor, dass Regierende ab einem Alter von 50 Jahren abzudanken hätten und die Macht an die nächste Generation übergeben werden sollte. Der König war 54 und hatte die Macht vor vier Jahren ohne Diskussionen oder komplexe Verhandlungen an seine Frau übergeben. Er hatte ohnehin nie in die stereotypen Vorstellungen eines Königs gepasst. Er war als Mann von hohem Adel eingeheiratet worden. Der entscheidende Grund – und das spielte in der Monarchie immer eine große Rolle – war sein hoher Skorem von knapp 200 gewesen, soweit Lilið sich erinnerte. Aber eigentlich hatte er in der Regierung nur gemacht, was seine Frau gewollt hatte, wovon das Land nicht unbedingt einen Nachteil gehabt hatte.

Die Königin war nun 52. Der Grund, weshalb sie noch regierte, war der, dass der Kronprinz bei seiner Krönungszeremonie nicht auffindbar gewesen war. Er war später auf einem Lustbalkon mit einer Frau bei einem Techtelmechtel erwischt worden, mit der er sich lieber beschäftigt hatte, als gekrönt zu werden. Er hatte der Presse zwar erzählt, dass es ihm leid täte, aber das kaufte ihm niemand ab. Lilið erinnerte sich an die albernen Bilder in der Presse des halb nackten Kronprinzen mit seiner Geliebten. Albern deshalb, weil der Kronprinz zwar keine Hose, sehr wohl aber den Krönungsschleier noch getragen hatte, den er bei allen öffentlichen Auftritten zu tragen hatte, bis er bei der Krönung enthüllt würde. Anscheinend war es durchaus im Rahmen für so einen zukünftigen Monarchen zuvor aber untenrum schon enthüllt aufzutreten.

Die Kronprinzessin war fünf Jahre älter als der Kronprinz und nur wegen dieses sexistischen Gesetzes nicht an seiner Stelle gekrönt worden, weil sie eine Frau war. Entgegen der Vorschriften lief sie allerdings seit dem Tag der gescheiterten Krönung enthüllt herum und betitelte sich als Königin. Sie hatte beschlossen, wenn der Kronprinz seine Krönung verpasst hatte, dann war sie dran. Niemand sah sie in der Rolle, also brachte ihr das wenig. Ihr Verhalten sorgte im Volk teils für Belustigung, unter denen, die sie nicht ernst nahmen und keine Herrschaft unter ihr als möglich annahmen, und teils für Bedenken, weil sie den Regeln nach durchaus eine Chance hätte, an die Macht zu kommen, und Leute das Chaos fürchteten.

“Ich kann mich echt nicht entscheiden, wer das schlimmere Übel ist.”, hörte Lilið die schmierige Steuerperson sagen, als sie aus ihren Gedanken zurückkehrte und wieder zuhörte.

Anscheinend hatte sie nicht viel verpasst. Wenn sie das halb noch Wahrgenommene richtig verstanden hatte, hatten sie gerade lediglich etwas abfälliger die Begebenheiten in der Monarchie-Familie dargelegt, als sie es getan hätte.

“Die Kornprinzessin, ganz klar!”, entschied der Zeitungsmensch.

Lilið blickte sich flüchtig um und stellte fest, dass die Zeitung ebenso wie das Essen noch nicht da war.

“Diesen Luftikuss willst du lieber?”, fragte eine helle Stimme, aus der ziemlich viel Verachtung sprach.

Lilið tippte auf eine Person, die Erfahrung damit gemacht hatte, in Beziehungen mies behandelt worden zu sein, oder mit Übergriffigkeiten im Allgemeinen. Ein solcher Hintergrund sorgte häufig für stärkere Meinungen bezüglich des Kronprinzen.

“Ist mir egal, was der Kronprinz in seinem Privatleben abzieht.”, murrte der Zeitungsmensch. “Also nicht egal, ich habe auch keinen Bock, über Pfeselrennen durch die Felder zu lesen. Für den verursachten Schaden müssen wir dann gerade stehen! Aber er hat einen Skorem von etwa 300. Die Gelehrten und Bundesorakel haben daher jetzt schon eruiert, dass ihm nicht nur die vier Großinseln, die unserer Monarchie bereits unterstehen, wieder vermacht werden, sondern auch noch sechs weitere. Es ist noch nicht ganz klar welche. Das heißt, egal wie beschissen wir durch ihn regiert werden würden, bedeutet es auf jeden Fall eine Handelsvereinigung, die uns viel Stabilität und Sicherheit gewährt.”

“Ich bin ja nicht so sicher, ob sich wirklich sechs Großinseln finden, deren Monarchie-Familien ihre Macht an uns abgeben werden.”, meldete sich die hellere Stimme von eben wieder. “Ich rechne da mit Krieg, ehrlich gesagt. Und darauf habe ich, genauso ehrlich gesagt, echt keinen Bock.”

“Wer hat schon Bock auf Krieg!”, mischte sich die schmierige Stimme wieder ein. “Aber Krieg kriegen wir mit der Kronprinzessin erst recht! Diese herrschsüchtige Frau hat öffentlich festgehalten, dass sie sich nicht den Regeln nach unterordnen will. Das werden sich die anderen Monarchien nicht gefallen lassen. Zurecht, wenn du mich fragst. Der mächtigeren und skorscheren Monarchie steht die Verwaltung eines Landes ja nicht ohne Grund zu. Und sie werden sich brutal einfordern, was die Frau versucht, sich da unter den Nagel zu reißen.”

“Ein bisschen verstehen kann ich das ja.”, sagte eine alte, brüchige Stimme, die Lilið bisher noch nicht gehört hat. “Sie fällt in der königlichen Familie mit einem Skorem von vielleicht 70 sehr aus der Reihe. Die Bundesorakel haben für sie festgelegt, dass sie gleich alle vier Inseln an verschiedene andere Vereinigungen vermachen muss. Und sich selbst einschließlich ihrer Geburtsinsel Angelsoge an König Sper von Belloge untergeben muss. Dem würde ich als Frau nicht direkt untergeordnet oder schutzbefohlen sein wollen.”

Die helle Stimme gab ein angewidertes Geräusch von sich. “Ja, total würde ich das nicht wollen!”, fügte sie hinzu.

“Aber wenn sie sich auflehnt, haben wir Krieg am Hals, hundert Pro!”, sagte eine laute Stimme, von der Lilið nicht wusste, ob sie sie schon einmal gehört hatte, weil verschiedene Leute laut begonnen hatten, sich zuzuprosten.

Als es wieder ruhiger wurde, hörte sie wieder die Stimme der Zeitungsperson sich räuspern, und auch ein Rascheln, das dafür sprach, dass sie ihre Zeitung erhalten hatte. Lilið blickte sich abermals kurz um und lächelte, nicht nur, weil sie recht hatte, sondern auch, weil Lenste die ersten Platten mit Essen verteilte.

“Ich verstehe die Kronprinzessin in dem Punkte sehr gut. Aber im Prinzip ist das Problem strategisch einfach in einer Art lösbar, sodass die Regierung hinterher genau so aussieht, wie das Orakel es vorsieht, aber sie als Person nicht König Sper untersteht.”, erklärte die nun halb hinter der Zeitung leicht abgeschirmte Stimme. “Sie müsste nur direkt nach der Krönung abdanken und die Regierung ganz an die vorgesehenen Parteien abgeben. König Sper kann auch ohne sie an seiner Seite regieren. Sie hätte mit ihren unsinnigen Ideen und ihrem schlechten Verständnis von Politik ohnehin keinen Einfluss auf seine Entscheidungen. Sie kann sich einen feinen Lebensabend machen.”

“Und das würdest du wollen?”, fragte die helle Stimme von eben. “Dass unsere Inseln einfach anderen Monarchie-Familien vermacht werden?”

Die Zeitungsperson gluckste und raschelte. “Nein, ich habe doch eben gesagt, was ich will.”, sagte sie. “Die Zukunft sieht unter dem Kronprinzen einfach rosiger aus, wie schlecht er auch seinem Titel Ehre machen mag.”

“Es ist ohnehin zu überlegen, ob wir eine Person mit einem Skorem deutlich unter 120 in der Regierung haben wollen. Wenn sie wenigstens strategische Fähigkeiten zum Ausgleich hätte.”, überlegte der schmierige Mensch. “Aber ihr Plan ist einfach: Ich bin jetzt Königin und ich regiere diese vier Inseln. Ich möchte, dass es dem Volk gut geht, aber entscheide in jedem Falle so, dass es defintiv einen Krieg auslöst, in dem ich dann sterbe, weil ich voll keine Verteidigungsfähigkeiten habe.”

Lilið erinnerte sich, dass die Monarchie-Familie zu einem großen Teil in Kriegen selber mitkämpfte und viel von ihrem Erfolg dabei von ihrem Skorem abhing, oder viel mehr von der Verteidigungs- und Angriffsmagie, die sie schon in jungen Jahren zu lernen begannen. Der Skorem sagte ja nur etwas über ihr Potenzial aus, darin gut zu sein. Lilið hatte sich damit nicht tiefgreifend auseinandergesetzt. Das Thema Krieg war ihr zuwider, so sehr, dass sie in der Schule nie über sich gebracht hatte, besonders aufzupassen, wenn das Thema war.

Aber so, wie diese Leute hier redeten, würde es in den nächsten Jahren einen Krieg geben. Das hatte sie auch schon zuvor aus manchen Gesprächen zwischen ihrem Vater und Besuchenden halbwegs rausgehört, aber noch eher als Möglichkeit in der Ferne wahrgenommen, nicht als wahrscheinlich für die nächsten Jahre. Es fühlte sich unwirklich an. Sie konnte es nicht richtig fassen, was das bedeutete. Vielleicht würde es helfen, später mit Marusch darüber zu reden. Marusch schien ein wenig Ahnung von Politik zu haben, und auch eine differenziertere Meinung als die Leute hier.

“Am besten wäre, wenn wir einfach noch ein paar Jährchen die Königin behalten könnten.”, sagte die alte, brüchige Stimme freundlich. “Vielleicht wird der Kronprinz in den nächsten Jahren ja doch noch erwachsen. Wenn sie es schafft, den Zeitraum zu überbrücken, können wir darauf hoffen, glimpflich davonzukommen.”

“König Sper vor allem, aber auch andere Monarchien bauen aber allmählich Druck auf die Königin auf.”, sagte der Zeitungsmensch. “Sie sagen, dass offiziell jetzt die Kronprinzessin gekrönt werden muss und die Verträge eingehen muss, und die erste Kriegsdrohung ist schon zwischen den Zeilen gefallen. Es steht bisher nur in den Kolummnen in den Zeitungen, aber es ist nur eine Frage der Zeit.”

“Aber es ist so ein Unfug!”, mokierte sich die helle Stimme. “Es ist doch richtig, dass die Regelung für Königliche, mit 50 abdanken zu müssen, sich darauf begründet, dass der Skorem mit dem Alter sinkt und ab einem Alter von 45 allmählich niedriger wird als der der Kinder.”

“Ja, vor allem.”, antwortete der Zeitungsmensch. Lilið hasste jetzt schon den Tonfall, mit dem er seine Bildung heraushängen ließ und auf die fragende Person stimmtechnisch herabblickte. “Im Prinzip ist es eine Anti-Kriegs-Regelung und wir sollten dankbar sein. Je älter die Herrschaften, desto schlechter können sie auch kämpfen. Deswegen wurde geregelt, dass sie abzudanken hätten, bevor es durch Krieg passiert. Von der Regel profitieren alle. Seither können auch Königliche alt werden und sind nicht einem Tod in einem Krieg geweiht.”

“Ich gönne es ihnen so sehr. Die haben ja sonst nichts.” Die Ironie aus der schmierigen Stimme war nicht zu überhören.

“Aber die Königin argumentiert doch, dass sie selbst mit 60 noch einen höheren Skorem haben wird als ihre Tochter!”, hielt die hohe Stimme fest. “Das sollte doch dieses Orakel-Gesetz mit dem Abdanken ad Absurdum führen!”

“Schön wäre es, meine Liebe, schön wäre es.” Der Tonfall des Zeitungsmenschen widerte Lilið nun noch mehr an. Am Anfang hatte sie sie vergleichbar angenehm empfunden, erinnerte sie sich. “Das würde stimmen, wenn eben nicht jüngere Königliche aus anderen Monarchien mit hohem Skorem einen Anspruch geltend machen wollten. König Sper zum Beispiel ist knapp vierzig und hat einen soliden Skorem von 180. Die Königin zögert durch günstigen Handel, dessen Auswirkungen wir allmählich zu spüren bekommen, eine Entscheidung hinaus, verspricht, dass es zu einer Krönung des Kronprinzen kommen wird und stellt ihn, so diplomatisch sie kann, irgendwie doch als positiven Charakter dar, der gewillt wäre, auch weiterhin günstige Handelsverträge einzugehen. Aber eigentlich klingt durch, dass sie kein Verständnis für ihn hat und die Welt wird ungeduldig.”

Die Person mit der Zeitung fuhr noch eine Weile fort zu lamentieren, aber inzwischen hob ein Geklapper mit Geschirr an, andere Stimmen wurden laut und bekundeten, ob ihnen das Essen mundete, und all das übertönte das Gespräch allmählich. Lilið war dankbar darum. Aber ihre Töffelstäbchen und der Salat wollten ihr nicht so recht munden. Obwohl ihr Proviant in den letzten Tagen nicht mehr sehr frisch gewesen war, hatte sie ihn besser genießen können, zu zweit mit Marusch auf einer einsamen Insel, als ihr Ritual, das sie immer entspannt taten, bevor Marusch sich ans Buch machte und Lilið an ihre Magie-Übungen.

Die Person mit der Schifferklave fing ihr Repertoir zum dritten Mal von vorn an. Lilið hätte im Normalfall nicht gestört, wenn eine Person Musik erst übte oder auch ein einzelnes Stück wiederholt spielte, aber gerade war ihr jeder Reiz zu viel.

Als sie gegessen und getrunken hatten, ergriff Lilið einfach die Initiative und stand auf. Marusch folgte ihr, als Lilið das Gepäck schulterte und auf diese Weise klar wurde, dass sie nicht bloß nur zu einer Toilette hätte gehen wollen. Sie bräuchte bald eine, aber ihr war gerade wichtiger, wegzukommen. Die Horde neben ihnen hatte ausgelassen zu grölen und zu feiern angefangen und stolperte dabei auch regelmäßig über die Terasse, um Plätze zu wechseln. Lilið drückte sich zwischen ihnen hindurch ins Freie und es passierte dabei nicht nur einmal, dass sich ihr ein Körper mehr näherte als nötig. Immerhin landete keine Hand auf ihrem Po oder so etwas.

Draußen vor der Terasse standen drei der Personen der Feierbande und bliesen Seifenblasen. Das war eine typische Beschäftigung von Leuten, die sich kurz aus einem Gelage ziehen wollten, um sich von den vielen Eindrücken zu erholen und sich abzukühlen. Diese Menschen hier wirkten auf Lilið aber eher wie Leute, deretwegen sie Entspannung bräuchte, nicht wie welche, die selbst welche bräuchten.

“Seid ihr nicht die zwei Hübschen mit dem Sturmschaden, die wir geangelt haben?” An der nun besonders schmierigen Stimme erkannte sie schon wieder die Steuerperson wieder.

“Das war alles ziemlich anstrengend. Lässt du uns bitte durch?”, fragte Lilið auf eine unmissverständliche Weise, die keinen Spielraum zuließ.

Die Steuerperson kümmerte das nicht. Sie näherte sich Marusch, die neben Lilið stand, und streckte eine Hand nach ihrem Gesicht aus.

Lilið war auf einmal völlig egal, welches Risiko sie dabei eingehen könnte. Sie drängte sich zwischen Marusch und die Steuerperson, hielt ihr Gepäck vor sich in einer Hand und drückte mit der anderen gegen die Brust der Person. “Finger weg!” Sie schrie nicht, bedrohlich klang sie vielleicht trotzdem.

“Lass mich, ich darf das! Ich bin betrunken!”, säuselte die Steuerperson, aber dankenswerter Weise bot sie Liliðs Hand nur für einen kurzen Moment Widerstand. Dann machte sie tatsächlich Platz.

Lilið schritt mit überzeugtem, stabilem Gang, den sie sich, müde und erschöpft wie sie war, eigentlich kaum zutraute, durch die entstandene Lücke und sah sich dabei lediglich um, um zu kontrollieren, dass Marusch ihr auf den Fersen war. Sie spazierten ein Stück in die Nacht hinein. Lilið hatte keine Ahnung, wo sie hinmussten, aber Hauptsache erst einmal weg von diesen Leuten. Irgendwann ging sie etwas langsamer, damit Marusch neben sie treten konnte.

Lilið hatte bewusst einen möglichst hellen Weg gewählt. Sie gingen direkt an den Anlegestegen für die Schiffe entlang, wo die Fallen träge im nur schwachen Wind gegen die Masten baumelten. Es sirrte nichts. Und die Öwenen waren auch schon müde. Eine ruhte auf einer Laterne, den grauen Schwanz um selbige geschlungen, um sich dort zum Schlafen festzuhalten.

Als Lilið in Maruschs Gesicht blickte, erschreckte sie sich fast. Es wirkte leer, kein kleines Schmunzeln mehr, nicht einmal ein Stirnrunzeln. Es war gefühllos oder aber voller Hass. “Kann ich dir helfen?”, fragte Lilið.

Marusch blickte sie an, aber der Ausdruck änderte sich nicht. “Lenk mich ab!”, sagte sie. “Ich hasse alles. Am liebsten würde ich diese Welt in Schutt und Asche zerlegen. Lenk mich bitte ab, damit ich nicht einen kläglichen Versuch hinlege, es zu tun.”

Einen kurzen Moment loderten auf dem Boden um Maruschs Füße herum kleine, blaue Flämmchen auf. Ein bisschen wie ein sengendes Meer.

“Kannst du Wasser anzünden?”, fragte Lilið. Sie versuchte es mit Belustigung. Vielleicht lenkte Albernheit ja ab. “Eine ganz schöne Verantwortung, die du mir persönlich zumutest, aufzupassen, dass du nicht mal eben die Welt abfackelst.”

Maruschs einer Mundwinkel zuckte, aber nicht auf eine Weise, die Lilið entspannt hätte. “Du wärest nicht verantwortlich.”, flüsterte Marusch.

War das die Wut, von der Marusch im Brief geschrieben hatte? “Hast du einen Lieblingsweg, wie ich dich ablenken kann?” Der Schalk hatte Lilið verlassen.

“Magst du mich küssen?”, fragte Marusch. “Aber wirklich nur, wenn du magst. Es ist eigentlich nicht okay, dass ich dich das frage, nachdem ich dir quasi befohlen habe, mich abzulenken.”

“Streich das ‘quasi’.”, sagte Lilið. “Aber ich mag. Ich frage mich nur, ob das unsere Situation komplizierter machen könnte, wenn das Nautika die Wache küsst, und wir beide vermutlich weiblich gelesen werden.”

“Egal.”, sagte Marusch. “Das würde ich geklärt bekommen.”

Lilið nickte, tat den Schritt an Marusch heran, der sie trennte, stellte das Gepäck dicht neben sie ab, sodass sie es mit den Beinen noch fühlte, und küsste Marusch. Es war ein seltsamer Kuss. Marusch wirkte am Anfang trotz der Aufforderung nicht einverstanden damit. Und dadurch, dass die romantischen Gefühle gerade fehlten, fühlte es sich für Lilið irgendwie an, wie eine Schnecke zu küssen. Was sie nicht schlimm empfunden hätte, aber eben auch höchstens für Experimente gemacht hätte. Ihr Harndrang fiel ihr dabei unangenehm auf, aber es wäre wohl noch eine Weile aushaltbar.

Irgendwann beruhigte sich Marusch trotz der fehlenden Gefühle in Liliðs Armen. Sie atmete ruhiger dabei, bis sie erschlafft gegen Lilið sackte und sie mit dem Küssen aufhörten. “Es tut mir leid.”, flüsterte Marusch.

“Das braucht es nicht. Mir gegenüber jedenfalls nicht.”, versicherte Lilið.

Sie verstand, dass die Situation zuvor sehr stressig gewesen war. Vielleicht war es für Marusch das erste Mal, dass sie so viel Übergriffigkeit erlebt hatte. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatten sie Marusch, als sie sich durch die Körper gequetscht hatten, noch mehr belästigt als Lilið. Aber Lilið musste es nicht genau wissen. Wichtig war, dass sie am besten bald ein Zimmer zum Schlafen fanden, wo sie vorerst sicher wären, fand Lilið. Aber es schien für eine Weile noch nicht daran zu denken zu sein, mit Marusch irgendwodrüber zielführend zu reden.