Einschleichen

CN: Sanism, Ableism, häufige Verwendung des Wortes dumm, Erregung, Selbsthass, Schlafmangel.

Kaum hatte sie sich hingelegt, beschloss Lilið doch, auf den Schlaf zu verzichten. Und zwar weil sie realisierte, dass Drudes Aufgabe war, sie zu beobachten, aber auch dey irgendwann schlafen musste, dies also vermutlich in den gleichen Zeitfenstern täte wie Lilið. Sie schlüpfte möglichst leise aus dem Bett, stopfte stattdessen ihre wieder gewaschene, gerade so getrocknete Kleidung von zuvor unter die Decke, damit es vielleicht im Dunkel nicht so sehr auffiele, dass ihr Körper fehlte, und schlich sich aus dem Schlafraum. Sie überlegte, ob eine Faltung ihr gerade helfen würde, falls sie erwischt würde. Aber sie war nicht sicher, wie gut Drude Magie spürte, also ob demm das nicht aus dem Schlaf holen würde.

Lilið schlich zunächst in den Gang, in dem Drude sie das erste Mal aufgehalten hatte. Nichts passierte. Sie war sich trotzdem nicht sicher, ob Drude ihr nicht doch folgte. Drude war schon sehr gekonnt unauffällig und vorausschauend. Lilið wurde dieses Mal nicht aufgehalten, aber Drude könnte ihr natürlich jetzt auch folgen wollen und schauen, was sie mit der Prinzessin bespräche, würde sie sie finden.

Immerhin war Liliðs Plan erst einmal nur, die Prinzessin zu finden und ein bisschen kennen zu lernen. Sie hatte ja noch gar keinen funktionierenden Fluchtplan. Der würde sich erst ergeben müssen. Aber bis dahin wäre hilfreich, mehr darüber zu wissen, wie die Prinzessin gefangen war und ihren Charakter ein wenig zu kennen, um ihn mit einzuplanen. Lilið plante also derzeit nichts, was Drude mehr verraten könnte, als dey schon wusste.

Sie war auf der Kriegskaterane der königlichen Garde selbst kurzzeitig in einer Zelle gewesen, aber konnte von diesem Wissen nicht ableiten, wo hier eine sein könnte. Durch den Speisesaal ging es jedenfalls nicht. Leute wurden eher unten gefangen gehalten, da war Lilið sich recht sicher. Die Kagutte war nicht gerade klein, aber trotzdem stellte es sich dann doch nicht als allzu schwierig heraus, einen Weg nach unten zu finden. Vorbei an der Kombüse, an einigen geschlossenen Räumen, eine schmale Holztreppe hinab, auf der Lilið froh war, dass ihr niemand begegnete. Die Treppe bog am Fuße mit einigen asymmetrischen Stufen um in einen Gang, der vielleicht um die Hälfte breiter als die Treppe war. An derem Ende saß eine Wache auf einem Hocker an die Wand gelehnt und döste. War es ein ausreichend dösiger Zustand, dass sie Lilið nicht bemerkt hatte? Immerhin war Lilið barfuß und sehr leise gewesen. Aber es war immer noch eine Wache, deren Aufgabe es war, ihrem Beruf entsprechend wachsam zu sein.

Lilið hatte sich zunächst wieder einen Schritt die Treppe hinauf begeben, wo sie von der Wache aus nicht zu sehen wäre. Sollte sie sich nun doch falten? In eine Schiffsratte vielleicht? Aber Lilið würde in der Form keine für Ratten typischen flinken Bewegungen vollbringen können. Und ein Igel an Bord wäre schon auffällig. Eine andere Person aus der Besatzung nachzuahmen kam auch nicht in Frage. Sie konnte sich ja die Gesichter nicht merken. Sie hätte allerhöchstens eine Chance gehabt, Drude zu sein, und auch das eher nicht genügend überzeugend.

Sie sollte auch daran denken, was das Ziel wäre, außer näher heran oder zur Prinzessin zu gelangen. Denn selbst, wenn sie es schaffen sollte, eine überzeugende Ratte abzugeben, wäre doch auffällig, wenn sie in die Zelle eindränge und sich als Ratte mit der Prinzessin unterhielte. Sie war eigentlich auch immer noch nicht ganz sicher, ob es überhaupt die Zelle der Prinzessin war. Das wäre die Erkenntnis, die ihr das bringen könnte, aber sie überlegte, dass sie das vielleicht auch einfacherer und auf sichererem Wege herausfinden könnte. Irgendwann würde zum Beispiel Wachwechsel sein und in ihrer Vorstellung machten Wachen dann meist einen kleinen, belanglosen Klönschnack, bei dem das Offensichtliche ausgesprochen werden könnte. So etwas wie: ‘Für besondere Unterhaltung sorgt die Prinzessin ja nicht, die könnte sich mal mehr anstrengen, damit meine Schicht nicht so langweilig ist.’ Irgendein Unsinn dieser Art vielleicht.

Für einen Wachwechsel müsste nur eine Person diese Treppe herunterkommen. Oder Wachen schliefen in dem Raum hinter der zweiten Tür, die sie gesehen hatte, als sie um die Ecke gelinst hatte. Es war nur eine der beiden Türen, die am Ende des Flurs, bewacht gewesen. Die andere Tür hatte sich in der der Treppe gegenüberliegenden Wand befunden.

Lilið sollte nicht auf Dauer hier auf der Treppe stehen bleiben. Zumindest nicht ungefaltet. Und wenn sie sich schon faltete, dann eher in etwas, was die bewachte Tür beobachten konnte. Eine Form, die sie lange halten konnte, aber die nicht so sehr weh tat wie ein Würfel. Und die nicht dazu anregte, fortgejagt zu werden, wie eine Ratte. Ein Gegenstand, der nicht auffiele. Vielleicht, weil er schon da war.

Lilið besah sich die Wand am Ende des Flurs. An ihrem Ende des Flurs, den sie von der Treppe aus im schwachen Licht einer gedimmten Lampe einsehen konnte. Am anderen Ende war die bewachte Tür. Sie betrachtete die Wand so lange, bis sie den Eindruck hatte, sie optisch gut genug nachbilden zu können. Anschließend legte sie ihre Hand auf die mit ihr verbundene Wand am Niedergang. Holzfasern hatten immerhin Ähnlichkeiten mit Papier, aber so eine große Fläche ergab sich für sie nicht so leicht. Trotzdem versuchte sie sie, so gut es ging, zu verstehen. Dann linste sie ein zweites Mal auf den Flur. Die Wache döste genau so, wie sie sie vorhin gesehen hatte. Also schlich Lilið die Treppe ganz hinab, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, die sie doppeln wollte, und faltete sich entsprechend.

Die Wache zuckte. Lilið wurde für einen Moment sehr heiß und Schweiß rann an irgendwelchen nach innen gefalteten Stellen ihrer Haut hinab, klebte dort. Aber die Wache hatte nur gezuckt, vielleicht im Schlaf. Sie blickte nicht einmal auf.

Lilið verstand das gut. Sie fühlte sich auch endlos müde. Sie hatte ohnehin schon zu wenig Schlaf für ihr Wohlbefinden und nun verzichtete sie noch auf weiteren. Als Wand sollte sie besser nicht schlafen. Sie musste bei der Vorstellung innerlich grinsen, dass sich dabei aus Versehen ein Ohr von ihr oder so entfalteten könnte. Sie hatte eines passend nach außen gefaltet, sodass ein Astloch ihren Gehörgang bildete, um dieses Mal nicht abgedumpft zu hören. Sie grinste innerlich noch etwas mehr, weil sie sich vorstellte, wenn ihr ein solcher Entfaltungsunfall passierte, dann der Spruch ‘die Wand hat Ohren’ nicht mehr nur eine Redewendung wäre.

Jedenfalls konnte sie durch das Astloch gut hören und durch ein anderes, gefülltes, durchaus brauchbar sehen. Atmung funtkionierte auch, aber fühlte sich trotzdem immer noch ungewohnt an. Das war ein Zustand, den sie zwei bis drei Stunden durchhalten könnte, und sie hoffte, dabei einen Wachwechsel mitzubekommen, und dann auch noch unbemerkt verschwinden zu können.

Die Zelle war eigentlich ein umfunktioniertes Zimmer. Sie hatte eine normale Tür, in die lediglich oben ein kleines Loch hinein gesägt worden war. Das half nicht dabei, durch Stäbe zu beobachten, ob dahinter vielleicht eine Person schliefe, die den Eindruck einer Prinzessin machen könnte. Ihr jedenfalls nicht, dazu hätte sie viel dichter an die Tür herankommen gemusst.

Ihr Blick fiel als nächstes auf einen Plan unter der Lampe an der Wand neben der Zelle. Er war zu weit weg, um alles darauf zu lesen, aber sie konnte klar ausmachen, dass es sich um eine Tabelle handelte. Die Uhrzeiten konnte Lilið von der Rückwand aus erkennen, die sie war, weil sie eine Ahnung hatte, was dort stehen könnte, ihr Gehirn also erwartete Bilder mit dem abgleichen konnte, was sie erkennen konnte. In der Spalte neben den Uhrzeiten waren Dinge in verschiedenen Handschriften geschrieben. Namen wahrscheinlich. Ein Wachplan, schloss Lilið. Ob sie sich einfach dreist bei Gelegenheit in eine der freien Zeilen eintragen sollte? War es hier genau so wie überall sonst auf der Welt mit Eintragungen in Plänen, dass sich Leute zwar vielleicht wunderten, wie sie aufgebaut waren oder wer nun plötzlich auch darin stand, aber sie einfach als gegeben hinnahmen?

Sie erkannte an den Wiederholungen verschiedener Schriften, wann diese dösige Wache dran war. Jede Nacht, stellte sie fest. Das war gut. Und sie konnte erkennen, dass genau zu dem Zeitpunkt Wachwechsel wäre, zu dem Ott sie zu wecken versuchen würde. Das war nicht so gut. Aber vielleicht war das Problem einfach lösbar. Wenn Ott sie wecken wollen würde, könnte sie sich damit herausreden, einem körperlichen Bedürfnis nachgegangen zu sein. Allerdings wäre ihre Kleidung unter ihrer Decke schon sehr auffällig. Das Manöver hätte sie lassen sollen. Aber es war vielleicht trotzdem gut, dass sie es getan hatte, weil sie sonst wirklich das Risiko eingegangen wäre, den Wachwechsel abzuwarten. Mit einer neuen Wache, die mehr im Wachzustand wäre, hätte sie schlechte Chancen gehabt, sich heimlich davonzustehlen.

Ob sie jetzt schon gehen sollte? Aber Lilið beschloss, erst eine gute halbe Stunde vor Wachwechsel zu gehen und so lange einfach zu beobachten. Vielleicht kam irgendwann jemand vorbei. Vielleicht konnte sie das Dösverhalten der Wache studieren. Und vielleicht hätte die Prinzessin auch irgendwann ein körperliches Bedürfnis und es wäre Aufgabe der Wache, sich darum zu kümmern. Da es keine Luke in der Tür gab, musste sie für das Entfernen von Notdurft und das Bereitstellen von Nahrung geöffnet werden.

Aber stattdessen passierte lange Zeit nichts, und dann etwas, womit Lilið nie im Leben gerechnet hätte. Nach dem Stundenglas, das auf der anderen Seite an der Wand hing, war gerade die Zeit gekommen, zu der sie sich entschließen wollte, zu gehen, als die Wache sich aufrichtete und müde zur anderen Tür schlurfte, hinter der Lilið einen Schlafraum für Wachen für möglich gehalten hatte. Sie blickte sich noch einmal zu allen Richtungen um, als würde sie etwas Heimliches tun wollen, dann öffnete sie die Tür leise. “Deine Zeit ist gekommen!”, hörte Lilið die Wache flüstern. Die Stimme klang spielerisch dramatisch.

Hinter der Tür hörte Lilið Geräusche, die so klangen, als würde eine Person Dinge umstellen, dann trat die Prinzessin aus der Tür. Sie trug ein langes, blaues Kleid (zumindest wirkte der Rock wie zu einem Kleid gehörend), darüber einen Wollpullover mit hochgekrempelten Ärmeln. Das Kleid wirkte einigermaßen edel, der Wollpullover eher leger. “Ich ergebe mich meinem Schicksal.”, antwortete sie mit einem Grinsen und schloss die Tür hinter sich.

Auch die Wache grinste, als sie die Zellentür mit Schlüsseln, die sie halb erfolgreich am Klappern zu hindern versuchte, aufschloss, die Prinzessin einließ und hinter ihr wieder abschloss. Es brauchte nicht lange, bis die Szenerie wieder so aussah, wie Lilið sie vorgefunden hatte. Die Wache döste vor der Tür.

Das war interessant. Lilið hatte im Moment nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste verschwinden, und zwar zügig. Sie glitt also aus ihrer Faltung und schlich die Treppen hinauf, die Gänge entlang, zurück ins Bett. Zweimal musste sie sich auf dem Weg dieses Mal schnell in eine Nische schieben, weil inzwischen mehr Leben in die Crew gekommen war.

Sie versuchte, ihren nächtlichen Ausflug nicht zu bereuen, als Matrose Ott sie aus einer Tiefschlafphase hochholte, in die sie in ihrer übrigen Viertelstunde geschafft hatte, hineinzugleiten.


“Du hast Recht.”, begrüßte Drude sie. Dey saß neben der Abe auf dem Kartentisch in einer Haltung, die anatomisch etwas inkorrekt wirkte, aber bei demm gemütlich aussah. Der eines Knie lehnte dabei gegen dere eingesunkene Schulter. Die Hand hielt das Navigationsbüchlein, das Lilið hier gestern zurückgelassen hatte, aufgeschlagen direkt neben derem Fuß.

“Immer.”, wagte Lilið zu sagen.

Kontrollierte Drude ihren Kurs? Wenn, dann sollte dey zumindest bis jetzt nichts Auffälliges finden.

Drude blickte auf und lächelte für einen flüchtigen Augenblick. “Mit den verschiedenen Dimensionen von Dummheit.”, erklärte dey. “Und damit, dass ich selbst doch auf mindestens eine Art dumm bin.”

Lilið ließ das so stehen. Sie hielt Drude die Hand hin, damit dey ihr das Buch geben könnte, um ihre frisch gemessenen Daten einzutragen. Und dann fügte sie doch hinzu: “Ich bin mir sicher, dass du da recht hast, weil es auf fast alle Menschen zutreffen wird, aber die Wortwahl mag ich trotzdem nicht.”

“Kannst du mir eine Alternative nennen?” Drude reichte ihr das Buch.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, aber das Licht fühlte sich bereits unangenehm schneidend in Liliðs Augen an. Sie merkte, dass sie alles intensiver wahrnahm als sonst. Sie musste dringend mehr schlafen, aber auf der anderen Seite wusste sie, dass sie in der kommenden Nacht wieder ihre zweiten drei Stunden Schlaf für einen Besuch bei der Prinzessin opfern würde. Dieses Mal würde sie in den zweiten Raum hineingehen und herausfinden, was es damit auf sich hatte.

“Ich denke darüber nach.”, antwortete Lilið auf Drudes Frage. Eigentlich fühlte sie sich zu ausgelaugt für dieses Gespräch, aber vielleicht brachte es etwas. “Auf der anderen Seite, glaube ich, wird das Wort ‘dumm’ vor allem benutzt, um Menschen zu beschreiben, die in unserer Gesellschaft viel schlechter dran sind als wir zwei. Ich kenne es auch, dass ich in den Kategorien Skorem oder Intelligenz für weniger gut abschneidend gehalten werde, als ich bin. Das ist unangenehm und hat Nachteile für mich. Aber die Leute, die nicht nur dafür abgewertet werden, sondern auf die auch zutrifft, dass sie zum Beispiel einen niedrigen Skorem haben, haben es in dieser Welt viel schwerer als ich. Ich denke nicht, dass es mir zusteht, zu entscheiden, mit welchen Wörtern sich jene Menschen beschreiben sollten. Vor allem nicht, wenn jene Wörter fast ausschließlich dazu verwendet werden, persönlich abzuwerten, also, den Menschen an sich einen geringeren Wert zuzuschreiben.”

“Ich möchte Menschen keinen geringeren Wert zuschreiben.” Drudes Körperhaltung ließ noch mehr an Spannkraft nach. Dere Finger fädelten sich zwischen dere Zehen. Das schwarze glatte Haar fiel demm vors Gesicht. “Aber ich glaube, ich tue es aus Versehen doch. Zumindest mir.”

“Ich muss den Kurs prüfen und die Karte auf den neuen Stand bringen.” Lilið versuchte, sanft zu sprechen. Etwas schien in Drude vorzugehen, was demm belastete. “Ich brauche nicht lange. Dann bin ich da für dich, so gut ich kann.”

“Das ist nett, aber du solltest dich nicht um meine Probleme kümmern müssen. Mach deine Aufgaben und dann reden wir.”, sagte Drude. “Über Politisches.”

Lilið schmunzelte. “Meine zwei Tage sind fast rum. Ist das sozusagen unser Abschlussgespräch, bevor du entscheidest, ob du mich ans Messer lieferst?” Lilið fühlte für einen kurzen Augenblick die Erregung wieder aufflammen und kämpfte sie wütend darauf, dass das passierte, nieder. Nicht jetzt! Doch nicht, wenn die Gefahr real im Raum stand!

“Ich möchte dich nicht ans Messer liefern.”, antwortete Drude. “Vielleicht tue ich es trotzdem irgendwann, aber erstmal habe ich mir einen für mich zwar risikoreichen, – aber dies im aushaltbaren Maße –, dritten Weg ausgedacht, mit dem ich dir vielleicht noch ein paar Tage geben kann, selbst wenn wir uns nach diesem Gespräch noch nicht einig sind.”

Obwohl Lilið wegen ihres noch sehr gedämpften Emotionsapparats kaum Angst wahrgenommen hatte, fühlte sie jetzt durchaus Erleichterung. Waren das Tränen in ihren Augen? Sollte sie sich bedanken? Lilið atmete bewusst aus, fühlte den Windhauch des eigenen Atems und konzentrierte sich aufs Navigieren.

Drude sah wieder sehr aufmerksam zu. Dieses Mal machte Lilið absichtlich einen zögerlichen, nachdenklichen Eindruck, als sie fertig war, um herauszufinden, ob sie an Drudes Reaktionen ablesen könnte, ob dey es bemerken würde. Aber Drude veränderte dere Haltung überhaupt nicht. Also ließ dey sich entweder nichts anmerken, oder verstand nicht genug von dem, was Lilið tat.

Lilið ließ das Kartensteichen los, schaute noch einmal ins Buch und legte es anschließend ab. “Fertig.”

“Ich kann nicht mit Zahlen umgehen.”, teilte Drude mit. “Gar nicht. Ich kann all diese Dinge wie logisch Denken, Zusammenhänge erschließen, und habe, wie du, einen ziemlich hohen Skorem. Aber Zahlen, Zahlen fallen bei mir aus dem Bild, sodass sich Leute immer wieder wundern und dann völlig von oben herab irgendwelche Sprüche gegen mich fallen lassen. Oder sie kaufen es mir gar nicht erst ab. Und ich habe dadurch einen Hass auf Zahlen entwickelt.”

“Guckst du dann gar nicht richtig hin, wenn ich welche notiere?”, fragte Lilið.

“Doch.”, antwortete Drude. “Und ich habe mich dabei mindestens viermal so gefühlt, als würde ich implodieren. Aber das tut hier jetzt nichts zu Sache.”

Lilið nickte. “In Ordnung.”, sagte sie. Ein Runzeln huschte über ihre Stirn, als sie sich an ihr Gespräch mit Drude am Vortag erinnerte. Drude hatte mit Wahrscheinlichkeiten gerechnet, um abzuschätzen, ob eine unterschiedlich lange Lebensspanne unterschiedlich schnelles Lernverhalten ausgliche. Lilið erinnerte sich daran, dass Drude die Zahlen besonders großzügig aufgerundet hatte, aber hieß das nicht, dass dey doch ein klein wenig mit Zahlen umgehen könnte? Egal, Lilið hatte das nicht zu beurteilen und darum ging es auch nicht. “Was tut etwas zur Sache?”

“Dass ich mich dafür hasse.”, antwortete Drude.

Lilið runzelte die Stirn. “Ist Wut auf sich und Hass auf sich so ein großer Unterschied?”

“Ja!”, betonte Drude. “Wut ist eher über die Sache, dass etwas nicht funktioniert. Hass bedeutet, dass ich mich persönlich weniger mag, weniger wertschätze, weil ich eine Sache gehirntechnisch nicht hinkriege.”

“Achso, es geht darum, dass du doch in dem Zusammenhang persönlich abwertest. Und dir ist es zuvor nicht aufgefallen, weil du nur dich selbst abgewertet hast, aber andere nicht?”, fragte Lilið. Sie kam sich unbarmherzig vor.

Drude nickte. “Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht auch andere aus Versehen doch abgewertet habe, aber mich auf jeden Fall.”, sagte dey. “Ich finde diesen Defizit an mir schlimm, es fühlt sich für mich an, als wäre ich kaputt und würde deswegen weniger verdienen.”

“Der Unterschied zwischen Wut auf sich und Selbsthass, den du erklärt hast, ergibt für mich erstaunlich viel Sinn.”, fügte Lilið murmelnd hinzu. Wahrscheinlich tat es auch nichts zur Sache.

“Natürlich ergibt das Sinn!”, erwiderte Drude. “Alles, was ich sage, ergibt Sinn!”

Lilið sah gerade rechtzeitig auf, um ein Lächeln über Drudes Gesicht huschen zu sehen. “Bedeutet deine Mimik, dass du es nicht ganz ernst meinst?”

“Hast du doch vorhin mit deinem ‘immer’ auch nicht, oder?”, fragte Drude.

Lilið nickte. “Bei dir ist es, glaube ich, schwerer zu lesen.”

Drude lachte wieder eins der lautlosen Lachen. “Ich kann es bei anderen auch nicht lesen, sondern muss es aus dem Kontext raten.”, sagte dey. “Also weiß ich auch nicht, was ich tun muss, damit es bei mir lesbar wird. Manchmal denke ich, ich sollte das ganz lassen. Also, witzig sein. Meine Witze versteht eh niemand.”

Lilið blickte aus dem Fenster, – und sofort wieder weg. Sie wollte in die Ferne blicken, aber draußen war es zu grell. Sie war viel zu müde. Zu allem Überdruss musste sie auch noch gähnen. “Ich würde dich fragen, ob du dich auch dafür hasst. Aber tut das was zur Sache?”

Drude nickte und ließ den Kopf hängen. “Ich hasse mich auch dafür.”, sagte dey. “Und ich vermute darin den Hauptgrund, warum Leute mich für dumm halten, wenn sie mir begegnen. Warum fällst du darauf nicht rein?”

“Wegen der Skala-Sache.”, antwortete Lilið. “Es macht halt keine Aussage über den Rest deines Könnens, dass du eine schwer lesbare Mimik hast und kommunizieren mit dir auf manchen Ebenen nicht ganz leicht ist. Obwohl mich deine Arroganz mehr stört, als dass ich für deinen Humor noch Zeit brauchen werde, bis ich ihn raushaben werde.”

“Oh, ich bin arrogant?”, fragte Drude.

“Manchmal definitiv.”, sagte Lilið trocken, und hoffte, dass es Drude nicht allzu sehr treffen würde. Besser, sie fügte es hinzu: “Es tut mir leid.”

“Ich finde eigentlich gut, wenn Menschen nicht durch Blumen reden. Du hast das sachlich gesagt.”, antwortete Drude. “Nun muss ich nur noch herausfinden, wann etwas arrogant ist, was ich sage.” Wieder huschte ein Lächeln über der Gesicht. “Nur noch.”

Lilið grinste mit. “Ich sage es dir beim nächsten Mal.”, versprach sie. “Wollen wir zurück zur Sache kommen?”

Drude strich sich mehrere Strähnen hinter das Ohr. Die helle Haut bildete einen starken Kontrast zum schwarzen Haar. “Was würdest du dazu denken, wenn ich Nautika werden wollte?”

“Willst du?”, fragte Lilið. Irgendetwas in ihr fühlte sich bei dem Gedanken warm an, als wären sie noch ein wenig verbündeter. Oder würde sich warm anfühlen, wenn Drude bestätigen würde.

“Das tut wieder nichts zur Sache und ist seit heute Nacht eine extrem schwierige Frage.”, sagte Drude energisch. War das Aggressivität? “Ich hatte früher einfach akzeptiert, dass es mit meiner Einschränkung nie gehen wird. Und dass ich deshalb in dem Beruf nichts verloren habe. Aber wenn ich dir zusehe,” Drudes Finger fühlten über den Rand der Karte und dere Stimme verlor an Kraft, “dann machen mich immer noch die Zahlen aggressiv, aber die Geometrie ist so wunder-, wunderschön!”

Lilið konnte nicht anders, als breit zu lächeln. Sie schob den Zirkel etwas zurecht. “Ich frage mich, ob Navigation auch ohne Zahlen geht.”

“Ohne Zahlen?” Drude wirkte mehr als skeptisch.

Aber Lilið ließ sich nicht beirren. “Mit den Zahlen werden vor allem Größenordnungen umgerechnet, glaube ich.”, sagte sie. “Moment, für mich ist das so sehr Routine, dass ich gerade erst rausfinden muss, wo überall Zahlen drinstecken. Aber so etwas wie der halbe Winkel von etwas ist definitiv geometrisch konstruierbar.”

“Lilið, ich habe Schwierigkeiten sechs minus zwei zu rechnen.” Dieses Mal war Drudes Tonfall eindeutig aggressiv. “Ich bekomme dabei zum Beispiel oft sechs raus, wenn ich nur ein bisschen abgelenkt bin, weil ich vergesse, die zwei auch wirklich davon abzuziehen. Einen Winkel zu halbieren, heißt, dass ich etwas durch zwei teile, auch, wenn es keine Zahl ist, die ich teile. Das mag noch gehen, aber bei drei könnte es vielleicht schon schwierig werden.”

“Oh.”, machte Lilið. Sie korrigierte rasch ihr Bild von Drudes Schwierigkeiten in ihrem Kopf. Seltsamerweise fügte sich die Erinnerung an gestern nun besser hinein. “Es tut mir leid, ich hätte nicht einfach eine Idee davon haben sollen, was du mit Schwierigkeiten mit Zahlen meinst.” Nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: “Darf ich trotzdem noch so eine Art Vorschlag loswerden?”

“Ja, dazu reden wir.” Entegegen dem, was dey sagte, wirkte Drude aber trotzdem nicht, als wäre dey sonderlich auf eine Antwort erpicht.

“Es müsste also eine Person neben dir stehen, die den Rechnenpart übernimmt.”, sagte Lilið. “Wenn ich dich richtig verstehe, aber korrigier mich gern, ist das auch gar nicht der Teil am Navigieren, der dich reizt. Und Rechnen können viele Leute gut, die wiederum mit Geometrie und Trigonometrie harte Schwierigkeiten haben. Du könntest also mit einer anderen Person zusammen ein Nautika bilden.”

Drude lachte wieder. Es wirkte noch hohler als sonst. “Als ob irgendwer freiwillig zwei Personen anheuern würde, wenn es auch geht, nur ein Maul zu stopfen und nur eine Koje zu bieten für die gleichen Dienste.”

Lilið brummte zustimmend. “In einer nur leicht idealeren Welt hättest du mit einer geeigneten zweiten Person echte Chancen.”, sagte sie. “Es existiert so ein Mangel an guten Nautikae. Ich meine, mir kaufen Leute ab, das Nautika der königlichen Garde zu sein. Das einzige, was dir, oder dann euch, im Wege stünde, wäre diese Abneigung von Leuten, etwas zu tun, was völlig aus der Reihe tanzt. Oder die Abwertung, über die wir die ganze Zeit reden. Wer würde ein Nautika einstellen, das nicht rechnen kann, selbst wenn es dafür einen Ausgleich gibt? Das ist gegen die sozialen Regeln, und diese Regeln sind nicht logisch und kacke.”

“Es ist nicht das einzige Problem!”, widersprach Drude. “Ich müsste auch eine Person finden, die mit mir genügend klarkäme, und das schon, bevor ich Grundkenntnisse hätte, also, eine Person, die mich auch schon bei einer Ausbildung begleitet. Oder ich bräuchte ein Nautika, dass mich trotz meiner Defizite eben in dem einen Teil von Nautik ausbildet, den ich lernen kann.”

Lilið zuckte nachdenklich mit den Schultern. “Ich habe hauptsächlich aus Büchern gelernt. Aber ich weiß, dass das vielen Menschen schwerfällt.”

“Ich kann prinzipiell aus Büchern lernen.”, erwiderte Drude, nun wieder deutlich gereizt. “Ist dir zufällig mal eins in die Hände gefallen, in denen es Übungsaufgaben ohne rechnen gab? Also eines, das sich auf die Geometrie beschränkt?”

“Oh Mist!”, fiel Lilið ein. “Das habe ich schon wieder vergessen. Es ist schlimm mit mir.”

“Sind wir dann, was unangenehmes Verhalten angeht, in meinem Falle die Arroganz, jetzt quitt?”, fragte Drude.

“Auf jeden!”, erwiderte Lilið und hielt sich die Hand an die Stirn, wie als ob sie einen Befehl annähme.

“Aber du sagst es mir trotzdem, wenn ich arrogant bin, ja?”, bat Drude.

“Auch auf jeden.”, sagte Lilið sanfter und lächelte. “Sind wir immer noch bei der Sache? Ich glaube, ich verstehe nicht mehr, was die Sache ist.”

“Denkst du, dass für eine Königin, die Diplomatie und Strategie und vor Leuten Reden und all so etwas nicht kann, auch ein Weg existiert, regieren zu können, wenn die Welt idealer wäre?”, fragte Drude. “Und selbst wenn, meinst du, es wäre gerechtfertigt, durchzudrücken, dass sie eine Chance bekäme, wenn daran so viele Menschenleben hängen?”

Ah, darauf wollte Drude hinaus. Lilið lächelte, weil sie sich diese Frage tatsächlich schon einmal gestellt hatte. Nur noch nie in so einem klaren Kontext und auch noch nie in der Konkretheit. “Bevor ich auf die Frage eingehe,”, sagte sie, “selbst, wenn dem nicht so wäre, denkst du, es wäre nicht eine massive Abwertung der Person, ihr durch diese Art von Zwang, wie ihr das tut, den Weg zu verbauen? Und zwar auch eine Abwertung, die eine gesellschaftliche Aussage hat und nicht nur sie betrifft? Sondern die aussagt: Hey, ihr alle, die ihr diese Dinge nicht könnt, die die Prinzessin nicht kann, ihr habt kein Recht über euch zu bestimmen. Das machen wir.” Lilið bemerkte, dass sie eine Gänsehaut davon bekam, diese Gewalt das erste Mal so klar in Worte gefasst zu haben. Und wo sie schon einmal in Fahrt war und Drude ihr zuhörte, bremmste sie sich nicht, fortzufahren. “Es mag böse von mir sein, aber mir ist es wichtig, gegen diese Gewalt einzustehen, selbst wenn daran Menschenleben hängen. Letzteres ist beschissen und ich hasse es, in solchen Kategorien zu denken, dass irgendetwas ein Menschenleben aufwiegen würde. Das tue ich auch nicht. Denn da wären wir wieder bei der Frage nach Verantwortung, über die du mit mir nach dem Angriff der Kriegskaterane gesprochen hast. Die Verantwortung für die Gräueltaten, die passieren würden, würde die Prinzessin die Regierung übernehmen, haben andere. Sie plant überhaupt keine Angriffe, sondern sie plant, keine Verträge einzugehen, und das hätte Angriffe durch andere zur Folge. Die Verantwortung trüge auch nicht ich, weil ich mich gegen eine Gewalt stark mache, die im Kleinen durchaus auch mich und dich betrifft, aber eben besonders Menschen wie die Prinzessin. Selbst wenn eine erfolgreiche Befreiung der Prinzessin diese Gräueltaten zur Folge hätte, trüge ich nicht die Verantwortung dafür. Ich wehre mich damit auf noch verhältnismäßig friedliche Art gegen die Gewalt, die uns abhängig von unseren kognitiven Fähigkeiten gegebenenfalls einen so niedrigen Wert zuordnet, dass es in dieser Welt sogar in Ordnung ist, uns mal eben unsere Menschenrechte abzuerkennen. Der Prinzessin werden hier ihre Menschenrechte aberkannt, nur weil sie dassselbe Recht haben will wie skorschere oder intelligentere Menschen und nicht irgendetwas zum Ausgleich zu bieten hätte. Es sollte keinen Ausgleich geben müssen. Es geht mir hier nicht nur um die Rettung einer Person, die Spielball der Mächte geworden ist, sondern auch um die Implikation auf alle Menschen, auf die Bedeutung dessen, was hier passiert, dass diese Gewalt schon in Ordnung wäre, weil es sich ja nur um eine unskorsche, wenig intelligente Person handelt. Die auch noch als Gefahr dargestellt wird, während die Gefahr eigentlich das System darstellt.”

Lilið hörte abrupt zu reden auf, obwohl sie noch ein paar Argumente gehabt hätte, als Drude die Hand hob. Als sie zu Drude herüberblickte, sah sie, dass Drude auch weinte. Ihr selbst waren die Tränen irgendwann während dieser Rede in ihre Augen geflossen, als sie bemerkt hatte, wie entlastend das war, diese Wut zu formulieren, auch wenn sie sie an manchen Stellen als schwammig empfunden hatte. Sie hatte die Tränen nicht zurückgehalten, es war ihr egal gewesen.

“Ich kann die Präsenz von Leuten spüren, die bald in Lauschradius sein werden.”, flüsterte Drude. Dey wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht und glitt vom Tisch. “Ich glaube, du hast mich.”