Tauschgeschäft
CN: Misgendern, Mord, Hinrichtung, Leiche, bisschen Gore, Trauer, Verfolgung, Lebensgefahr.
Die Leiche sah ziemlich übel zugerichtet aus. Die Haut war aufgequollen und an einer Hand fehlten fast alle Finger. Lilið betrachtete sie eingehend. Sie glaubte, dass es nicht Marusch war. Es sei denn, mit den Haaren war irgendetwas passiert, was sie sehr aufgehellt hätte. Lilið traute sich nicht zu, mit Sicherheit zu entscheiden, dass es nicht Maruschs Gesicht war. Sie hatte ein warmes Gefühl gehabt, als sie es in der Nacht dicht vor sich gesehen hatte, was sie nun nicht hatte, aber das war vermutlich zum großen Teil durch Maruschs Mimik passiert. Die Mimik der Leiche war natürlich unbewegt.
Die Tür zum Kühlhaus öffnete sich und ließ eine kurze warme Briese hineinwehen. Die Eismagie, die es kalt hielt, wurde drei bis vier Mal am Tag erneuert, aber die letzte Auffrischung war noch nicht lange her. Lilið wandte sich zur Person um, die den Raum betreten hatte. Jene schloss die Tür sorgfältig wieder und anschließend ihren Mantel. Es war eine der Wachen, erkannte Lilið an der Uniform.
“Was machst du hier?”, fragte die Wache. Sie wirkte nicht so richtig wach, fand Lilið, eher erschöpft.
“Es kommt nicht allzu oft vor, dass hier Leichen gelagert werden.”, erwiderte sie.
“Zum Glück nicht!”, bestätigte die Wache, dankenswerter Weise dies als Antwort akzeptierend.
Liliðs Fluchtversuch war nun zwei Tage her. Genug Zeit für Marusch, Raum zwischen sich und diese Insel zu bringen. Aber es war heute Nacht zu einem weiteren Einbruch gekommen, den die Wachleute dieses Mal bemerkt hatten. Das Einbruchsduo hatte sich getrennt: Während der eine Langfinger die ihm nächste Wache abgelenkt hatte, war der andere geflohen. Der eine Langfinger lag nun tot hier, – das Ergebnis des Ablenkungsmanövers –, für den anderen war heute morgen ein Suchtrupp losgeschickt worden.
Die Person, die gerade das Kühlhaus betreten hatte, seufzte, holte sich einen Klapphocker zwischen einem Schrank und einem Präpariertisch hervor und setzte sich neben Lilið. “Das war eine ziemlich wehrhafte Person.”
“Hast du sie getötet?”, fragte Lilið.
“Ihn.”, korrigierte die Wache und räumte ein: “Das kann man nun nicht mehr so gut erkennen.”
Lilið rollte innerlich mit den Augen und hoffte jetzt erst Recht, dass es sich nicht um Marusch handelte. Im nächsten Moment fragte sie sich, ob der Gedanke nicht makaber war. “Bereust du es?”, fragte sie.
“Ihn getötet zu haben?”, fragte die Wache.
“Ja, oder etwas am Wie. Ich weiß nicht.” Lilið begann zu zweifeln, ob ihr so eine Frage überhaupt zustand.
“Ich war auch recht übel zugerichtet nach dem Kampf!”, klärte die Wache sie auf, vielleicht eine Spur energischer als beabsichtigt. Sie fuhr ruhiger fort: “Ich war fast den halben Tag im Spital, bis sie mich wieder ganz hatten.”
“Es tut mir leid.”, sagte Lilið. Sie versuchte, es mitfühlend klingen zu lassen, aber innerlich fühlte sie nichts.
“Es ist nicht so, dass ich mir keine Gedanken machen würde, Lilið.”, sagte die Wache. “Müssen wir töten? Ich meine, nachdem ich den Dieb erwischt hatte, hatte er wegen der Regel kaum eine Wahl, als mich anzugreifen. Entkommen wäre er mir nicht. Er hätte sich höchstens ergeben können, dann wäre immerhin mir nichts passiert.”
“Aber der Langfinger hätte sich dann meinem Vater im Kampf stellen müssen.”, ergänzte Lilið.
“Das wäre kurz und schmerzlos geworden.” Die Wache seufzte. “Das wird wohl eher das Schicksal des zweiten Langfingers werden.”
“Ist dessen Identität bekannt?”, fragte Lilið.
“Wir haben ausreichend Spuren, dass unsere Rekonstrikta ihn identifizieren könnte. Sie könnte, wenn wir eine verdächtige Person fangen, sicher sagen, ob sie es ist oder nicht.”, teilte die Wache mit.
Ein Grauen durchfuhr Lilið. Das würde für die Person bedeuten, dass sie wohl besser das nächste halbe Jahr über mindestens untertauchen sollte. Und vielleicht wusste sie es nicht, wusste nicht, was für Spuren sie hinterlassen hatte.
“Um auf den Punkt zurückzukommen, der Dieb hatte nicht groß die Wahl, mich anzugreifen. Nachdem ich ihn beim Einbruch ertappt habe, meine ich. Ich verstehe seine Motivation dafür, gegen mich mit allen Mitteln zu kämpfen, also sehr wohl.”, führte die Wache den Gedanken von eben zu Ende. “Er hätte natürlich zuvor die Wahl gehabt, nicht einzubrechen.”
“Hältst du das eigentlich für verhältnismäßig?”, fragte Lilið. “Töten für den Versuch, etwas zu stehlen?”
“Auch darüber mache ich mir berufsbedingt immer wieder Gedanken.”, antwortete die Wache. Sie stand auf, klappte den Hocker wieder zusammen und stellte ihn in die Nische, aus der er gekommen war. “Wenn Leute bloß Nahrung stehlen wollen, lasse ich sie üblicherweise mit ein paar Schrammen davonkommen. Aber das war hier nicht der Fall. Unverhältnismäßig oder nicht, wissen doch Langfinger sehr genau, welches Risiko sie eingehen, wenn sie sich auf Schatzjagd machen. Es ist absolut nicht lebensnotwendig, Schätze zu stehlen. Motivationen dafür sind vor allem unnötige Gier oder das Ansinnen, sich zu beweisen. Wenn sie sich für diesen Weg entscheiden, dann müssen sie damit halt leben. Oder eben nicht leben.”
Die Wache nickte wie zum Abschied, lächelte – aber es wirkte sehr aufgesetzt –, und bewegte sich zur Tür.
“Ich war dir unangenehm.”, stellte Lilið sachlich und leise fest.
Die Wache blieb noch einmal an der Tür stehen und wandte sich nachdenklich zu Lilið um. Sie schüttelte den Kopf. “Nein.”, sagte sie freundlich. “So sehr ich hinter dem stehe, was ich sage, bin ich doch aufgewühlt. Ich hätte heute Nacht fast selbst dran glauben müssen. Und ich pflege die Tradition, mich von meinen Toten zu verabschieden.”
Dieses Mal stand Lilið auf. “Wenn du deswegen gekommen bist und dafür Ruhe haben möchtest, so ist der Raum gern dein.”, sagte sie.
Der Edemsapfel der Wache zuckte und ein paar Tränen schossen in ihre Augen. “Das weiß ich sehr zu schätzen. Du bist eine gutmütige Dame.”, sagte sie und näherte sich wieder. “Ich würde mich freuen, wenn du irgendwann den Hofstaat deines Vaters übernehmen kannst.”
Die Wache hätte kaum etwas Schlimmeres zum Abschied sagen können, fand Lilið. Sie schluckte den Frust darüber, wieder als Dame bezeichnet worden zu sein und Wünsche an ihr zukünftiges Leben gerichtet zu bekommen, die sie nicht erfüllen wollte, herunter und verließ den Raum.
Wärme schlug ihr entgegen und das Geschnatter der Okentendrachen, die am See entlangwatschelten. Lilið atmete die schwere Luft ein. Alles in ihr fühlte sich angespannt an. Die Leiche zu betrachten, hatte ihr noch einmal klarer gemacht, was sie erwartete, wenn sie eine Diebeskarriere einschlagen würde. Sie wollte eigentlich immer noch Nautika werden. Aber sie fürchtete, dass es doch nicht so einfach werden würde, wie ihre Mutter sich das vorstellte. Sie müsste sich irgendwie eine andere Identität dafür aufbauen. Denn wenn sie in der Ausbildung jemand als das Kind von Lord Lurch erkennen würde, während sie eigentlich auf einem gewissen Internat sein sollte, was dann?
Es belastete sie auch, dass sie nicht genau wusste, was hier los war. Sie hatte am Morgen eine andere Wache gefragt, ob denn etwas geklaut worden wäre, und jene hatte ihr versichert, dass sie alles durchgesehen hätten. Nichts fehlte.
Da dies ja nun der zweite Einbruch in kurzer Zeit, und Marusch auf der Spur nach etwas Bestimmten gewesen war, erweckte es in Lilið den Verdacht, dass die Wachen deswegen aufgestockt worden sein könnten und nicht ihretwegen. Aber als sie die Idee erleichtert ihrer Mutter mitgeteilt hatte, hatte diese gemeint, dass es auch umgekehrt sein könnte: Dass die aufgestockte Wachenzahl bei Langfingern bloß den Eindruck erweckte, hier gäbe es etwas zu holen.
Die übrige Zeit bei ihrer Mutter wurde die unangenehmste, die sie je hier verbracht hatte. Sie fühlte sich eingesperrt. Sie durfte nicht einmal ohne Aufsicht schwimmen. Und es wunderte sie auch nicht, dass sie dieses Mal daran gehindert wurde, den Weg zurück zu spazieren, als es soweit war, dass sie gehen musste. Vielleicht hatte ihre Mutter also doch recht mit ihrer Theorie. Oder Lilið wurde auch vor möglichen Einbrechenden geschützt.
“Ich bin sehr froh, dass du dich umentschieden hast!”, begrüßte ihr Vater sie, als sie gerade ausgestiegen war. Er erwartete sie am Eingang des Haupthauses. “Und ich freue mich über das Engagement dieser Institution. Deine Mentorin ist gestern Abend eingetroffen. Sie ruht sich im kleinen Besuchshaus am Hain aus.”
“Meine Mentorin?” Lilið verbarg ihr Entsetzen und versuchte, einen Ausdruck von Neugierde in ihre Stimme zu legen.
“Ich war auch überrascht!”, sagte ihr Vater. “Sie ist bestimmt nicht böse, wenn du sie jetzt schon besuchst, falls du es eilig hast. Sie ist jung, vielleicht sogar jünger als du. Ich kann mir vorstellen, dass ihr euch versteht.”
Also war die Mentorin vermutlich selbst Schülerin, schloss Lilið. “Ich überlege es mir.”, nuschelte sie.
Eigentlich wollte sie überhaupt nicht. In ihr grummelte Frust vor sich hin, als sie ihre Sachen auf ihr Zimmer brachte. Wenn es bis zu ihrer Reise zum Internat nur noch knapp zwei Wochen hin war, dann war nicht unwahrscheinlich, dass die Mentorin bis zur Abreise bliebe. Frankeroge war, wie Marusch schon festgestellt hatte, nicht um die Ecke. Besonders im Sommer nicht, wenn die Reiseinseln die zwei Seeinplatten des Ozeans zwischen Frankeroge und Nederoge in Nord-Süd Richtung auseinanderschieben. Lilið hatte überlegt, ob die Reiseinseln ein guter Startpunkt für ihre Flucht sein könnten.
Aber da ihr Plan war, überzeugend so zu tun, als würde sie das Internat besuchen wollen, und weil es vorteilhaft war, die genauen Pläne der Mentorin zu kennen, atmete sie tief durch, um sich mental auf einen Besuch bei der Person vorzubereiten.
Sie kam nicht weit. Sie hatte das Haus gerade wieder verlassen, um sich zum Besuchshaus aufzumachen, als Aufruhr aufkam. Sie folgte den Blicken der Umstehenden gen Himmel. Es war sicher nicht der Zugdrachenschwarm, der in Dreiecksformation gen Westen flog, den sie so interessant fanden. Etwas weiter hinten näherte sich eine große Kreatur. Lilið dachte erst an einen riesigen Seedrachen, aber so große Drachen gab es hier kaum.
“Das ist Elmar!”, rief eine Person vom Dienstpersonal neben ihr. “Sie taumelt, sie hat sich völlig übernommen! Du kannst schnell laufen, Lu. Hol Medikae!”
Lu, ein Kind, vielleicht fast jugendlich, nickte und eilte davon.
Die Person von eben erteilte den Umstehenden weitere Anweisungen und das machte sie gut. Jemand holte ihren Vater, und Lilið sollte zusammen mit einer anderen kräftigen Person zusehen, dass sie Elmar auffingen, wenn bei der Landung etwas nicht so koordiniert ablaufen würde. Lilið war gar nicht bewusst gewesen, dass sie je in einen Topf mit eher starken Leuten geworfen werden könnte. Sie hatte durchaus starke Arme und Beine, aber an sich nicht überdurchschnittliche Kraft, hatte sie immer gedacht.
Sie hielt sich nicht lange mit Gedanken darüber auf. Zusammen mit Heinert, den sie sogar mit Namen kannte, weil sie mit ihm besonders oft Handwerksarbeiten gemeinsam ausführte, hielt sie sich bereit, um Elmar Hilfestellung beim Landen anzubieten. Es war trotz der Aufregung und Gefahr ein beeindruckender Moment, wie Elmar einen Landeanflug auf den Garten machte, wie ihre Schwingen dabei nicht immer Halt in den Luftströmungen fanden und Lilið mehrfach Angst hatte, Elmar könnte versehentlich in einen Baum abdriften. Es lief alles sehr schnell ab. Kurz bevor sie den Boden erreichte, lehnte Elmar Kopf und Knie nach vorn, und wäre mit den Schienbeinen über die Grasnarbe bretternd zum Halten gekommen, wenn Heinert und Lilið sie nicht an den Flügelansätzen gepackt hätten. Lilið klammerte ihre Hände in den Muskel nahe der Schulter und drückte mit ihrem Arm mit aller Kraft von unten dagegen. Dabei eilte sie neben Heinert her, der auf der anderen Seite etwa das Gleiche tat. Sie trugen das Gewicht des schmalen Körpers halb rennend, halb stolpernd, sodass Elmars Knie fast über dem Boden schwebend kaum etwas abbekamen, bis sie alle die Geschwindigkeit ausreichend heruntergebremst hatten, dass sie sich sicher auf den Boden fallen lassen konnten.
Lilið setzte sich auf und atmete hastig. Das zerdrückte Gras unter ihr roch angenehm. Elmar nahm, noch viel rascher nach Atem ringend, zu ihrer Seite eine Embryohaltung im Gras ein, während ihre Flügel sich wieder in Arme verwandelten. Das war an sich auch so etwas wie eine Falttechnik, dachte Lilið. Eine, die Lilið nie so lange am Stück hätte halten, geschweige denn zum Fliegen benutzen können. Elmar gehörte dann wohl zu den Informantikae, Bedienstete des Hofstaats, die Nachrichten zustellten, und im Zweifel taten sie das sehr eilig.
Heinert bot Elmar ein Taschentuch an, das sie dankend annahm. Sie verharrte nicht lange in der Haltung, sondern zwang sich mit Mühe, sich aufzusetzen, als sich Lord Lurch raschen Schrittes näherte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, den Schweiß vom Gesicht, schneuzte sich anschließend und wollte sich erheben, doch Lord Lurch winkte ab.
“Bleib ruhig sitzen und ruh dich aus, ich kann mich auch hinhocken.”, sagte er freundlich. “So alt bin ich noch nicht.” Er setzte sich tatsächlich ins Gras. Heute trug er ein lila Gewand.
“Danke.” Elmars Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. “Es hat einen zweiten Einbruch gegeben.”
Einen dritten, korrigierte Lilið in Gedanken.
“Er war erfolgreich.”, fügte Elmar hinzu. “Der Schatz ist gestohlen worden.”
Also waren die Wachen vielleicht doch wegen eines Schatzes verstärkt worden. Liliðs Gedanken verweilten allerdings nicht lange bei Theorien dazu. Ihr Blick fiel auf ihren Vater. Sie hatte ihn noch nie so voll Angst gesehen. Ihr Vater hatte vor nichts Angst, hatte sie immer gedacht. Er hätte vermutlich gegen fünf Leute aus seiner eigenen Wache gleichzeitig antreten können und ihm wäre nichts passiert, obwohl Lord Lurchs Wache zu der am besten ausgebildeten der ganzen nederoger Inselvereinigung gehörte.
“Gibt es bekannte Verantwortliche?”, fragte er.
“Nein, Lord Lurch.”, antwortete Elmar. “Es gibt keine Spuren. Niemand hat den Einbruch bemerkt. Es wurde lediglich eine Nachricht hinterlassen. Eine Signatur!”
“Die lautet?” Lord Lurchs Stimme beruhigte sich etwas, aber es lag immer noch ein Beben darin, das Lilið ängstigte.
“Ein mit Blut geschriebenes M. Davor das Zeichen für ‘Master’.”, berichtete Elmar.
Makaber, dachte Lilið. Und mutig. Blut zu hinterlassen, ermöglichte schließlich eine Identifikation meistens recht gut.
“Wahrscheinlich nicht mit seinem eigenen Blut.”, murmelte ihr Vater, als hätte er Liliðs Gedanken gelesen, und erhob dann wieder die Stimme: “Gibt es weiteres zu berichten?”
Elmar schüttelte den Kopf. “Das war alles. Ich fliege zurück und werde weitere Neuigkeiten bringen, sobald ich kann.”
“Nichts da!” Lord Lurch richtete sich auf. “Also, klar fliegst du zurück, aber zuerst lässt du dich von den Medikae aufpäppeln. Niemandem ist geholfen, wenn du vom Himmel plumpst.”
Auch nachdem Elmar weggebracht worden war und die Bediensteten sich wieder ihren Aufgaben widmeten, an denen sie zuvor gesessen hatten, machte Lilið sich noch nicht zum Besuchshaus auf. Dazu war sie viel zu aufgewühlt. Stattdessen suchte sie ihren Vater in seinem Briefzimmer auf. Als er sie anblickte, war von seiner sonst so guten Laune keine Spur zu sehen.
“Darf ich ein paar mehr Details erfahren, was los ist?”, fragte Lilið vorsichtig.
Ihr Vater betrachtete sie einige Momente nachdenklich, vielleicht etwas abwesend, aber nickte dann. “Setz dich zu mir, Lil.”
Lilið rückte einen schmalen Stuhl aus der Ecke heran. Sie mochte den Geruch dieses Zimmers. Das alte Leder und die Bücher brachten einen Duft von Geheimnissen mit sich.
“Der Kronprinz hat unserem Hof eine Kostbarkeit aus dem Schatz der Monarchie zur sicheren Aufbewahrung zukommen lassen.”, berichtete ihr Vater. Er starrte auf das leere Papier vor ihm, dann wieder einen Moment in Lilið Gesicht, doch so richtig sah er sie nicht an.
“Warum?”, fragte Lilið. Im stillen erinnerte sie sich daran, dass Marusch diese Kostbarkeit erwähnt hatte.
“Das wurde mir nicht mitgeteilt. Ich vermute, aus den jüngsten Ereignissen schließend, dass diesen Gegenstand zu stehlen zur Herausforderung einiger Diebesbanden und einzelnen Langfingern geworden ist, die sich beweisen wollen. Eine Art Trophäe für sie.”, erklärte er. “Wie ein Wettkampf mit immer größeren Aufgaben, verstehst du?”
Lilið nickte. Sie dachte an die Leiche, die inzwischen verbrannt und beerdigt war. Sie konnte nicht leugnen, dass sie dieser Wettkampf trotzdem reizte. Und das ärgerte sie. Sie war sicher nicht so gut. Und sie wollte ihr Leben auch nicht für so etwas aufs Spiel setzen.
“Nun hat der Blutige Master M diesen Wettkampf gewonnen.” Ein Lächeln war vorsichtig auf das Gesicht ihres Vaters zurückgekehrt. “Und ich könnte mich ja schon ein bisschen mit ihm für diesen Sieg mitfreuen, wenn er seine Trophäe nicht von meinem gut bewachten Grundstück entwendet hätte, was ich nun irgendwie der Monarchie erklären muss.”
“Ah, daher hast du Angst.”, begriff Lilið.
“Ja, Lil. Daher habe ich Angst.”, sagte ihr Vater. Vom Lächeln war keine Spur geblieben. “Der Kronprinz hat wohl einen Skorem von über 300, heißt es. Man weiß es nicht genau, weil es schon kaum Personen mit einem Skorem größer 200 gibt und wir gar nicht genau wissen, nach welchen Kriterien wir Skorem in dem Bereich genau festlegen sollen. Fest steht jedenfalls, dass ich kaum eine Chance hätte, wenn mich die Monarchie oder gar der Kronprinz selbst herausfordert.”
Lilið schluckte. Irgendetwas in ihrem Hirn fühlte sich so an, als würde es sich krampfhaft verknoten wollen. So fühlte es sich also an, wenn sie unerwartet Angst hatte, dass das Leben ihres Vaters in realer Gefahr war.
Sie bemühte sich, langsam durchzuatmen und sich zu beruhigen. Ein kleiner Teil von ihr fing ungefragt an, einen möglichen Plan vorzulegen: Wenn sie nicht zum Internat ginge und nicht Nautika werden könnte, dann könnte sie vielleicht den Blutigen Master M suchen. Vielleicht sogar mit Marusch zusammen, falls sie sich je wiederfinden würden. Marusch hatte schließlich ein Interesse, diesen Langfinger zu finden. Allerdings vermutlich, um ihm den Schatz abzunehmen.
Wenn Lilið lang genug Zeit mit Marusch verbracht hätte, könnte sie vielleicht herausfinden, ob es realistisch wäre, ihm anschließend den Schatz wieder abzuluxen und ihn ihrem Vater zurückzubringen.
Ihr wurde noch einmal sehr heiß, als sie realisierte, dass der Name Marusch mit M anfing. Vielleicht war sie der Blutige Master M. Etwas Makaberes hatte Marusch vielleicht an sich gehabt. Tief verborgen. Oder Liliðs Vorstellungsapparat fantasierte hier.
Dagegen sprach auf jeden Fall, dass sich Marusch wahrscheinlich nicht als Master betitelt hätte. Oder doch? War es eine Tarnung? Oder hatten diejenigen, die die Signatur gelesen hatten, vielleicht den feinen Unterschied zwischen den Zeichen für Master und Mistress nicht gesehen? Vielleicht hatte Marusch ja auch ein Zeichen dazwischen entwickelt. Und Leute dachten meistens nur an Männer, wenn sie sich Einbrechende vorstellten, weshalb das Zeichen entsprechend falsch gelesen worden war.
“Mach dir keine zu großen Sorgen, Lil.” Ihr Vater hatte eine Weile geschwiegen und legte ihr nun die Hand auf die Schulter. “Die Monarchie fällt keine übereilten Entscheidungen. Mir wird sicher etwas Zeit zum Suchen gegeben. Und es ist nicht einmal gesagt, ob sie mich zu einem Kampf herausfordern würden, wenn ich erfolglos bliebe. Vielleicht lassen sie sich auf einen Handel ein, der den Schaden ersetzen könnte.”
Lilið nickte. Sie kannte sich wenig mit Politik aus, aber vermutete, dass ihr Vater sie nur zu beruhigen versuchte. Sie glaubte schon, dass mit der Monarchie nicht zu spaßen wäre. “Natürlich mache ich mir Sorgen.”, sagte sie. “Aber ich werde es aushalten. Ich kann ja nicht viel tun, außer da sein.”
Vielleicht sollte sie doch erst einmal das Internat besuchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es mit erfahrenen Diebespersonen aufnehmen konnte, war sehr klein. Ihr Vater würde schon Leute losschicken, die besser geeignet für so eine Aufgabe wären als sie. Wenn sie jetzt oder sehr bald entfliehen würde, dann würde ihm das auch noch Nerven kosten, und womöglich würde er Leute nach ihr suchen lassen, die er eigentlich für die Suche nach dem Blutigen Master M brauchen konnte.
Vielleicht sollte sie von Marusch erzählen. Aber sie wollte nicht, dass Marusch etwas passierte. Sie wollte auch nicht, dass ihrem Vater etwas passierte. Das war wieder ein Argument, das dafür sprach, dass sie Marusch zumindest noch einmal wiedertreffen sollte. Bei der Vorstellung durchlief unaufgewordert ein warmer Schauder ihren Körper.
Lilið fühlte sich erschöpft, als sie draußen an der Tafel zum Abendessen Platz nahm. Sie erschreckte sich, als eine fremde Person sich neben sie setzte und sie grüßte. Sie hatte die Mentorin fast vergessen.
“Ich bin Allil. Es freut mich, dich kennen zu lernen.” Allils Stimme war herzlich, aber etwas unsicher.
“Ich bin Lilið.”, stellte sich Lilið vor. Wahrscheinlich unnötiger Weise.
Allil trug ein blaues Sommerkleid aus Seide, das gut auf ihren Körper zugeschnitten war. Das sprach sehr dafür, dass sie aus gutem Hause kam.
“Ich freue mich sehr über die Initiative, die das Internat für skorsche Damen ergreift, um meiner Tochter einen guten Start zu ermöglichen.” In der einladenden Stimme ihres Vaters fand Lilið nichts von dem Grauen wieder, das vorhin noch so unweigerlich darin mitgeschwungen hatte.
“Es ist mir eine Ehre.”, antwortete Allil. “Als die Schule den Brief erhalten hat, der uns die Angst und Unsicherheit der neuen Schülerin darlegte, habe ich nicht gezögert, mich anzubieten, meine Restferien bei ihr zu verbringen, sie zu ermutigen und ihr zu helfen, möglichst gut Anschluss zu finden.”
Ihr Vater hatte einen Brief an das Internat geschrieben? Lilið warf ihm einen stirnrunzelnden Blick zu. Er erwiederte ihn wohlwollend. Er wirkte eher als würde er etwas gutheißen, als schuldbewusst oder so etwas zu sein.
Im Normalfall hätte sie geschimpft. Aber sie wollte sich immer noch eine mögliche Flucht nicht verbauen. “Das ist sehr zuvorkommend. Damit hätte ich nicht gerechnet.”, sagte Lilið also.
Allil war Lilið tatsächlich nicht unsympathisch. Sie war interessant. Sie erzählte, dass sie selbst noch nicht lange am Internat war und auch sie am Anfang Unterstützung bei der Eingliederung bekommen hatte. Sie erzählte von den sozialen Strukturen am Internat, darüber, wie sie mit offenen Armen aufgenommen worden war.
Lilið brauchte eine Weile, um zu merken, dass ihre Erzählungen zwar sehr persönlich wirkende Details und konkrete Anekdoten beinhalteten, aber nichts davon besonders spezifisch war. Hier stimmte etwas nicht. Da sie aber schon bei der Nachspeise waren, beschloss Lilið Allil später im Besuchshaus allein aufzusuchen und damit zu konfrontieren. Hilfe, wenn Lilið welche bräuchte, wäre dann trotzdem nicht weit. Auf dem ganzen Gelände gingen Wachen auf und ab.
Es dämmerte bereits, als sich endlich ein Zeitpunkt ergab. Allil war über das Gelände und durch ein Hauptgebäude geführt worden. Lilið hatte sich in der Zeit mit Heinert daran gemacht, eine Tür abzuschleifen und neu zu lackieren, der ein kleines Magie-Unglück passiert war. Damit war sie noch nicht fertig gewesen, als Allil wieder wirkte, als könnte sie Zeit haben. Aber die Arbeit hatte beruhigt, also hatte Lilið sie nicht unterbrochen.
Als sie an die Tür des kleinen Besuchshauses am Hain pochte, erschreckte sie sich abermals, Allil zu sehen, als diese auf der anderen Seite der Glastür auftauchte. Es war, wie sich selbst in einem verzerrten Spiegelbild zu sehen: Allil hatte die Hochsteckfrisur von vorhin gelöst und sich die Haare so zusammengebunden, wie Lilið sie trug. Außerdem hatte Allil den Lippenstift abgewischt und ihr Kleid gegen eine kurze Hosen und ein schlichtes Hemd getauscht – allerdings nicht in Grün.
Sie öffnete die Tür und winkte Lilið herein. Sie sprachen kein Wort, bis sie in der Teeküche saßen. Lilið fühlte sich einen Moment weich in den Knien, weil sie die Situation so sehr an eine in einer anderen Teeküche vor etwa einer Woche erinnerte.
“Vielleicht denkst du dir schon, dass ich nicht deine Mentorin bin.”, leitete Allil ein.
“Ich hatte so einen Verdacht.”, gab Lilið zu.
“Marusch schickt mich.”, informierte Allil. “Marusch meinte, mein Wunsch nach guter magischer Ausbildung wäre vielleicht erfüllbar, wenn du zum Tausch bereit wärest. Du hättest deine Gründe, das vielleicht zu wollen. Wir haben aber auch beide Verständnis, wenn du nicht möchtest. Dann verschwinde ich sang- und klanglos wieder. Es ist nur ein Angebot.”
“Wieviel Zeit habe ich, um zu entscheiden?”, fragte Lilið. Ihr Herz schlug mit einem Mal heftig und schnell. Sollte sie einer Sache trauen, die Marusch eingefädelt hatte?
Wenn sie Allil verriete, wäre diese vermutlich geliefert. Oder war Allil sehr mächtig und könnte es mit ihrem Vater aufnehmen? Dann hätte sie aber keine Ausbildung mehr gebraucht. Zumindest keine, die das Internat, um das es ging, böte. Wenn sie hier war, um Lilið irgendwie zu schaden, könnte aber das ganze Ansinnen erlogen sein. Aber weshalb würde jemand Lilið schaden wollen?
“Na ja, bis es losgeht. Nicht?” Allil begann Liliðs Bewegungen zu kopieren, dass es Lilið umheimlich wurde. “Solange kann ich hier sicher wohnen, zumindest, wenn du mich nicht verpfeifst.”
“Aber du hast einen Plan, für wenn ich dich verpfiffe?”, fragte Lilið.
“Keinen konkreten.”, antwortete Allil. “Ich habe ein paar nützliche Fähigkeiten, die mir Flucht meistens erleichtern. Ich hoffe, das wird nicht nötig?”
Lilið lächelte. “Ich weiß, welche Strafen dir drohen würden, wenn der Betrug aufflöge. Die wünsche ich niemandem.”, erwiderte sie.
Allil nickte. Lilið konnte nicht lesen, ob Allil sich fürchtete oder nicht. “Wenn du möchtest, können wir detailliert den Plan durchsprechen.”
“Ein Plan von Marusch?”, fragte Lilið.
“Im Wesentlichen.”, antwortete Allil. “Ich habe außerdem einen Brief von Marusch für dich mitgebracht.”
Erst jetzt realisierte Lilið, dass diese Begegnung sehr nahe legte, egal ob sie eine Falle darstellte oder nicht, dass Marusch noch am Leben war.