Konsens für Geschenke

Content Notes:

  • Übergriffigkeit sowohl körperlicher als auch psycho-sozialer Art.
  • Emotionaler Missbrauch erwähnt.
  • Trigger und Trauma erwähnt.

Einleitung

Konsens bedeutet Übereinstimmung. Wenn alle Beteiligten zu etwas zustimmen, liegt dafür Konsens vor.

Es gibt sehr viele Formen von Interaktion, über die wir uns recht einig sind, dass es Konsens von allen Beteiligten braucht, weil sie andernfalls übergriffig wären. Zum Beispiel innige Zärtlichkeiten wären übergriffig, wenn nicht sowohl die austeilenden, als auch die passiveren Beteiligten (wenn es diese Rollenverteilung gibt) einverstanden sind.

In unserer Gesellschaft (ich weiß nicht, wie weit gefasst) gibt es einiges Verhalten, für das üblich ist, es ohne Konsens auszuführen, oder Konsens vorauszusetzen. Zum Beispiel gibt es viele Menschen, die nicht gern umarmt werden, aber zu Begrüßungsritualen gehört es häufig eher zum Standard, dass einfach umarmt wird. Würde dabei auf Konsens geachtet, müsste vorher gefragt werden, zum Beispiel: “Möchtest du heute umarmt werden?”. Ich hielte das für einen besseren Standard. In meinem engeren Umfeld etabliert sich das allmählich.

In diesem Artikel möchte ich aber auf Konsens bei weniger physischen Interaktionen eingehen. Auf Interaktionen, bei denen es mehr um Emotionen und Kommunikation geht. Und darauf, wie Behinderungen oder Klassismus da hineinspielen können. Ich möchte einen kurzen Einblick in eine Gefühlswelt geben, die ich mindestens mit ein paar behinderten Menschen teile. Ich erzähle in diesem Artikel, wie ich die Dinge wahrnehme. Er soll zum Reflektieren einladen und dazu, eine andere Sicht einzunehmen. Es ist kein wissenschaftlicher Artikel oder so etwas, der verallgemeinern möchte. In wiefern ihr daraus verallgemeinern möchtet, überlasse ich euch.

Geschenke

Als ich ein junges Kind war (auch später noch, aber es geht mir hier gerade um Frühprägung), gehörte zu meinem Leben, dass ich gelegentlich etwas zu Anlässen geschenkt bekommen habe. Manchmal mochte ich die Geschenke nicht. Was dann?

In meinem Umfeld (ich erzähle nicht, wie das bei mir persönlich war) wurden den Kindern für diesen Fall verschiedene Dinge beigebracht. Die meisten Kinder mussten sich trotzdem bedanken. Die Schenkenden waren sonst gar beleidigt. Es wurde psychischer Druck aufgebaut, sich zu bedanken. Etwa steht da ein Kind in der Nähe der Eltern. Die Person, die was geschenkt hat, ein paar Schritte weiter gegenüber. Vielleicht sind noch mehr Leute anwesend. Die Eltern fragen “Was sagt man dann?” oder schicken das Kind zur schenkenden Person. Es ist klar, dass es zu irgendeiner Form von Stress (und sei es bloß sehr viel ungewollte Aufmerksamkeit) kommen würde, wenn das Kind sich nicht bedankt. Es kann auch so schon für viele Kinder eine sehr schlimme Situation sein, zum Beispiel für manche autistische oder mutistische Kinder.

Aber sogar dann, wenn die Freude und Dankbarkeit da ist, herrscht oft ein Erwartungsdruck, dass sie auf eine konkrete, normierte Art performt werden soll und es zu schlimmen Missverständnissen kommt, wenn das nicht geht. Das ist etwas, das vor allem viele neuroatpyische Menschen erleben: dass sie sich freuen, aber irgendwann schmerzhaft lernen, dass sie das auf diese und jene Art zeigen müssen, damit es als Freude und Dankbarkeit verstanden wird.

In diesen Momenten lernen wir, dass wir in Situationen geraten, die freundlich gemeint sind (Geschenke!), aus denen wir aber nicht rauskommen, ohne irgendwas zu tun, was wir nicht wollen. Wir sind darin ausgeliefert. Wir wurden durch das Geschenk überhaupt erst dahin gebracht, handeln zu müssen.

Es gab auch Kinder in meinem Umfeld, die sich nicht bedanken mussten, aber reagieren war Pflicht. Wenn schon nicht bedanken, dann so ehrlich sein, zu sagen, dass es nicht gefallen hat. Manchmal wurde eine ausweichende Reaktion akzeptiert, etwa etwas, was so klingt wie ein Bedanken, aber eigentlich nur eine Beschreibung des Geschenks ist und was man damit machen kann. Diese Abschwächungen gegenüber dem Zwang, dass nur Bedanken richtig wäre, fühlte sich für manche Kinder und manche Eltern schon revolutionär an. Aber auf die Mühe der anderen Person musste schon eingegangen werden.

Nun ja… Für mich ist so eine Situation viel stressiger als eine Umarmung, die ich nicht will. Weil sie ein Nachspiel hat. Weil sie wesentlich zu der Wahrnehmung meiner Person als sozial akzeptabel oder nicht beiträgt. Dabei habe ich tatsächlich noch nie verstanden, warum aus einem ungefragten Geschenk oder einer ungefragten Handlung eine Anspruchs- oder Erwartungshaltung auf Dankbarkeit oder Interaktion entsteht. Hoffnung darauf, ja, aber zu erwarten, dass eine Person überhaupt reagiert, wenn etwas ungefragt geschenkt oder gegeben wurde, impliziert für mich im Zweifel psychischen Druck zu Non-Konsens-Interaktion. Mich stresst es umso mehr, soziale Interaktion nach einem Regelbuch durchzuführen, deren Regeln ich nicht verstehe, oder noch schlimmer, eher negativ wahrnehme.

Ich mag diese Situation nochmal mit Umarmungen und Zärtlichkeiten vergleichen: Anerkennung, Gemochtwerden, vielleicht auch Dankbarkeit sind Dinge, die die meisten Menschen für ihre psychische Gesundheit brauchen, aber an andere Personen entsteht dadurch nicht automatisch ein Anspruch darauf, dass sie diese Bedürfnisse erfüllen. Keine Freundlichkeit der Welt erzeugt bei anderen einen Anspruch auf Umarmungen, Kuscheln, weiteres, und genauso erzeugt keine Freundlichkeit der Welt bei anderen den Anspruch auf Dankbarkeit oder Interaktion diesbezüglich. Wer nicht will, soll nicht müssen dürfen, ohne negative Konsequenzen.

Welche Gründe gibt es, keine Geschenke zu wollen?

Es gibt viele Gründe, warum manche Menschen keine Geschenke oder Vergleichbares haben mögen:

  • Überraschungen oder Unerwartetes können extrem stressen.
  • Der im vorherigen Absatz erklärte Stress, dass darauffolgend Interaktion passieren muss, und sei es annehmen oder ablehnen.
  • Traumata oder unangenehme Erlebnisse im Zusammenhang mit Geschenken und missbräuchlichen Beziehungen. Da gibt es viele, weil diese Dankbarkeitserwartung in der Gesellschaft etabliert ist und auf diese Art Geschenke zu emotionalem Missbrauch benutzt werden können. (Wenn ich dir etwas schenke, dann musst du auch was für mich tun.)
  • Traumata oder unangenehme Erlebnisse im Zusammenhang mit Geschenken und erwartetem neurotypischen Verhalten (s. o.). Wenn ein Geschenk zu bekommen heißt, ein anstrengendes, nicht zu der eigenen Person passendes Verhaltensprotokoll anzuwerfen.
  • Ein Anlass selbst, zu dem geschenkt wird, kann aus verschiedenen Gründen schmerzhaft sein. Für viele Menschen gehörten zu Geburtstagen oder religiösen Feiertagen Rituale, die mit Zwang zusammenhängen. Deshalb und aus vielen anderen Gründen können Geschenke zu Anlässen etwa unangenehm sein.
  • Manche Leute haben schon viel zu viel Kram und wollen nicht mehr. Manchmal sagen Schenkende dazu, “Wenn du es nicht brauchen kannst, dann verschenk es weiter”. Aber weiterverschenken kann aus vielen Gründen Stress sein bis hin zu unmöglich. Etwa eine Person zu finden, zu der das Geschenk passt. Manche Menschen bauen auch instant Bindungen zu Dingen auf, vor allem zu geschenkten, und können sie nicht weitergeben. Und manche Leute stresst schenken, vielleicht sogar, weil für sie beschenkt werden stressig ist.
  • Geschenke können ein Ungleichgewicht an Privilegien sehr sichtbar machen, was dann unangenehm sein kann. Wenn etwa eine beschenkte Person nicht in der gleichen Weise zurückschenken kann, weil sie zu arm ist oder andere Ressourcen zu knapp sind. Und da lässt sich noch so leicht sagen, du musst mir nichts zurückschenken, das macht das unangenehme Gefühl, das bei manchen dadurch entsteht, nicht weg. Das ist aus privilegierter Sicht vielleicht schwierig zu verstehen, aber durchaus zu respektieren.
  • Geschenke oder Zuwendung, die in etwas bestehen, was eine Behinderung ausgleicht, kann sich wie eine Abhängigkeit anfühlen. Darauf gehe ich später im Detail ein.

Ich möchte aber doch schenken! Was ist die Lösung des Problems?

Nun ist schenken per se nichts Schlechtes und manche Leute freuen sich auch sehr über Geschenke. Wie lösen wir also diesen Konflikt?

Mein Vorschlag: Konsens-Talk, wie bei allen Arten von Beziehungen (Freundschaften, Gruppenchats, etc mit eingeschlossen) am besten. Fragt die Person, die ihr gern beschenken möchtet, vorher, wie sie zu Geschenken steht. Ob Überraschungsgeschenke okay sind. Ob materielle oder lieber nur digitale oder welche, die keinen Platz wegnehmen, bevorzugt werden. Und vielleicht fragt ihr sie sogar, ob es einen Wert gibt, den ein Geschenk nicht überschreiten sollte. Und auch, wieviel Arbeit in ein Geschenk fließen darf. Das können alles Dinge sein, wo es an Grenzen geht, dass es für Leute unangenehm bis triggernd sein kann.

Gegebenenfalls kann so ein Konsens-Talk natürlich selbst schon stressen, weil es darin um persönliche Gefühle geht. Dafür habe ich kein Rezept-Buch. Ich versuche das stets mit dem mir (eingeschränkt) zur Verfügung stehenden Fingerspitzengefühl. Für manche reicht es.

Etwas geschenkt bekommen, was eine Behinderung ausgleicht

Besonders belastend ist für mich, etwas geschenkt zu bekommen oder eine Zuwendung zu bekommen, bei der sich ein Mensch für mich sehr anstrengt, die aber im Wesentlichen mir Teilhabe zu etwas ermöglicht, was ich behinderungsbedingt nicht gut kann. (Was nicht heißt, dass ich es nicht durchaus gegebenenfalls annehmen würde.)

Als Beispiel: Eine Person in meinem Umfeld kauft für mich schon seit längerem im Supermarkt ein, weil es für mich durch die Reizüberflutung in Supermärkten in einer Großstadt regelmäßig dazu kam, dass ich mit Overload in einer Ecke weinend Pause machen musste, bis ich weiter einkaufen konnte, und für mich emotional der Tag, an dem ich eingekauft hatte, auch gelaufen war.

Das ist extrem lieb und entlastet mich sehr. Aber ich möchte trotzdem unbedingt wieder in eine kleinere Stadt ziehen und mich selbst versorgen. Selbst wenn es dort auch anstrengt. Unverhältnismäßig mehr als viele andere.

Das ist etwas, was jene Person gerne macht und was abgesprochen ist. Ich habe aber auch Menschen in meinem Umfeld, die Dinge in einer ähnlichen Größenordnung einfach ungefragt für mich tun. Und das ist nicht in Ordnung und fühlt sich sehr mies an. Selbstbestimmung ist ein extrem krasses, im positiven Sinne wichtiges Gefühl, das vielleicht nicht gut nachfühlbar ist für Leute, die nie darin stark eingeschränkt worden sind. (Und selbst dann fällt es einigen schwer, es auf andere zu übertragen.) Selbstbestimmung heißt nicht unbedingt, dass wir alles alleine hinkriegen, aber dass wir nicht auf Leute angewiesen sind, die uns aus Freundschaft helfen oder weil sie uns nahe stehen, sondern dass die Hilfe Teil des Systems ist. Andernfalls fühlt es sich nach fehlendem Gestaltungsraum für unser eigenes Leben an und nach Abhängigkeit und Machtgefälle – was es letztendlich mindestens teils auch ist. Wir wären sonst immer auf die Freundlichkeit einer Person angewiesen, um eine bestimmte Teilhabe zu haben, und darüber beschweren, wenn was nicht passt, wird dann auch schwieriger. Für manche Menschen steht entsprechende Unterstützung auch auf dem Spiel, wenn sie sich nicht dankbar genug zeigen. Versteht mich nicht falsch: Ich bin sehr dankbar für die Entlastung beim Einkaufen, ich bedanke mich auch regelmäßig.

Aber ich fühle mich dann, als müsse ich dankbar sein für etwas, wo ich wegen Barrieren oder mangelnder Ressourcen das schlechtere Los erwischt habe, was aus meiner Sicht also eher staatlich ausgeglichen gehört. Ich bin dann eine Mischung aus dankbar und frustriert, und das ist alles sehr belastend.

Im Gespräch mit anderen habe ich den Eindruck gewonnen, dass es im Fall von Armut ein ganz ähnliches Gefühl ist. Also, wenn eine Person zum Beispiel zu etwas eingeladen wird, wo alle anderen jeweils für sich zahlen, aber für die Person zusammenlegen (oder eine einzelne weitere Person übernimmt), weil jene sonst nicht teilhaben könnte. Manche können das annehmen und es macht die Situation schön, aber es kann auch sein, dass die Person das nicht annehmen kann oder sich unabhängig davon, ob sie es kann, sehr mies fühlt deswegen.

In beiden Zusammenhängen habe ich schon erlebt, dass Personen das Geschenk oder die Zuwendung quasi heimlich machen, damit sie aufgedrückt werden kann, weil sie wissen, dass die Person es sonst nicht annehmen könnte. Ich weiß nicht, ob das auch mal gut gehen kann, aber in meinem Fall würde ich die Freundschaft wegen so etwas abbrechen.

Jedenfalls: Wenn es nicht gerade um ein simples Türaufhalten geht, sondern um etwas, wo in mein Leben oder ähnliches eingegriffen wird, wäre es aus meiner Sicht schon gut, wenn vorher gefragt wird: würde dir das helfen?, darf ich das für dich tun?, wie fühlst du dich damit? Und Antworten darauf Verständnis und Raum gegeben wird und sie akzeptiert werden.

Fazit

Wenn es um Geschenke oder Zuwendung geht, ist nicht nur das Geben ein Geben von Ressourcen, sondern auch das Annehmen. Vielleicht ist Annehmen in unserer Gesellschaft sogar der Ressourcen ziehendere Prozess, weil so viel Erwartung und, im Fall ungefragter Geschenke, Interaktionszwang passiert. Im Fall von Behinderungen oder Armut kann annehmen eine große Hürde oder Belastung sein, oder ein Geben eines großen Vertrauens, weil auf diese Art ein Abhängigkeits- oder Machtverhältnis entstehen mag.

Auch Geben und Schenken bedarf demzufolge Konsens von allen Beteiligten.

tweet