Am Weltgefüge Rütteln

CN: Nadeln vielleicht? Könnte assoziiert werden. Sex. Masturbieren. Erinnerungen an ein Massaker und an Leichen. Gedanken über sexuelle Interessen von Kindern. Sanism. Internalisiertes Kinkshaming, Dominition-Submission-Spiele, Breath Play.

“Lil ist weg. Kannst du mich ablenken?”, fragte Drude. “Auch gern, indem wir den Plan noch einmal durchgehen. Aber vielleicht ist das morgen mit mehr Abstand besser.” Drude lehnte sich von innen gegen die Tür zum Kartenraum, die dey gerade verschlossen hatte. Es war spät am Abend, kurz vor ihrer ersten nächtlichen Schlafenszeit.

“Ich würde wieder meine ersten drei Stunden Schlaf schwänzen und Lajana aufsuchen.”, informierte Lilið. Wenn Drude es ohnehin mitbekam, dann konnte Lilið auch gleich mit offenen Karten spielen.

“Das dachte ich mir schon.”, sagte dey. “Sieh weiterhin zu, dass dich außer mir niemand bemerkt, sonst fliegt auf, dass ich dich decke und behaupte, du schliefest.”

“Ich werde mir große Mühe geben, wie immer.”, versprach Lilið. Es berührte sie ein wenig, dass Drude sie deckte.

“Bleibst du die ganzen zwei Stunden im Raum? Also, die, die von der jeweiligen halben Stunde umrahmt sind, die du dir zum Hin- und wieder Zurückkommen nimmst?”, fragte Drude.

Lilið nickte.

“Dann schlafe ich in dem Zeitraum. Und hoffe, dass alles gut geht und die Wache sich dran hält, dass sie Lajana Privatsphäre geben möchte.”, beschloss Drude.

“Du sagtest, es wäre der sicherste Raum auf der Kagutte?”, fiel Lilið wieder ein.

“Ja!” Drude durchschritt den Raum und setzte sich Lilið gegenüber an den Kartentisch. “Die Wache schirmt Licht, Geräusche, Präsenz von Menschen und Magie darin so gut ab, dass nicht einmal ich Magie durch die Tür wahrnehme. Ihr könntet darin sonst etwas tun und ich würde es nicht merken.”

Lilið runzelte die Stirn. “Gehst du nicht ein großes Risiko damit ein, dass du mir das jetzt sagst?”, fragte sie.

“Als hätte ich dich nicht genügend mit anderen Dingen im Griff, wenn ich nur wollte, sodass das Machtgefälle zwischen uns geklärt ist.”, erwiderte Drude. “Ich fände gut, wenn das Machtgefälle zwischen uns ausgeglichener wäre. Deshalb erzähle ich dir das. Und ich werde dir auch noch andere Dinge erzählen. Über die Macht, die du haben könntest. Morgen. Lieber nicht so kurz vorm Schlafengehen, wegen der grausamen Bilder, die dabei hochkommen können.”

Lilið nahm eines der Messinstrumente aus der Schublade im Kartentisch, das sie gleich brauchen würde. “Vor meiner letzten Messung vorm Schlafen hätte ich tatsächlich noch eine Frage, die Ablenkungscharakter haben könnte.”

Über Drudes Gesicht huschte wieder so ein kurzes Lächeln. “Her damit!”

“Hast du das Igeldings gesehen?”, erkundigte sich Lilið.

Drude nickte.

“Hältst du es für gefährlich?” Das war die Frage, mit der sich Lilið heute bei Lajana auseinandersetzen wollte, aber vielleicht wusste Drude bereits etwas.

Drude schüttelte den Kopf. “Es ist nicht magisch.”, sagte sie.

Richtig, Drude konnte so etwas ja wissen, fiel Lilið ein. Lilið runzelte die Stirn. “Nicht?”

“Sicher nicht. Es bitzelt manchmal ein bisschen, wenn es angefasst wird.”, fuhr Drude fort.

“Meinst du damit, dass es piekst?”, fragte Lilið.

Drude schüttelte den Kopf. “Dass Stacheln pieksen, brauche ich dir wohl nicht extra zu verraten.”, sagte dey. “Es ist mehr wie ein Feuerstein, oder noch eher wie ein Zitteraal vielleicht, aber den kennt ihr landliebenderen Menschen meistens auch nicht so gut, dass ihr wisst, wie das ist. Es ist wie ein unangenehmes, spitzes Kribbeln unter der Haut. Nicht nur auf der Haut. Es zieht in den Körper hinein. Probier es einfach aus!”

Lilið beschloss, mit der Idee, es einfach auszuprobieren, lieber noch zu zögern. “Du findest das nicht unheimlich?”, fragte sie.

“Vielleicht sollte es mir unheimlich sein, aber ist es nicht.”, antwortete Drude. “Vielleicht ist dafür relevant, dass Lajana das Igeldings schon bei sich hatte, als wir sie entführt haben. Es kommt also nicht von unserer Seite. Das würde es unheimlicher machen. Aber da draußen gibt es immer wieder neue, spannende Naturphänomene. Ich gehe da eher mit Neugierde dran als mit gruseligen Gefühlen. Ein bisschen Vorsicht schadet sicher nicht. Aber ich habe, glaube ich, auch eine Grundsympathie für ungewöhnliche Kreaturen und Naturphänomene, weil ich abgelehnt werde, weil ich irgendwie anders bin, und mich deshalb mit all dem identifiziere.”

Lilið nickte nachdenklich. “Ich glaube, das kann ich verstehen.”, sagte sie. “Du glaubst also, das Igeldings ist irgendwie natürlichen Ursprungs? Also, nicht von Menschen gemacht?”

“Das ist mein Eindruck.”, antwortete Drude. “Aber gute Frage. Vielleicht liege ich auch falsch.”


Lilið grinste in sich hinein, als sie sich eine gute halbe Stunde später vor Lajana im sichersten Raum der Kagutte entfaltete und ihr bewusst wurde, wie stark sie Drudes Ansicht beeinflusst hatte. “Darf ich dein” – sie korrigierte sich – “das Igeldings berühren?”

Besagtes Igeldings lag unbewegt zwischen ihnen. Lilið hatte es wieder geschafft, beim Entfalten direkt eine sitzende Haltung mit gesenktem Kopf einzunehmen. Aber sich daran erinnernd, dass Lajana nicht wollte, dass Lilið sich unterordnete, hob sie den Kopf sofort wieder und blickte erst sie und dann das Igeldings an.

“Igeldings!” Lajana sprach die Entität laut und deutlich an. “Der andere Mensch möchte dich gern anfassen. Erlaubst du das?”

Konnte es sie hören? Lilið war erst kurz irritiert, dann fasziniert. Hatte es Ohren?

Das Igeldings rührte sich nicht sofort, aber noch während Lilið sich Gedanken machte, wie ein Ohr an diesem Wesen aussehen könnte, streckte es die unteren Stacheln durch und rollte ihr entgegen.

“Ich verstehe das als Zustimmung.”, informierte Lajana.

Lilið nickte und grinste nun nicht mehr nur innerlich. “Das würde ich auch so verstehen.”, sagte sie. “Ich bin gerade sehr fasziniert.”

Kurz bevor das Igeldings ihre Knie berühren würde, streckte Lilið eine Hand aus, sodass es stattdessen gegen jene rollen würde. Sie konnte beobachten, wie die haardünnen Stacheln auf sie reagierten, als der Abstand vielleicht noch einen Zentimeter betrug. Dort hielt es an.

Lilið schloss die Augen, weil sie den Eindruck hatte, die Nähe zu spüren und möglichst nur auf dieses Gefühl fokussieren wollte. War es einfach Körperwärme? Aber da war etwas, was ihre Härchen aufstellte. Sie näherte sich sehr langsam mit den Fingerspitzen. Das ganz zart ziepende Gefühl unter ihrer Haut wurde stärker und als sie das Igeldings berüherte, fühlte sie nicht nur das sachte Pieksen von vier Stacheln auf ihrer Haut sondern auch das Bitzeln, von dem Drude erzählt hatte. Sie trennte die Berührung kurz, obwohl sie sich kaum erschreckt hatte, und berührte die Stacheln ein zweites Mal, noch vorsichtiger. Dieses Mal bitzelte es weniger. Sie fühlte nur eine ziehende, leichte Anspannung unter der Haut, die sie in einem anderen Kontext als unangenehm bezeichnet hätte.

Sie behielt die Berührung aufrecht, während sie darüber nachdachte, was sie als nächstes tun wollte. Das Nachdenken fiel ihr schwer. Erst bloß, weil sie eben immer noch müde war und eigentlich mit dem Kennenlernen neuer Personen, Fluchtplanung und Navigation ohnehin schon genügend Themenkomplexe gleichzeitig konzentriert bearbeiten musste. Dann lenkte sie aber auch ab, was dieses Igeldings tat: Es bitzelte abermals, einfach so aus dem Nichts. Dieses Mal zuckte das Igeldings zurück, aber berührte sie kurz darauf von sich aus wieder. Als nächstes spürte Lilið, wie das Ziehen unter der Haut, das ganz leicht nur bis in ihren Ellbogen hineinzog, langsam stärker wurde und dann wieder schwächer. Es begann zu pulsieren. Und dann hörte es auch wieder auf. War das die Art des Igeldings zu kommunizieren?

“Hast du etwas gesagt?”, fragte Lilið es so laut und deutlich wie Lajana es getan hatte.

Lajana schüttelte den Kopf. “Ich habe nichts gesagt und das Igeldings kann nicht sprechen. Es hat gar keinen Mund.”, sagte sie.

“Vielleicht spricht es nicht mit dem Mund.”, erwiderte Lilið. “Sondern mit dem Gebitzel über die Stacheln.”

“Ich habe schon Ja-Nein-Spiele probiert. Kennst du so etwas?”, fragte Lajana.

“Meinst du das Vorgehen, in dem du Fragen stellst, die mit ‘ja’ oder ‘nein’ beantwortet werden können, und im einen Fall rollt es von rechts nach links und im anderen umgekehrt oder so etwas?”, fragte Lilið.

“Genau!” Lajana wirkte erfreut und flatterte kurz mit den Armen.

Lilið erinnerte sich, dass sie diese Geste als Kind auch als Ausdruck von Freude getan hatte, aber sie hatte sich das irgendwann abgewöhnt. Warum eigentlich?

“Also fast.”, korrigierte Lajana. “Ich habe gesagt, ‘ja’ ist auf mich zurollen und ‘nein’ von mir wegrollen. Weil ich eine Rechts-Links-Schwäche habe. Und außerdem, weil wir uns dann nicht einigen müssen, von wem aus rechts oder links.” Lajana seufzte. Es war kein schweres Seufzen. “Aber wir haben uns nicht verstanden. Manchmal dachte ich, es klappt, aber dann hat es einfach gar nicht mehr reagiert oder ist doch nach links oder rechts gerollt oder hin und her. Ich glaube, es wird schnell müde.”

Bei der Erwähnung von Müdigkeit überkam Lilið ein Gähnen. “Das kann ich gerade sehr gut verstehen.”, murmelte sie.

“Dich belasten bestimmt ganz viele Dinge gleichzeitig.”, sagte Lajana. “Möchtest du lieber schlafen, als mit mir zu spazieren und von Marusch zu erzählen? Möchtest du vielleicht auf einer Decke liegen, während ich dich streichle und du erzählst von Marusch, bis du einschläfst?”

Mit einer Königin kuscheln, dachte Lilið. Ihr Kopf versuchte, gleichzeitig in widersprüchliche Richtungen zu denken: Dass das doch sehr verlockend klang und dass es sich überhaupt nicht gehörte und sie sich doch noch kaum kannten. Aber ihr Blick wanderte zu Lajanas Händen, die mit sticken beschäftigt waren. Die Haut hatte einen ähnlichen Braunton wie die von Marusch. Die Finger waren vergleichsweise kurz und ihre Bewegungen beim Sticken versprachen eine Sanftheit, die Lilið vermisste. Sie nickte einfach. “Eigentlich schon sehr gern.”, gab sie zu. “Ich habe ein bisschen Angst davor. Davor, dir zu nahe zu kommen. Weil wir uns kaum kennen.”

“Was soll denn schon passieren?”, fragte Lajana.

Was sollte denn schon passieren, wiederholte Lilið in ihrem Kopf. Sie spürte das Kribbeln, das das Igeldings in ihr auslöste, in ihren Fingern und ihrem Arm. Sie merkte, dass sie sich darauf nicht konzentrieren konnte. Aber es hatte was mit Physik zu tun, wurde ihr unvermittelt klar. Sie hoffte, dass sie noch einmal Gelegenheit haben würde, sich darum zu kümmern. Ihr Körper ließ los und legte sich einfach zur Seite ab, die Hand in der Nähe des Igeldings belassend, sodass sie die Schwingungen immer noch leicht spürte. Wie ein Hintergrundrauschen.

Lajana stand auf, stopfte ihren Pullover und eine dünne Decke um Lilið herum und rollte Liliðs Oberkörper in ihren Schoß. “Hattet ihr Sex?”

“Was?” Lilið war plötzlich wieder viel wacher, als sie vermutet hätte, dass es ihr im Moment möglich wäre.

“Marusch hat mit vielen Leuten Sex, die sie mag, glaube ich.”, sagte Lajana.

Liliðs Anspannung fiel wieder ab. Sie war es wirklich nicht gewohnt, so offen darüber zu reden. Eigentlich, fand sie, war verwunderlich, dass das Thema Sex mit Marusch, Drude und nun auch mit Lajana so schnell auf den Tisch kam. Bei Drude hatte sie damit angefangen, fiel ihr auf. Und Drude war nicht so richtig darauf angesprungen, oder doch? Lilið gab sich Mühe, nicht wieder an diese Situation zu denken, weil ihr Körper so stark darauf reagiert hatte und sie das bei Lajana nicht wollte.

“Marusch und ich hatten Sex.”, sagte sie. “Es kommt vielleicht darauf an, was genau Sex genannt wird. Aber wir haben es so genannt.”

Lajanas Hand streichelte Lilið durchs Haar. Es war so eine zarte, zutrauliche Berührung, dass Lilið fast geschnurrt hätte.

“Hattest du Sex mit Marusch?”, stellte Lilið die selbe Frage zurück.

“Nein.”, antwortete Lajana. “Ich wollte eigentlich. Vielleicht. Ich würde gern mal Sex mit einer Person haben und nicht nur mit mir selbst. Aber Marusch meinte, wir kennen uns schon so lange. Und sie hat viel Erfahrung und ich wenig. Das Risiko ist zu hoch, dass sie mich dann ausnutzen kann.” Nachdenklich fügte Lajana hinzu: “Sie hat mich noch nie ausgenutzt.”

“Marusch ist die wenigst ausnutzende Person, die ich kenne.”, murmelte Lilið. Schneller als sie denken konnte. “Bei Sex zumindest. Sie hat so sehr darauf geachtet, dass ich mich wohl fühle.”

“Sie achtet immer darauf, dass alle sich wohl fühlen.”, stimmte Lajana zu. “Aber das ist nicht immer gut für sie. Manche Menschen nutzen das furchtbar aus. Also sie wird eher ausgenutzt als dass sie ausnutzt.”

“Das kann ich mir vorstellen.”, murmelte Lilið. Sie versuchte, in ihrer Erinnerung ein Beispiel zu finden. Zunächst fragte sie sich, ob sie es getan hatte. Aber dann drangen fast gegenteilige Erinnerungen in den Vordergrund. “Wir haben uns kennengelernt, als sie bei mir eingebrochen ist. Sie war sehr charmant und ich habe sie wiedersehen wollen. Vielleicht war ich verliebt.” Lilið bemerkte, wie bei der Erinnerung dasselbe Gefühl von damals in ihr aufkam. “Ich bin es immer noch.”, korrigierte sie. “Marusch wollte mich auch wiedersehen. Sie hat mir eine Option eröffnet, wie ich aus dem Plan aussteigen konnte, den andere für mich festgelegt hatten. Und mir dann ein Angebot gemacht, dass wir uns danach wiedertreffen könnten. Nur wäre ich bei dieser Option fast gestorben.”

Lajana sog erschrocken die Luft ein. “Was ist passiert?”

Lilið versuchte, sich gedanklich zu sortieren, was nur halb klappte, und erzählte von den Erlebnissen von ihrer ersten Begegnung mit Marusch bis zu ihrer zweiten eher chaotisch.

Lajana hörte genau zu und stellte Nachfragen, sodass sie alles verstand. “Der Ball, wo ihr dann getanzt habt, war der Angelsoger Adelsball?”, versicherte sie sich.

Lilið nickte. Dabei verhedderten sich kurz Lajanas Finger in ihrem Haar.

“Da war ich am Anfang kurz, aber ich soll bei so etwas nicht zu lange sein, weil ich allen zu peinlich bin.”, sagte sie. “Jetzt verstehe ich, warum Marusch so aufgeregt war.”

“Marusch war aufgeregt?”, fragte Lilið nach. Sie dachte erst, der warme Gedanke an Marusch, dass sie sich damals auf Lilið gefreut hätte, sollte sie glücklich machen, aber stattdessen fühlte Lilið, wie ihr Tränen kommen wollten. Es war schon mehrfach in diesem Gespräch passiert, aber sie hatte es sich bis jetzt nicht eingestanden.

“Ich glaube, sie war in Sorge, dass dir etwas passiert sein könnte, aber sie hat darüber nicht viel erzählt. Ich habe das nur gespürt.” Lajanas Berührungen wurden bei den Worten besonders weich. “Sie hat alles getan, um dir zu helfen, aber wusste, dass du Probleme kriegen könntest.”

Lilið war nicht derselben Meinung. So sehr sie Marusch auch verteidigen wollte. “Wenn sie mich schon in Gefahr bringt, hätte sie wenigstens eine Möglichkeit finden müssen, mich besser vorzuwarnen.”

“Ich bin sicher, das hätte sie getan, wenn sie gewusst hätte, wie.”, beharrte Lajana. “Und ich glaube, das ist auch der Grund für das schlimme Gewissen, das sie geplagt hat. Sie glaubt, was falsch gemacht zu haben.” Nachdenklich fügte Lajana hinzu: “Aber vielleicht hat sie auch was vorhergeahnt und ihr ging es deswegen schlecht.”

“Vorhergeahnt?”, fragte Lilið.

“Ich war noch ein paar Tage in einem Besuchshaus untergebracht, aber auf der Rückreise zu unserem Schloss wurde ich entführt.”, erklärte Lajana. “Vielleicht hat Marusch geahnt, dass es zu so etwas kommen würde. Sie hat mir oft erklärt, wie ich mich in so einem Fall verhalten soll.”

“Willst du mir davon erzählen?”, fragte Lilið.

“Nein.”, antwortete Lajana schlicht.

Dann schwiegen sie eine Weile. Liliðs Erinnerungen streiften über den zweiten Teil ihrer Reise mit Marusch. Marusch hatte versucht, ihr zu helfen. Und doch wäre sie ohne Marusch vielleicht nicht an Bord der Kriegskaterane gelandet, während diese zerstört worden war. Es war nicht Maruschs Schuld. Lilið hatte sich im vollen Bewusstsein und freiwillig ein Leben ausgesucht, in dem so etwas nun passieren konnte. Sie hätte die Gelegenheit, sich zu diesem Leben zu entscheiden, in jedem Fall ergriffen, selbst wenn es nicht Marusch gewesen wäre, die diese Türen für sie geöffnet hätte. Sie war hier auf einer Kagutte mit Menschen, deren Macht und Brutalität wahrscheinlich die der Wachen im Hofstaat ihres Vaters weit übertrafen. Sie war hier um die Prinzessin zu retten. Die Königin, korrigierte sie sich mal wieder. Und bei solchen Aktionen war vorprogrammiert, dass sie eben früher oder später noch dichter sinnlose, grausame Gewalt miterleben würde als daheim.

Sie erinnerte sich an die Leiche des Langfingers damals, die sie im Kühlhaus betrachtet hatte. Sie war nicht so zerstückelt gewesen wie Teile der Besatzung der Kriegskaterane. Aber als sich Lilið nun an die Bilder erinnerte, die sich versucht hatten, in ihr Gehirn zu brennen, als sie wie im Traum über das zerberstende Deck gegangen war, konnte sie sie so wissenschaftlich begutachten wie die Leiche damals. Es war kein schreckliches Bild. Sollte sie sich dafür schämen, dass sie die Bilder in ihrem Kopf eher faszinierten als erschreckten?

Sie hatte keinen Bezug zu diesen Menschen. Sie fand schlimm, dass sie einfach ermordet worden waren, und wie sinnlos das Ganze gewesen war. Wofür? Menschen mussten sterben, weil es deren Aufgabe war, ein Schiff zu überfallen, das eine vermeintliche Prinzessin an Bord hatte, die eigentlich längst auch offiziell hätte Königin sein sollen. Andere Menschen hatten sie an Bord, um einen Krieg zu vermeiden, der nur wegen etablierten Gesetzen und existentem Machtgefälle geführt würde, weil die Königin einen zu niedrigen Skorem hatte. Es war vertrackt und so sinnlos. So große Mächte, die durch die Gegend rollten, dabei dauernd irgendetwas platt machten und überhaupt nur existierten, weil sie an irgendwelche abstrakten Werte geknüpft waren, die nichts mit Glücklichkeit oder logischen Gemeinschaftsgedanken zu tun hatten. Werte, die einfach nur ein menschenfeindliches Weltgefüge aufrecht erhielten, aber inzwischen zu groß gewuchert waren, als dass Menschen sie überdenken und das Gefüge zerstören könnten. Sie steckten ja selbst mittendrin.


“Würdest du vielleicht Sex mit mir haben?”, fragte Lajana.

Lilið schreckte aus dem Schlaf hoch, in den sie beim Nachdenken über das Weltgefüge hineingerutscht war. “Du willst Sex mit mir?”

“Ich möchte, wie gesagt, mal Sex mit einer Person haben.”, wiederholte Lajana. “Und du bist schön weich.”

Lilið wartete einen Moment, ob Lajana noch etwas sagen würde, aber diese blieb still. “Stehst du auf mich?”, fragte Lilið. “Sexuell meine ich.”

“Muss ich das?”, fragte Lajana.

Lilið schüttelte den Kopf. Dieses Mal verstrickten sich Lajanas Finger dabei nicht in ihren Haaren. Lilið bemerkte erst jetzt, dass Lajanas andere Hand inzwischen ihren Oberarm streichelte. Das war schön. Lilið merkte, wie ihr müder Körper auf Lajanas Zärtlichkeit in Kombination mit der Nachfrage reagierte. Sie mochte begehrt werden, schien ihr. “Du musst mich jedenfalls natürlich nicht sexuell anziehend finden.”

“Ich glaube, das tue ich auch nicht.”, sagte Lajana. “Ich fühle mich nur sicher bei dir. Und wir sind uns eh schon nahe. Daher frage ich. Können Menschen, die bloß befreundet sind, keinen Sex haben?”

Liliðs Körper beruhigte sich wieder. “Doch, ich denke, das geht.”, murmelte sie. “Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Oder doch?” Sie dachte daran, dass sie kürzlich Drude so eine Frage gestellt hatte. “Ich glaube, ich hätte Lust zu Sex.” Von Kuscheln mit einer Königin also nun zu Sex mit einer Königin. Lilið konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. “Entschuldige, ich will dich nicht auslachen.”, sagte sie schnell. “Mir kommt die Situation gerade nur absurd vor. Hast du genauere Vorstellungen von Sex mit mir?”

“Es kommt vielen absurd vor, über Sex zu reden.”, stellte Lajana fest. “Bist du prüde?”

Lilið kicherte. “Nicht besonders, denke ich. Aber vielleicht prüder als du.”

“Ich mag gern Decken zwischen meinen Beinen reiben. Und ich stelle mir vor, dass ich das dann einfach mit deinem Bein mache.”, überlegte Lajana. “Aber ich habe eigentlich keine Ahnung von Sex. Meine Mutter möchte mir Sex mit Leuten allgemein verbieten. Sie meint, ich würde ewig ein Kind bleiben und Kinder sollten keinen Sex haben. Ich bin aber kein Kind.”

Lilið hörte Wut aus Lajanas Stimme und fühlte sofort mit. Sie grub, einem Impuls folgend, ihren unteren Arm unter ihrem Körper hervor und legte ihre Hand auf Lajanas. Auf die, die über Liliðs Oberarm streichelte. “Ich hatte auch relativ spät das erste Mal Sex.”, sagte sie. “Mit Marusch übrigens. Das war mein erstes Mal mit einer anderen Person. Aber ich hatte als Kind schon Interesse an Sex. Ich finde, dass du kein Kind bist. Du bist älter als ich. Aber selbst wenn du ewig Kind bleiben würdest, solltest es dir nicht verboten werden.”

Was sagte sie da, fragte sich Lilið. Sie meinte es, aber es war ein haariges Thema. Sie würde sicher nicht mit einem Kind Sex haben wollen. Und als Kind hätte sie nicht mit irgendeiner erwachsenen Person Sex haben wollen, zumindest mit keiner von denen, die sie gekannt hatte. Sie konnte auch nicht leugnen, dass sie sich fürchtete, dass es hier ein Machtgefälle geben könnte, das in eine ähnliche Richtung ging wie jenes zwischen Erwachsenen und Kindern. Eigentlich hielt sie Lajana wirklich nicht für ein Kind. Aber sie dachte einfacher als Lilið. Auf irgendeine Weise. Und dann wieder auch nicht, dann wieder verstand sie ganz viel. Das war allerdings bei Kindern auch der Fall. Kinder verstanden manche Dinge viel besser als die meisten Erwachsenen. Das war Lilið einmal aufgefallen, als sie als jugendliche Ausbildungshilfe beim Segeln die Interaktion zwischen den Segelkindern und den erwachsenen Aufsichten beobachtet hatte. Kinder wurden ständig unterschätzt und hatten ihre ganz eigene Art von Weisheit.

War Lajana doch ein Kind? Im Alter von irgendwas zwischen 25 und 35 Jahren? Wie war der Begriff Kind definiert? War es nicht viel sinnvoller, den Begriff Kind an Körperentwicklung festzumachen, weil die Entwicklung des Denkens so individuell ablief? Allein durch ihr Alter hatte Lajana mehr Erfahrungen als ein Kind gemacht.

Die Überlegungen waren zwar interessant aber eigentlich Unsinn, stellte Lilið fest. Sie spürte deutlich, dass Lajana kein Kind war. Sie war vielleicht in manchen Punkten naiv, aber anders naiv als die Segelkinder. Sie kannte ihre Probleme und wusste, was sie wollte.

“Ich bin kein Kind!”, wiederholte Lajana.

“Ich weiß.”, antwortete Lilið.

“Aber du hast jetzt trotzdem Angst davor, Sex mit mir zu haben.” Lajana sagte es weniger emotional, eher, als wäre es einfach eine Feststellung.

Woher wusste sie das? “Ein wenig.”, gab Lilið zu. “Du hast in Zusammenhang mit Marusch auch von der Gefahr erzählt, dass sie dich ausnutzen könnte. Ich habe Angst, dass mir das passiert.”

“Warum?”, wollte Lajana wissen. Und fügte hinzu: “Bedränge ich dich?”

“Du bedrängst mich nicht.” Lilið schüttelte den Kopf. “Weil ich”, sie seufzte, “weil, wenn du mich erotisch anfasst, ich dich vielleicht zurückanfasse, und dabei in eine Art Rausch geraten könnte, in dem ich mir Dinge von dir nehme, weil du bereitwillig wirkst, die dich überfordern könnten.” Lilið atmete tief ein und aus. “Vielleicht ist das Unsinn. Ich bin selbst nicht sehr erfahren. Und ich würde vielleicht immer nachfragen und sehr vorsichtig sein. Ängste sind nicht immer rational.”

“Ich könnte dich festhalten.”, schlug Lajana vor.

“Also, dass ich gar nichts machen kann?”, fragte Lilið. Dieses Mal brauchte ihr Körper einen Moment zum Reagieren, aber er tat es. Als sie sich vorstellte, wie Lajana ihre Arme festhielt und sich an ihr reiben würde, zog es sich in ihr zusammen, und sie mochte das.

“Genau!”, bestätigte Lajana. “Ich sage dir ein Geheimnis, ja?”

Lilið fragte sich einen Moment, ob sie Lajana sagen sollte, dass sie vorsichtig mit dem Teilen von Geheimnissen sein sollte. Aber Lilið hielt sich selbst für vertrauenswürdig genug und war zu müde zum Diskutieren. Also nickte sie einfach.

“Ich mag die Vorstellung, mit Leuten Sex zu haben, die das genießen und sich nicht wehren können.”, erklärte Lajana. “Ich mag meistens keine Machtgefälle, aber bei Sex schon. In meinem Kopf. Ich habe Angst, darüber zu reden, aus zwei Gründen. Erstens, weil ich Angst habe, dass die Personen, mit denen ich Sex hätte, hinterher nicht mehr raus kommen. Also, dass es nicht wieder normal zwischen uns werden kann. Und zweitens, weil ich immer denke, das ist doch nicht normal. Irgendwas in mir ist kaputt.”

Lilið drehte sich das erste Mal, seit Lajana sie in Pullover und Decke verpackt hatte, und zwar so auf den Rücken, dass sie Lajana ins Gesicht sehen könnte. “Du bist nicht kaputt.”, sagte sie eindringlich. “Ich habe kürzlich herausgefunden, dass ich sexuell reagiere, wenn ich mich nicht wehren kann. Das war irritierend. Aber ich glaube, Vorlieben im Zusammenhang mit sexuellen Interessen sind einfach sehr verschieden und kurios. Du bist nicht kaputt deswegen.”

Lajana strich ihr mit den Fingern durchs Gesicht. Und legte dann ihre Hand sachte auf Liliðs Mund und Nase.

Die Wirkung traf Lilið mit Wucht. Diese kleine Geste genügte, um sie zu elektrisieren. Sie wehrte sich nicht. Aber für einen Moment fragte sie sich, ob ihr das zu viel wäre und wohin das hinführen würde.

“Darf ich mich auf dich legen?”, fragte Lajana.

Lilið nickte.

Lajana legte sich aus ihrer sitzenden Haltung erst vorsichtig neben sie und rollte sich dann auf Liliðs Körper, eines von Liliðs Beinen zwischen ihre geklemmt. Dazu hatte sie die Hand wieder von Liliðs Mund genommen.

So schnell ging das mit Sex, dachte Lilið. Sie rührte sich nicht, atmete nur etwas rascher. Aber etwas in ihr sperrte sich. Richtig, sie hatten kaum noch Zeit. Wieviel Zeit hatten sie eigentlich?

Lajana drückte Liliðs Arme, die eh schon neben Liliðs Körper lagen, an Liliðs Körper und versuchte, sie dort zu fixieren. Aber als sie ihren Schritt über Liliðs Bein schob, zuckte Lilið doch und kam dabei, ohne es zu wollen, mühelos gegen Lajanas Griff an. Sie versuchte, die Arme zu entspannen.

Auch wenn nichts weiter daraus werden sollte, – und so fühlte es sich für Lilið gerade an –, war es ein wunderschönes Erlebnis. Sie genoss es, nichts tun zu müssen und einfach mit ihrem Körper dienen zu können. Sie wünschte sich, abschalten zu können. Sich nicht darauf konzentrieren zu müssen, ihren Körper locker zu lassen. Bei Drude war sie tiefer in diesen Zustand gerutscht. Ein Zustand, der sie zu dem Zeitpunkt noch sehr beängstigt hatte, und es eigentlich immer noch tat, aber nun war sie bereit dazu, glaubte sie. Wenn sie nur abschalten könnte.

Lajana rollte von ihr wieder herunter. “Du bist stärker als ich.”, murmelte sie.

Lilið nickte. “Das ist mir auch aufgefallen.” Sie versuchte, diesen einen Moment zu greifen und abzuspeichern, den sie gerade so genossen hatte. “Ich mochte, als du mir die Hand auf den Mund gelegt hast.”

“Ja!”, rief Lajana mit einem Grinsen in der Stimme. “Da hast du kurz aufgegeben, glaube ich.”

“Stimmt.”, sagte Lilið. Das war es! Lajana hatte recht. “Ich würde gern besser aufgeben können.”

“Wir können das morgen weiter probieren, wenn du willst.”, sagte Lajana. “Du musst los.”

Lilið wandte ihr den Kopf zu und lächelte. “Ich bin dir sehr dankbar gerade. Weißt du das?”, sagte sie. “Ich habe jetzt auch das Gefühl, weniger kaputt zu sein.”