Lyrember II, Charaktererschaffung, 2019
Content Notes: Mord, Zynismus
Lyrember ist eine Challenge, ähnlich wie Inktober, nur mit Text (Lyrik und Prosa) statt Tintenbildern und im November, nicht im Oktober. Die Aufgabe vom 1. November war wie folgt:
Jeder teilnehmenden Person wurde eine andere zusortiert, die dieser dann zwei bis vier Stichworte geben durfte. Aus diesen Stichworten sollte die jeweils andere Person dann einen Charakter skizzieren.
Ich erhielt: Sandmann, Muttersprache, gefährlich
Daraus baute ich folgende Figur:
Seit die DDR entgrenzt worden ist, ist es dem Sandmann zu viel Arbeit, alle Kinder am Abend zu bestreuen. Daher sucht er für jedes Land alle Jahre wieder eine sterbliche Assistenz, die die Landessprache als Muttersprache spricht. Wegen der sprachlichen Barriere bewirbt sich die Assassinin Sandra (‘Assassinin’ und ‘Assistentin’ sehen doch recht ähnlich aus, und ‘Sand’ und ‘sterblich’ stand auch in der Anzeige) auf eine solche Stelle. Es muss wohl nicht dazu gesagt werden, dass sie gefährlich ist...
Drei Tage später am 4.November wurde dann eine neue Zuordnung ausgelost und jede Person gab einer anderen Person eine Situation, in die die Figur gerät. Aufgabe war dann, zu schreiben, wie der Charakter reagiert.
Ich erhielt: schlafwandelnder Trump erwacht an Schnatterinchens Nest
Daraus bastelte ich folgende Geschichte:
Assassandra
Sie hatte den Auftrag nicht so ganz genau verstanden. Nur die Adresse hatte sie sich genau buchstabieren lassen. Sie würde dann einfach vor Ort herausfinden, wer zu morcheln wäre. Oder hieß es meucheln? Diesen ollen Sandmann hätte sie gut morchelmeucheln können. Er hatte richtig festgestellt, dass seine Berufsbezeichnung und ihr Name beide mit 'Sand' anfingen. Er war ein Mann, und als sie ohne Sand aufbrechen gewollt hatte, hatte er angemerkt, dass dem 'ra' an 'Sandra' wohl ein 'r' fehlte: Sie wäre wohl rar an Sand für eine Sandassistentin. Sie war trotzdem ohne Sand aufgebrochen.
Das Szenario, dass sie an der Adresse vorfand, war verwirrend. An sich war Sandra das gewohnt, brauchte immer ein wenig, um herauszufinden, wen sie töten sollte. Meistens riet sie richtig. Aber dies hier war doch auffällig verwirrend. Keine Maffia, keine 'Linksextreme' (die Aufträge mochte sie ohnehin nicht), keine reichen Verwandten von irgendwelchen zukünftigen Erben. Vor Ort waren so ein oller Hund, der sein Gebell zwischen den Worten nicht so unter Kontrolle hatte, sowie ein wenig selbstbewusstes, nicht zuordnbares Wesen (ein bisschen wie Sandra selbst vielleicht) und eine Holzente (die hatten es alle ein bisschen mit Holz, auch der Sandmann war etwas hölzern gewesen), mit Namen Schnatterinchen. Das Viech laberte mehr als dass es schnatterte, permanent besserwisserisch und klärte vorwiegend den immerhin nicht sehr verletzlichen Hund darüber auf, was er alles falsch machte. [Anmerkung des Schreibfischs: Ich habe tatsächlich eine Folge Sandmann gesehen, um hier ein objektives Bild zu vermitteln, jaja] Wenn Sandra hätte wählen dürfen: Das wäre wohl ihr Opfer gewesen. Diese Art der Kritik war pädagogisch einfach nicht mehr modern, und das aus gutem Grund.
Auch die Holzente selbst war nicht mehr modern. Sie war alt. Sehr alt. Und müde. Als hätte sie es sehr satt, diesen belehrenden Charakter zur Schau zu stellen. Sandra war auf einmal ruhig, gelassener als zuvor, fühlte dieses Alter, als wäre es ihr eigenes. Sie verharrte in der Zimmerecke im Schatten und hatte Mitleid, wartete, bis der Hund mit dem anderen Wesen gegangen war. Wartete, bis sich Schnatterinchen hingelegt hatte und versuchte zu schlafen. Bitter nötiger Schlaf, der nicht kam. Stattdessen sprach sie mit einer Sockenpuppe, die Sandra bis dahin gar nicht aufgefallen war. Ein Strumpf mit gelben Haaren, gefüllt mit Sand, vielleicht mit dem Schlafsand, der jeden Abend gebracht wurde, und nicht in Schnatterinchens Augen landete. Sandra verstand kein Wort der Konversation, aber sie wusste sofort, dass es voll Unbehagen war. Instinktiv, ohne weiter darüber nachzudenken, sprang sie aus der Ecke und säbelte der Sockenpuppe die Knotenfüße weg, und in der selben fließenden Bewegung rasierte sie ihr den Kopf. Das Töten war an diesem Abend auch längst überfällig. Allerdings war sie nicht sicher, ob man ein Sockenwesen töten konnte. "Du hast dem Strumpf beide Enden abgeschnitten, jetzt ist es ein Trump!", rief Schnatterinchen auf. Sie sahen sich einen Moment voller Entsetzen an. "Ich würde viel lieber differenziert über solche Themen, über politische Inhalte reden.", murmelte die Holzente, "Aber wenn ich mich bei Zeitungen bewerbe, vermuten sie immer, dass ich nur Enten produziere." Schnatterinchen klagte Sandra die ganze Nacht ihr Leid, während schlafloser Sand ungeträumter Träume aus dem Trump quoll. War wohl bitter nötig. Sandra hörte zu, und als der Morgen graute, und das alte Schnattertier müde und viel entspannter war, bückte sie sich nach dem herausgerieselten Sand aus dem labberigen Trump. "Ich werde dann sicher den ganzen Tag schlafen.", murmelte das müde Entenvieh, "Entspricht ohnehin eher meinem natürlichen Schlafrhythmus. Der Sandmann hat da auf individuellen Rhythmus nie Rücksicht genommen." Sandra lächelte zum ersten Mal und streute den Sand über Schnatterinchen. "Du bist eine gute Sand-Ra. Ra, wie der ägyptische Gott der Sonne, weißt du?", sagte sie, bevor sie erschöpft einschlief und immer noch alt dabei aussah, aber viel eigener.
Und Sandra, die nie schlief, brach auf in das kalte Morgengrauen.
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