Stille Nacht
CN: Reden über Massaker, Reden über Sex, Schlafmangel, religiöse Rituale und Kleidung - mehrfach erwähnt.
Lilið warf einen letzten Blick auf die halb zerstörte Zentral-Sakrale, die im Mondlicht am Horizont schimmerte. Selbst bei Nacht und über diese Distanz konnte sie das beeindruckende Gebäude noch klar genug ausmachen, zeichneten sich die dunklen, durchtrennten Räume gegen das äußere helle Material der noch stehenden Mauern ab. Sie befanden sich im Heck einer schmalen, aber hochseetauglichen Yacht. Drude hatte Lilið und Marusch abgeholt und auf das zu dem Zeitpunkt in einer benachbarten Bucht ankernde Segelschiff verbracht, mit dem sie jetzt davonsegelten. Heelem steuerte. Der Pinnenausleger ruhte gemütlich in seiner Hand. Es wehte mäßiger Wind. Lilið konnte die Erleichterung kaum in Worte fassen, dass Drude nichts passiert war.
Marusch hatte sich, kaum an Bord, trockene Kleidung angezogen. Lilið fand ihre Prioritäten zunächst überraschend, aber es ergab für sie sofort Sinn, als sich Lajana eng an Maruschs Körper kuschelte und sie sich gegenseitig trösteten. Oder sich auf andere Art Halt gaben. Sie weinten beide nicht. Vielleicht hatte Marusch auch nicht länger als nötig in königlicher Kleidung sein wollen. Nun trug sie ein klassisches Matrosinnenkleid.
Lilið hockte mit nass am Körper klebender Sakralutte am Heck und blickte zurück gen Bellim, wo die Überreste der Sakrale hinter den Horizont tauchten. Sie schwiegen seit einer ganzen Weile. Es bestand keine Notwendigkeit dazu, wie in den sakralierten Booten, aber vielleicht war es einfach schwierig, in dieser Situation etwas zu sagen. Was hätte Lilið sagen können? ‘Mir geht es eigentlich gut, nur erschöpft, und ich möchte wissen, was in diesem verlurchten Buch stand!’, fühlte sich einfach nicht nach einer angemessenen Reaktion auf die Situation an.
Das letzte Massaker, das sie erlebt hatte, das auf der Kriegskaterane, war eigentlich viel kleiner gewesen, und hatte sie mehr mitgenommen. War es, weil sie nun mehr Ablehnung gegenüber den Getöteten empfunden hatte? So wollte sie nicht denken. Es war mehr das Gefüge, das quälend auf der Welt lastete, das hier angekratzt worden war. Es hatte vielleicht mit dem Tod König Spers einen Riss bekommen. Einen feinen.
Lilið hatte schon wieder den Eindruck, dass ihr Denken irgendwie falsch war.
Sie bemerkte nicht sofort, dass sie vor Kälte zitterte. Eigentlich war es eine laue, sternenklare Nacht. Aber sie war extrem erschöpft und nasser Stoff klebte schwer auf ihrer Haut.
“Was brauchst du?”, fragte Drude sie und durchbrach damit die Stille. Es war kein schneidendes Durchbrechen, eher ein sanftes, um das sich die Stille direkt wieder schloss, wie das Wasser hinter den sakralierten Booten es getan hatte. Die Abe lag in Drudes Schoß und ließ sich streicheln.
“Was sollte ich brauchen?”, fragte Lilið.
“Ich weiß es nicht.” Drude machte auf Lilið einen vielleicht sogar verzweifelten, aber zumindest aufgewühlten Eindruck. So hatte Lilið demm noch nie erlebt. “Du hast gerade etwas Schlimmes erlebt.”, setzte Drude wieder an. “Aber ich kann nicht erfühlen, wie es dir geht. Ich weiß nicht, ob du sehr hart verdrängst oder das alles wegsteckt. Ich wäre gern da für dich, aber ich weiß nicht wie.”
Lilið schüttelte den Kopf. “Wahrscheinlich sollte ich etwas Schlimmes fühlen. Trauer vielleicht. Oder Wut?”, überlegte sie. “Also bräuchte ich erst einmal so ein Gefühl und dann bräuchte ich erst Halt oder so etwas. Aber ich fühle mich eigentlich”, Lilið haderte plötzlich doch, es auszusprechen, und endete mit Verzögerung: “erleichtert.”
“Fühlt es sich richtig an?”, fragte Drude.
“Was passiert ist?” Wieder durchlief Lilið ein Zittern.
“Das Erleichterungsgefühl.”, konkretisierte Drude.
Lilið schüttelte den Kopf. “Ich schäme mich deswegen, glaube ich. Ich habe Angst, zuzugeben, dass ich mich erleichtert fühle, weil ich denke, ich müsste anders fühlen.”
“Zieh dir trockene Sachen an und komm wieder her. Dann erkläre ich dir, dass deine Gefühle in Ordnung sind.”, befahl Drude. Es war ein sanfter Befehl, hinter dem sich die Ruhe genau so wieder schloss, wie nach Drudes erstem Bruch des Schweigens.
Lilið betrachtete demm einen Moment skeptisch. Sie war immer noch nicht davon überzeugt, auf Befehle zu reagieren. Aber als ein weiteres Zittern ihren Körper durchlief, gab ihr innerer Widerstand auf. “Was haben wir denn so an Kleidung an Bord?” Der Mantel des Nautikas lag noch in der Zivil-Sakrale versteckt. Der hatte nicht unter die Sakralutte gepasst. Höchstens in gefaltetem Zustand, und das wäre Anwendung von Magie gewesen, zwar welche, die sie zu recht hoher Wahrscheinlichkeit hätte verheimlichen können, aber sie wollten kein Risiko eingehen. Und Wache Luandas Fähigkeiten waren durchaus so beeindruckend gewesen, dass Lilið bezweifelte, dass sie davon nichts mitbekommen hätte. Liliðs übrige Anziehsachen waren an Bord der Kagutte geblieben. Das Zertifikat hatte sie immerhin umgepackt.
“Ich zeige dir die Kleidung!”, beschloss Lajana und stand auf.
Lilið folgte ihr in den Bauch des Schiffes. Sie mochte das Schiffsinnere sofort. Der Niedergang bestand aus einer Klapptreppe mit fünf Stufen. Rechts neben dem Niedergang befand sich eine kleine Nische mit Kartentisch, links davon eine winzige, offene Kombüse, im mittleren Teil des Schiffbauchs eine schmale Sitzecke und im Bug, sowie links und rechts im Heck je eine Schlafnische, die für jeweils zwei Personen reichen mochten. Sie waren zu fünft. Mit wem würde Lilið wohl heute Nacht kuscheln? Und wer würde allein schlafen? Lilið lächelte bei dem Gedanken, dass sie sich gegen niemanden aus der Crew wehren würde.
Lajana führte sie über den glatten Holzboden des Unterdecks zur vorderen Doppelkoje, unter der Stauraum war, der offenbar mit Kleidung vollgestopft war. Lajana holte mehrere Sätze Matrosenuniformen hervor und sortierte sie zunächst auf den Boden. Dabei landete ein vertrautes Bündel daneben: Liliðs alte Segeljacke, die sie damals Marusch überlassen hatte. Sie hob sie sofort auf und hielt sie umklammert, während Lajana ihr die Uniformen anhielt. Sie entschieden sich für einen Matrosenanzug, der nur ein wenig zu groß war. Lajana faltete alles übrige wieder gründlich zusammen und räumte es zurück in das Fach, während Lilið sich umzog. Lilið hängte die nasse Sakralutte einfach über die Tür zu dieser Koje. Immerhin gab es eine.
“Lilið, möchtest du irgendwann wieder mit mir Sex haben?”, fragte Lajana.
Lilið hielt beim Zuknöpfen einen Moment überrascht inne. “Ja, würde ich gern.” Sie fühlte sich unsicher. “Wie kommst du gerade darauf?”
“Ich habe nur gerade daran gedacht.” Auch Lajana wirkte etwas verunsichert. “Lilið, ist es in Ordnung für dich, wenn ich mit Marusch darüber rede? Oder vor den anderen? Oder möchtest du, dass das ein Geheimnis ist?”
“Von mir aus muss das kein Geheimnis sein.”, beschloss Lilið. “Du darfst da gern frei drüber reden, mit wem du willst.”
“Ich glaube, du solltest bald schlafen.”
Wieder überraschte Lilið Lajanas Themenwechsel. Aber irgendein Teil in ihr fühlte sich sehr verstanden. Ein anderer überhaupt nicht. “Wirke ich müde auf dich?”
“Sehr erschöpft.”, antwortete Lajana. “Als hättest du übertrieben viel erlebt.”
Lilið grinste und schloss den letzten Knopf. “Da hast du wohl recht. Mit beidem.”, bestätigte sie. Trotzdem zog sie die Jacke noch an. Diese alte, lieb gehabte Jacke. Sie fühlte sich nun anders an, aber Lilið hatte auch nicht die volle Vertrautheit von damals erwartet. Es fühlte sich dennoch gut an, sie wieder zu haben. “Ich glaube, ich kann noch nicht schlafen. Da sind noch zu viele unbeantwortete Fragen.”
“Welche denn?”, wollte Lajana wissen.
“Was stand in dem Buch?”, nuschelte Lilið. Marusch hatte es noch nicht beantwortet, weil Drude aufgetaucht war. Lauter fügte sie hinzu: “Warum war ich auf einmal mit Heelem zusammen? Wo kamen Heelem und Marusch her? Was ist jetzt unser Plan? Und warum hast du gesagt, Marusch würde für dich nicht existieren, als ich dich nach ihr gefragt habe? Moment, du hast gesagt, dein Geschwister würde nicht für dich existieren und dann Marusch als deine Freundin ausgegeben.”
“Ich habe gesagt, mein Bruder existiert für mich nicht. Weil ich nie einen Bruder hatte.” Lajana klang beinahe verärgert. “Und ich sehe nicht, warum ich meine Schwester nicht auch als Freundin bezeichnen darf, wenn sie eine ist.”
“Ah, das ergibt sehr viel Sinn.” Lilið erinnerte sich an das Gespräch damals mit Lajana zurück und nickte.
“Außerdem haben Marusch und ich uns abgesprochen, was ich sage, wenn mich jemand nach meinem Bruder fragt.”, sagte Lajana. “Wir gehen jetzt wieder hoch, Drude erklärt dir die Sache mit den Gefühlen, wir gehen deine übrigen Fragen durch, und dann schläfst du, ja?”
Lilið wiegte kichernd den Kopf. “Warum wollen sich alle um mich kümmern? Du hast doch auch Scheiße erlebt!”
“Ich habe schon schlimmere Scheiße erlebt.” Mit einem Mal war eine Verbitterung in Lajanas Haltung, Gesicht und Stimme fühlbar, mit der Lilið nicht gerechnet hatte.
Ein Teil von Lilið fühlte eine Verpflichtung, darauf einzugehen, Raum dafür zu bieten, aber sie fühlte, dass sie nicht die Kraft dafür hatte, und das ärgerte sie. Sie fühlte sich wohl ähnlich hilflos wie Drude vorhin. Wie konnte sie nun Unterstützung und Dasein anbieten? “Möchtest du in den Arm genommen werden?”, fragte sie. “Oder kann ich anders da sein?”
Lajana schüttelte den Kopf. “Marusch ist da.”, erwiderte sie. “Aber ich will mich gerade nicht um meine Scheiße kümmern. Das braucht eh länger. Lass mich erst einmal dich versorgen.”
Lilið widerstand dem Impuls ‘Ja, meine Königin’ zu antworten und nickte bloß. Es fühlte sich trotzdem seltsam an, eigentlich kein richtiges Problem zu haben, aber nun die Person zu sein, um die sich gekümmert werden würde, während es unter Lajanas Oberfläche zu brennen schien.
Lajana stieg vor ihr den Niedergang hinauf und verkündete an die anderen: “Lilið ist erschöpft. Sie braucht Antworten, und dann geht sie ins Bett.”
Lilið hörte ein warmes Lachen von den anderen, als sie Lajana hinterherstieg.
“Das geht nicht.”, widersprach überraschend Heelem. “Für ein paar Stunden vielleicht. Aber Lilið muss das Steuer übernehmen. Ich habe seit 48 Stunden nicht geschlafen, und davor auch viel zu wenig. Das war nötig, um schnellstmöglich hierher kommen zu können. Marusch ist oft nur eine mäßige Hilfe gewesen, weil die Navigation wenig Spielraum für Fehler beim Steuern zuließ.”
“Schlafmangel. Eine ständige Begleitung.”, seufzte Lilið. “Ich kann noch. Ich bin zwar sehr erschöpft, aber mehr wegen der vielen Erlebnisse. Wenn ich weiß, wie ich steuern muss und Ruhe einkehrt, kann ich sicher auch entspannen. Wo geht es denn hin?”
“Das ist alles die falsche Reihenfolge!”, beschwerte sich Lajana. “Erst die Sache mit den Gefühlen. Und vielleicht kann ja auch Drude steuern?”
Drude schüttelte den Kopf. “Ich kann nicht navigieren und habe viel zu wenig Erfahrung mit Steuerung, als dass ich das sicher machen könnte. Da wäre Marusch sicherer als ich.”, sagte dey. “Heelem und ich haben das schon geklärt.”
“Wir kehren gleich zur Reihenfolge zurück, in Ordnung?”, bat Marusch Lajana. “Ich gehe noch einmal mit Lilið zum Kartentisch und wir schauen uns den Kurs an, den Heelem geplant hat. Es ist nicht so kritisch wie auf der Hinfahrt. Ich bleibe mit Lilið wach, wenn es für sie nicht zu viel Unruhe bedeutet.”
Lilið schüttelte den Kopf und stieg wieder hinab. Sie hörte Lajana etwas unmütig nuscheln, aber dann kehrte wieder Ruhe ein. Marusch stieg ihr hinterher und entzündete eine kleine Lampe mit den Fingern, die den Kartentisch in brauchbares Licht tauchte.
Lilið warf einen Blick auf die Karte, aber spürte Maruschs Nähe direkt hinter sich und konnte sich nicht konzentrieren. Sie bemühte sich, ihren Fokus zu kontrollieren, aber gab schließlich auf, als ihr Maruschs Geruch klar machte, dass Marusch wirklich hier war und dass sie sicher waren. Sie drehte sich um und blickte in Maruschs Gesicht, dichter vor ihr, als es eine Etikette zwischen Unbekannten erlaubt hätte. Nun, sie waren einander nicht unbekannt. Eigentlich. Sie hatten sich nur lange nicht gesehen. Es erinnerte Lilið trotzdem an ihre erste Begegnung in der Teeküche des Besuchshauses.
Sie genoss die Nähe ein paar Momente einfach. Dann streckte sie ihre Hand nach Maruschs Wange aus. “Darf ich dich berühren?”
“Meinst du, wir kommen dazu, uns die Navigation zu Gemüte zu führen, wenn du damit anfängst?”, fragte Marusch. Sie schmunzelte auf diese Art, die Lilið kannte und so sehr mochte.
Lilið atmete schneller. “Meinst du, ich kann mich auf die Navigation konzentrieren, bevor ich”, sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte, also tat sie es einfach mitten drin.
Maruschs Hand legte sich auf ihre ausgestreckte, um Liliðs Bewegung zu Ende zu führen, und streichelte Lilið über den Handrücken. Die sanften Berührungen waren kaum aushaltbar. Alles war kaum aushaltbar. Lilið wusste nicht, was sie wollte. Sie wollte Marusch körperlich nah sein, aber näher, als das physisch möglich war. Im nächsten Augenblick klammerte sie sich fest an Marusch und vergrub ihr Gesicht in Maruschs Halsbeuge. Marusch erwiderte die Klammerung.
“Ich liebe dich.”, flüsterte Lilið. Sofort fühlte sie sich seltsam, diese großen Worte ausgesprochen zu haben. Aber sie fühlte gerade genau das. Oder was war das sonst?
“Eigentlich solltest du mich lieber hassen.”, erwiderte Marusch ebenso flüsternd. “Ich habe gerade einen Massenmord begangen. Ich habe ihn nicht schon zuvor begangen, um Lajana zu retten, weil es sie vermutlich traumatisiert hätte. Was bei dir auch noch der Fall sein kann. In jedem Fall zeugt der Wunsch, so einen Massenmord in erster Linie deshalb sein zu lassen, um geliebte Menschen nicht zu traumatisieren, nicht unbedingt von einem brauchbar intakten Werteapparat.”
“Marusch!”, raunte Lilið in Maruschs Ohr. “Die ganze Situation wäre nicht entstanden, wenn die Welt nicht vollkommenen Unfug fabrizieren würde, und zwar nicht nur albernen, sondern schmerzhaften gegen Menschen wie Lajana oder mich oder auch Drude oder andere. Und du wolltest den Mord nicht begehen. Oder war der Teil gelogen, dass du mit mir einfach gegangen wärest, hätten sie uns gelassen?”
“Nein, gelogen nicht. Aber es hätte mir vorher klar sein müssen, dass sie uns sehr unwahrscheinlich einfach gehen lassen.”, antwortete Marusch. “In einer solch großen Gruppe greifen immer einzelne zuerst an, wenn genug Bedrohung im Raum steht. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber im Prinzip wusste ich, als ich die Sakrale betrat, wie das ausgehen wird. Dass eine Dynamik entstehen würde, durch die es auch für weniger aggressive Anwesende dann nach der sinnvolleren Option aussieht, mich mitanzugreifen, weil sie dann überhaupt noch eine Chance haben, und dass dabei eine Menge Menschen sterben würden, die eigentlich sinnvoller empfunden hätten, uns gehen zu lassen. Ich wusste eigentlich, auch wenn ich etwas anderes gehofft habe, dass es so enden würde. Beziehungsweise fast. Ich wusste nicht, dass ich in der Lage wäre, das wirklich zu tun.”
“Du wusstest nicht, ob du es moralisch könntest, also, ob du es wirklich hinbekommst, dich dafür zu entscheiden, oder ob du es magisch könntest, ob deine magischen Fähigkeiten dazu ausreichen würden?”, fragte Lilið. “Hm, die Frage ist fies, glaube ich. Ich werte gar nicht.”
“Wenn du irgendwann wertest, werde ich es tragen.” Marusch küsste sie zart oberhalb des Ohrs ins Haar. “Ich wusste vor allem letzteres nicht. Ich übe selten stärkere Magie aus. Ich kenne meine Fähigkeiten nicht vollumfänglich. Ich wusste auch nicht mit völliger Sicherheit, ob ich mich dazu entscheide, es wirklich zu tun, aber ich habe so etwas zuvor auch schon getan, in kleineren Dimensionen. Wobei, ab welcher Dimension gibt es eigentlich kein fälscher mehr? Ich habe Hemmungen, aber sie fallen in bestimmten Momenten auch in sich zusammen. Ich ahnte, dass so einer kommen würde.”
Lilið streichelte Marusch sanft über den Rücken. “Ich fühle mich wirklich merkwürdig, weil ihr euch alle um mich Gedanken macht, außer Heelem vielleicht, aber ich bei dir auch denke, dass du eigentlich viel mehr Rückhalt und Zuwendung brauchen könntest als ich.”
Marusch löste die Umarmung auf. Es war kein schlechter Zeitpunkt dafür. Lilið fühlte sich sortierter. “Hattest du bei Lajana ebenso den Eindruck, dass sie eher etwas braucht als du?”, fragte Marusch.
Lilið nickte und gab auch ein bestätigendes Geräusch von sich. Sie drehte sich wieder zum Kartentisch um.
“Gerade ist sie vor allem erschöpft.”, erklärte Marusch. “Sie will immer einen genauen Plan aufstellen, was wann dran ist, wenn sie sehr erschöpft ist, und gerät aus der Ruhe, manchmal auch völlig aus der Fassung, wenn der dann nicht eingehalten werden kann.”
“Sie sagte, sie hätte schon schlimmere Scheiße erlebt.”, murmelte Lilið. “Schlimmere als eine Entführung.” Sie beugte sich über die Karte und fühlte sich fast bereit, sie zu verstehen.
“Hat sie.”, bestätigte Marusch. “Stell dir vor, du hast eine Mutter, die eine riesige Garde befehligen kann, und als sie mitkriegt, dass du entführt worden bist, schickt sie dir eine Kriegskaterane hinterher. Eine!”
Lilið wandte sich zu Marusch um, als flackerndes Licht auf die Karte fiel, nur ihren Schatten darauf aussparte. Sie sah die Flammen gerade noch, die auf Maruschs Haut erloschen.
“Marusch!”, donnerte Heelems Stimme zu ihnen nach unten.
“Ich kriege mich wieder ein!”, rief Marusch zurück und fügte für Lilið leiser hinzu: “Heelem kenne ich auch schon sehr lange. Er spürt das Feuer.”
Wieder erinnerte sich Lilið an Heelems Aufforderung ‘Mach Feuer!’. Sie lächelte.
“Kommt ihr da unten eigentlich in die Pötte?”, erschall Heelems Stimme erneut. Sie klang nicht böse, fand Lilið. Vielleicht dieses Mal sogar amüsiert.
Sie drehte sich um und machte sich endlich daran, die Karte und die Notizen im Büchlein zu verstehen. Sie steuerten auf eine kleine Reiseinsel zu, die bei den derzeitigen Strömungsverhältnissen recht langsam reiste. Sie würden vielleicht einen Tag bleiben können. Es half ihr beim Fokussieren, Marusch beim Verstehen und Interpretieren der Daten alles zu erklären.
Als sie fertig waren, atmete Lilið tief durch und stieg den Niedergang wieder hinauf. “Ich denke, ich habe alles verstanden. Du kannst mir das Ruder übergeben.”, teilte sie Heelem mit. “Ich habe allerdings kein Heft für dieses Schiff gefunden, in dem drin steht, bei welcher Krängung, Takelage und Geschwindigkeit es welche Abdrift hat und solche Dinge. Da muss ich dir wohl vertrauen.”
“Oh!”, meinte Heelem. “Der Kartentisch lässt sich aufklappen. Es müsste unter einem Stapel vollgeschriebener Navigationsbüchlein stecken. Ich brauche so etwas nicht, ich fühle das Schiff.” Heelem klappte den Pinnenausleger hoch, als er aufstand, um Lilið Platz zu machen.
“Hm, das kann ich noch nicht, glaube ich.” Lilið schob sich hinter ihm hindurch und setzte sich. Als er ihr die Pinne übergab, fragte sie: “Du vertraust mir, dass ich das schon alles packe?”
Heelem gab ein grinsendes Geräusch von sich. “Natürlich.” Mehr sagte er nicht, bevor er unter Deck verschwand.
Lilið setzte sich und fühlte sich mit einem Mal etwas verloren. Sie hatte noch nie ein so großes Schiff gesteuert. Auf der Kagutte wäre sie nie ans Steuer gelassen worden, auch wenn sie wissen musste, wie es grundsätzlich funktionierte. Sie wusste auch hier prinzipiell, wie es ging. Aber nun hier zu sitzen und es direkt nicht unter lehrender Aufsicht zu tun, fühlte sich nach viel Verantwortung an. Und sie fühlte sich deplatziert, wie, als wäre dies entweder übertrieben real oder eine Fantasiewelt.
Zu ihrer Überraschung kam Heelem allerdings wenig später wieder mit einer Decke an Deck. Er setzte sich neben Drude auf die Backbordbank und schmiegte sich an die Wand neben dem Niedergang. “Ich dachte, ich folge dem Gespräch noch ein wenig oder beantworte eventuell noch ein paar Fragen, bis ich hier einschlafe.”
“Ist das gemütlich genug, oder soll ich mich zu Marusch und Lajana setzen?” Drude klang nur halb amüsiert, wenn Lilið nicht alles täuschte.
“Ich will dich nicht vertreiben.”, sagte Heelem.
Drude stand seufzend auf, holte Heelem noch ein Kissen aus dem Schiffsbauch, damit er seinen Rücken abpolstern konnte, und setzte sich Lilið dann gegenüber auf einen der Steuerplätze. “Zu meiner Ausbildung als Wache, sowie bei den Sakrals-Dienenden habe ich gelernt, dass es in Zeiten, in denen es geht, wichtig ist, sich zu gönnen.”, hielt dey fest. “Ich spüre sehr, wie ihr alle versucht, euch zurückzunehmen, und in einer Gruppe ist das vielleicht manchmal auch notwendig, aber wenn ihr einfach für andere entscheidet, dass es ihnen schaden würde, wenn ihr euch gönnt, ist das nicht hilfreich und oft falsch. Mir macht es wirklich nichts aus, woanders zu sitzen.”
“Du willst damit sagen, ich hätte dich nicht vertrieben, oder wenn, dann wäre das schon in Ordnung so?”, versicherte sich Heelem. In seiner Stimme klang wieder ein Schmunzeln mit.
Drude seufzte abermals. “Zum Beispiel. Also, vor allem das.”
“Danke.” Heelem streckte sich auf der Bank aus und polsterte sich gemütlich. Als würde er sich erst jetzt trauen, sich zu gönnen, wie Drude es ausgedrückt hatte. Die Abe, die von Drude heruntergesprungen war, als dey das Kissen geholt hatte, kroch zu Heelem unter die Decke. “Äh”, sagte Heelem verwirrt und beendete den langgezogenen Ausdruck mit einem “Na gut.” Die Abe machte eins ihrer sacht behaglichen Geräusche, als sie sich erfolgreich und wohl auch zufrieden miteinander abgefunden hatten.
“Ich kann Lil da wegsortieren, wenn dey stört.”, bot Drude an.
Heelem lehnte ab. “Ich habe kein intrinsisches Bedürfnis, Aben zu kuscheln, aber es ist okay, wenn dey da halt ist.”
“Intrinsisch?”, fragte Lajana zaghaft.
“Keins, das von mir ausgeht.” Heelem gähnte und zuppelte die Decke etwas weiter zu seinem Kinn, – sehr vorsichtig auf die Abe Acht gebend.
Auch wenn er den Drachen nicht kuscheln wollte, wirkte es auf Lilið liebevoll. Sie hinterfragte, ob es überhaupt etwas miteinander zu tun haben musste, und kam zum Schluss, dass nicht: Natürlich konnte Heelem Drachen gegenüber die selbe Liebe empfinden wie sie zum Beispiel, unabhängig von einem Kuschel- oder Streichelbedürfnis.
Eine Weile schwiegen sie wieder. Vielleicht, damit Heelem einschlafen würde. Es war so angenehm still. Lilið besah sich Kompass und Segelstellung. Die Segel waren hier fixiert, niemand musste sie halten. Das war anders als auf den kleinen Segelbooten, die Lilið bisher gesegelt hatte.
“Darf ich was sagen?”, fragte Lajana.
“Klar!” Lilið wusste nicht, ob Drude oder Marusch schneller geantwortet hatten. Sie stimmte ebenfalls zu und hörte schließlich auch ein zustimmendes Brummen von Heelem.
“Die nächste Frage war, glaube ich, warum Lilið mit Heelem zusammen war.”, sagte Lajana.
Lilið fiel sofort auf, dass Lajana Drudes Vorhaben vergessen hatte, Lilið darüber aufzuklären, warum es nicht falsch war, was sie fühlte. Aber Lilið fühlte sich inzwischen nicht mehr so schlecht damit. Also ließ sie es geschehen.
“Ich weiß nicht genau, was mit der Frage gemeint ist.”, fügte Lajana hinzu. “Seid ihr jetzt auch ein Liebespaar oder so etwas?”
Heelem lachte. “Nein, das sind wir nicht. Ich glaube, es ging um den Moment in der Zentral-Sakrale, in dem du nicht mich und ich nicht dich unter der jeweils anderen Sakralutte vermutet hatten?”
Lilið nickte. Und weil Heelem die Augen geschlossen hielt, sagte sie “Genau!” Sie zog einen Fuß mit auf die Sitzbank und legte das Knie in die Armbeuge, die nicht mit Steuern beschäftigt war. Eine überraschend gemütliche Haltung. Aber eigentlich hätte sie sich tatsächlich gern so hingekuschelt wie Heelem. Später. “Ich nehme an, du hast eigentlich Marusch erwartet?”
Dieses Mal lachte Drude. Wie immer bei demm hielt das Lachen nicht lang an. “Wusste ich es doch!”, sagte dey. “Ich kläre mal von meiner Seite auf: Ich habe nach der Öffnung der Schleuse, die ich tatsächlich unter Wasser in Gang gesetzt habe, vor der Sakrale ein unbe”, Drude unterbrach mitten im Wort und fuhr dann mit einem Neologismus fort, “unbepersontes, sakraliertes Boot vorgefunden und mich gefragt, wo Lilið bleibt. Dann habe ich ein anderes wegsegeln sehen. Es war beinahe außer Rufweite. Das wart ihr beide dann wohl, Lilið und Heelem. Ich habe aber nicht hinterhergeschrien, weil ich damit wahrscheinlich beide Boote entsakraliert hätte. Ich war mir sehr unsicher, ob ich dich, Lilið, voll in eine Falle laufen lassen würde, oder ob dich weiterfahren zu lassen die beste Chance war, die wir noch hatten. Zum Glück war letzteres der Fall.” Drude gestikulierte in Maruschs Richtung, als dey fortfuhr: “Dann tauchte Marusch auf, von der ich direkt gespürt habe, dass es nicht Lilið ist. Ihr war auch gleich klar, dass ich nicht die Person war, die sie erwartet hat. Wir haben kurz unsere Kapuzen gelüftet. Wir sind euch dann hinterher gefahren. Das war unheimlich, weil wir uns nicht absprechen konnten und uns nicht klar war, worauf wir uns einlassen. Aber als die Schleuse sich wieder schloss, haben wir doch miteinander geredet. Wir haben uns gegenseitig gefragt, wann ihr den Tausch herausfinden würdet. Ich habe darauf getippt, dass ihr das nicht erfahren würdet, bevor jemand von euch sprechen würde. Und ich freue mich schon irgendwie, dass ich recht hatte.”
“Was hast du getippt?” Heelems Stimme klang sehr gemütlich und schon halb verschlafen.
“Ich dachte, ihr kennt euch, und findet das früher heraus. Ich dachte mir, dass euch vielleicht aufgefallen sein könnte, dass ihr beide steuern wollt, während etwas anderes abgesprochen war.”, gab Marusch zu.
“Oh, das ist mir sehr wohl aufgefallen.” Heelem klang mit einem Mal wieder wacher, und auch belustigt. “Ich dachte mir, echt jetzt? In so einer Situation willst du unvorteilhaft vom Plan abweichen und doch steuern?”
“Es ist mir auch aufgefallen, aber ich dachte einfach, Drude wüsste irgendetwas, was fürs Steuern wichtig wäre, was ich nicht wüsste.”, fügte Lilið hinzu.
“Die Antwort auf die Frage, warum Heelem plötzlich mit Lilið in der Sakrale war, ist jedenfalls, dass wir den selben Plan hatten.”, fasste Marusch zusammen. “In eurem Fall hat Lilið mit dem Boot vorm Leuchtturm gewartet und in unserem war nur das Boot vorm Leuchtturm vertäut und Heelem und ich haben den Leuchtturm gemeinsam nach dem Mechanismus abgesucht. Beziehungsweise, getrennt von einander, aber eben beide.”
“Und als ich durch ein Fenster sah, dass die Schleuse aufging, dachte ich, Marusch ist so weit.”, ergänzte Heelem. “Also bin ich zum Ausgang gerannt. Ich habe dann durch ein Fenster im Treppenhaus unser Boot auf der anderen Seite liegen sehen, und dachte, Marusch wartet da schon auf mich. Also bin ich zur anderen Seite aus dem Leuchtturm gestürmt. Das war dann gar nicht unser Boot, aber das wusste ich eben nicht.”
“Habt ihr euer sakreliertes Boot eigentlich auch aus dem Bootshaus der Zivil-Sakrale bekommen?”, erkundigte sich Drude. “Ich dachte, das wäre der einzige Lagerort jener Boote.”
“Ja.”, bestätigte Marusch.
“Hattet ihr dann das Original des Buchs, in das die Verleihungen eingetragen werden?”, fragte Drude. “Bist du da in Probleme gerannt, Lilið? Weil schon eins vorlag?”
Lilið schüttelte den Kopf. “Die Person dort hat sich das Buch kaum angesehen, den Kopf geschüttelt und gesagt, wir Halunken.” Sie wiederholte den Ausdruck auf Alevisch. “Ich habe mich gewundert, aber es lief alles glatt.”
Marusch gluckste. “Wir haben das Boot geklaut, indem wir in die Seitenhalle der sakrelierten Boote eingebrochen sind. Also ohne Buch.”, sagte sie. “Ich nehme an, die Verwaltungsperson hat mitgekriegt, dass wir es versucht haben, aber nicht, dass wir erfolgreich waren. Und hat sich dann, als sie das Buch abgezeichnet hat, darüber amüsiert, was zwei Sakrals-Dienende alles versuchen würden, um ein Reinigungs-Ritual durchzuführen, das sie nicht ausführen sollten.”
“Richtig, den Hintergrund kennst du auch noch nicht.”, mischte sich Heelem wieder ein und drehte den Kopf etwas in Liliðs ungefähre Richtung. Die Augen öffnete er dabei nicht. “Marusch und ich waren es, die die Mitteilung an die Zivil-Sakrale eingefädelt haben, dass das Reinigungs-Ritual nicht stattfinden dürfe, damit wir es anstelle der eigentlich vorgesehenen Sakrals-Dienenden ausführen könnten. Drude erzählte, wie sie sich dann lang und breit darüber beschwert haben, was ihr dann abgehört habt und weshalb ihr dann auf die Idee gekommen seid, den selben Plan durchzuführen, den wir uns erarbeitet haben. So ein Chaos. Könnte fast witzig sein.”
“Es ist witzig!”, betonte Lilið. “Ich zumindest amüsiere mich.”
“Ich mich durchaus auch.” Drude klang, wie nicht selten, überhaupt nicht, als würde dey sich amüsieren, aber Lilið glaubte demm trotzdem.
“Ja, doch, schon.” Heelem klang zufrieden und müde.
“Mich braucht ihr nicht zu fragen. Ich fand es sehr ulkig. Vielleicht einer der elegantesten Misserfolge in meiner Diebeskarriere.”, fügte Marusch hinzu.
“Ich finde das nicht so witzig, weil ich da überall nicht bei war.”, hielt Lajana fest. “Aber das ist in Ordnung. Ich freue mich für euch.”
“Ich würde mich noch dafür interessieren, wie ihr das geschafft habt, vor Ort zu sein.”, sagte Lilið. Ein Themenwechsel. Sie merkte, wie sie das Gespräch ermüdete. Wie sie den Tränen nah war, obwohl nichts Schlimmes im Raum stand und sie nicht wütend oder traurig war, sondern einfach, weil sie schon lange mehr als genug hatte. Es war alles viel, sehr viel.
Marusch seufzte. “Heelem, ich weiß, du willst schlafen.”
“Mehr brauchst du gar nicht sagen.”, antwortete Heelem. “Natürlich erzähle ich.”
Lilið fragte sich, welche unausgesprochenen Worte im Raum standen. Ohne es zu wissen, durchrann eine wilde Zuneigung für Marusch ihren Körper. Schon wieder hatte sie das Bedürfnis, ihr näher zu sein, als es physisch oder psychisch möglich wäre.
“Fassen wir zusammen: Marusch hat ihre Mutter informiert und gebeten, Lajana zu befreien und bei der Aktion selbst mitsegeln zu dürfen, weil sie, nun, gewinnen kann. Was wir sehr eindrucksvoll erfahren haben.” Heelem gestikulierte zum Horizont, wo aber nichts mehr zu sehen war. Die Abe zuckte dabei, kringelte sich aber sofort wieder schläfrig unter die Decke. “Aber die Königin hat Marusch nicht einmal in das Ausdiskutieren von Plänen eingebunden und entschieden, eine Kriegskaterane wäre genug.”
“Lächerlich.”, murmelte Drude. “Das ist nicht mehr als ein politischer Akt, dass niemand ihr nachsagen kann, sie hätte es nicht probiert. Aber eigentlich hat sie es wirklich nicht einmal probiert.”
“Über den Teil reden wir morgen genauer.” Heelems Worte ließen keinen Spielraum für Widerspruch. “Marusch hatte beschlossen, sich an mich zu wenden, weil ich immerhin mal Nautika der königlichen Garde war und allerlei Beziehungen habe. Und weil wir zusammen ein gutes Team bilden. Sie traf etwa mit eurem Brief bei mir ein. Wir sind dann direkt mit einer Fragette nach Nederoge übergesetzt und haben dort im Hafen mit einer Marke der Königin eine Rennyacht bekommen. Wir waren wohl einen halben Tag zu spät auf Lettloge, um euch zu erwischen. Wir haben ab dort unauffällig eure Kagutte verfolgt. Als sie auf Belloge ankam, war Lilið nicht mehr an Bord. Das hat uns Sorgen bereitet, aber da wir auch nichts über eine Gefangennahme mitbekommen haben, haben wir uns dann erst einmal ausschließlich auf die Befreiung Lajanas konzentriert. Den Rest kennt ihr, denke ich.”
“Es gäbe viele Details zu erzählen, aber nicht heute.”, stimmte Marusch zu.
Heelem richtete sich ächzend auf, sortierte die schlafende Abe auf den angewärmten Platz, wo er gerade noch gelegen hatte, und stapelte Decken und Kissen auf seinen Arm. “Ich verziehe mich doch unter Deck. Bald geht die Sonne auf und ich möchte nicht von ihr geweckt werden. Seht zu, dass ihr das Boot nicht in Brand steckt.”
“Ah.”, machte Lilið. “Darum geht es.”
“Ich beherrsche ausreichend Hyrdomagie, um im Zweifel zu löschen. Immerhin haben wir Wasser um uns herum. Allerdings müsste ich auch bald schlafen.” Drude gähnte und stand ebenfalls auf.
“Darf ich bei dir schlafen?”, fragte Lajana. “Weil ich eigentlich bei Marusch schlafen will, aber sie will ja nicht schlafen.”
“Du darfst gern bei mir schlafen.”, stimmte Drude zu. “Weckt mich, wenn ich etwas löschen soll. Beziehungsweise, wenn ihr viel Magie ausübt, merke ich das schon von selbst.”
“Wir reden einfach über das Buch. Das ist ungefährlich.” Marusch grinste.
Lilið konnte dem Verabschiedungsprozess nicht so ganz folgen. Sie hoffte, dass sie konzentriert genug wäre, das mit dem Steuern wirklich hinzubekommen. Aber es war eigentlich derzeit auch keine schwierige Aufgabe. Und eine stille dazu, für die sie nicht viel Konzentration bräuchte.
Es war schön, dass Marusch dabei blieb. Als die anderen im Unterdeck verschwunden waren, setzte sich Marusch hinter sie und Lilið konnte sich bei ihr anlehnen. “Ich habe”, Lilið zögerte, “eigentlich habe ich dich nicht vermisst. Meistens nicht. Ein paarmal schon.”, stellte sie fest. “Aber ich bin gerade sehr froh, dich wiederzuhaben. Und es erleichtert mich so, dass ich immer noch dieses warme Gefühl habe, das du in mir auslöst. Dass das nicht plötzlich weg ist, weil wir uns so lange nicht gesehen haben.”
Marusch küsste sie auf den Schopf. “Ich glaube, ich habe dich auch kaum vermisst. Aber das ist bereits mehr, als ich je irgendwen vermisst habe. Ich möchte dich in meinem Leben haben.” Ihre Stimme klang weich in Liliðs Ohren. Nicht flehend. “Wenn du magst.”
“Ich mag.”
Dann schluckte die Stille der Nacht ihre Stimmen. Sie glitten unter dem Sternenhimmel dahin. Unter Liliðs Haut zupfte der klanglose Gesang des Igeldings, und doch hatte sie keine Ahnung, wo oder wie weit weg es sich befand.