Anziehsachen

CN: Verfolgung, Überfall, Einbruch, Überhören von Stöhnen beim Sex, Misgendern.

Lilið blickte dem Segelboot hinterher, das Hermen wieder gen Schleseroge steuerte. Er war in einem anderen Winkel von Angelsoge abgelegt, als sie angelegt hatten, weil die kleine Insel, die Lilið noch in der Ferne erblicken konnte, bereits weitergezogen war. Hermen hatte nicht lange gezögert, wieder aufzubrechen, nachdem er sein Bedauern zum Ausdruck gebracht hatte, Lilið nicht beim Start hier begleiten zu können. Er hatte ein Gefühl dafür entwickelt, wie er Menschen ansprach, die er auf einer zur Monarchie gehörenden Insel traf, sodass sie ihm wohlgesonnen wären und er sprach allerlei Sprachen. Für Lilið war das im wahrsten Sinne Neuland. Immerhin wurde auf Angelsoge auch Baeðisch gesprochen, die Sprache, mit der Lilið groß geworden war. Die derzeitige Königin, zu deren Königsreich auch Nederoge gehörte, hatte hier ihren Regierungsitz. Und die Sprache, die auf einer Insel gesprochen wurde, war durch das Königreich vorgegeben, zu dem eine Insel gehörte.

Lilið war nicht zum ersten Mal auf Angelsoge, aber die Insel beeindruckte sie auf Anhieb wieder genau so wie damals. Die Küstenlinie machte nicht einmal einen gebogenen Gesamteindruck, so groß war die Insel. Wenn sie sie überqueren wollte, wären es sicher mindestens zwei Tagesmärsche, eher mehr. Und sie hatte keine Idee, wo sie auf der Insel gelandet war.

Sie war damals mit der Schule hier gewesen, ein Ausflug über vier Tage. Sie hatte eigentlich gar nicht mitgewollt. Vier Tage mit Mitlernenden, von denen die meisten sie nicht mochten, und die, die sie mochten, so tun würden, als täten sie es nicht, war keine Aussicht gewesen, auf die sie sich gefreut hätte. Sie hatte vom Ausflug nur ein paar Erinnerungen an Einzelereignisse. Der Moment, in dem sie die Zentral-Sakrale gesehen hatte, hatte sich zum Beispiel eingebrannt. Das beeindruckende Säulen- und Kuppelgebäude mit quadratischer Grundfläche und einem absichtlich zugewuchertem Hof darin lag im Herzen der großen Hafenstadt Angelsedde. Die kleinere Halbinsel von Angelsoge, auf der Angelsedde gebaut worde war, verwalteten Lord und Lady von Pik, die zweitmächtigste Familie der hiesigen Monarchie. Liliðs Vater trieb mit ihnen Handel. Er beschrieb sie als strategisch. Nicht generös, aber auch nicht knausrig den ihnen Schutzbefohlenen gegenüber. Lilið hoffte, dass sie ähnlich wie ihr Vater mit Langfingern umgingen, die sich bloß Lebensmittel stahlen. Noch hatte sie etwas Proviant und vielleicht fand sie rechtzeitig einen anderen Weg, an neue Lebensmittel zu gelangen, aber es war durchaus nicht ausgeschlossen, dass sie irgendwann aufs Stehlen angewiesen sein würde.

Zu den Dingen, die sie bei sich getragen hatte, als sie unfreiwillig von Bord gegangen war, gehörten auch die Marken und der Ring von Herrn Hut. Auch andere Marken, die sie bei Gelegenheit mal bei anderen Personen mitgehen lassen hatte, die ihr nicht nett gegenüber gewesen waren.

Den Ring hatte sie schon längst genauer inspiziert. Es war der Name ‘Lanja’ eingraviert, also war es vermutlich ein Ehering, den Herr Hut lieber verbarg, wenn er unseriös sein einseitiges Interesse an Nähe bekundete. Es machte Lilið diese Person noch unsympathischer.

Sie war sich nicht sicher, wie sie davon profitieren könnte, einen Ehering zu tragen. (Und sich als mit Lanja liiert auszugeben, wovon aber niemand mitbekommen hätte, denn wer nahm schon anderer Leute Ehering vom Finger, um sich die Gravur anzusehen?) Deshalb beließ sie den Ring vorerst in ihrer Jacke.

Die Marken waren interessanter. Marken wurden Schutzbefohlenen von ihren Herrschaften gegeben, damit sie Beschaffungen für sich oder die besagten Herrschaften machen konnten. Kleidung wurde über Marken ausgegeben und angepasst. Lilið überlegte, dass es tatsächlich hilfreich wäre, mehr Kleidung zu haben, und es war in ihrem Schatz auch eine Kleidermarke dabei. Ihr dünnes Abendkleid für den Ball war ja an Bord geblieben. Ihre erste Überlegung, wie sie trotzdem auf den Ball gelangen könnte, war mehr in Richtung Dienstkleidung gegangen. Zuvor herausfinden, ob dort Uniformen getragen würden, oder ob von verschiedenen Hofstaaten Dienstpersonal dort wäre, sodass sie sich in einer klassischen Diensttracht vielleicht hätte ein Tablett stibitzen können, um sich so unbemerkt hineinzumischen.

Aber sie hatte nur eine einzige Kleidermarke. Und diese war für einen Anzug. Sie war von Herrn Hut, also würde die Zeichenfolge auf der Marke, die Lilið selbst nicht interpretieren konnte, vermutlich bedeuten, dass sie damit einen schniekeren Anzug bekommen würde.

Auf ihrem Weg zwischen den Feldern hinter den Dünen hindurch, den Schildern in Richtung der nächsten kleineren Stadt folgend, machte sie sich Gedanken darüber, was sie für Alternativen hätte. Sie könnte natürlich versuchen, sich möglichst unauffällig und bedeckt zu halten, aber dann würde sie nicht auf diesen Ball gelangen können. Irgendwann würde sie etwas riskieren müssen, damit sie es schaffen könnte. Sie hatte auch nicht viel Zeit, sich erst einmal zurechtzufinden, weil der Ball schon morgen Abend stattfand.

Wenn sie sich nicht daran machte, den Ball zu besuchen, dann würde sie Marusch vermutlich nicht so ohne Weiteres wiederfinden. Aber um Marusch zu finden, war sie schließlich hier. Also, folgerte sie, war es vermutlich die beste Strategie, in einer kleinen Stadt mit einer Schneiderei die Sache mit dem Anzug zu probieren, und wenn dabei etwas zu sehr aus dem Ruder liefe, zu hoffen, dass sie Land gewinnen konnte, um als nächstes die Strategie mit der Dienstkleidung zu probieren.


Die Stadt, die sie erreichte, hatte vielleicht 30 bis 40 Häuser, eine kleine Sakrale, die sehr traditionell wirkte, – der Baum in ihrer Mitte war auch sehr hoch und sehr alt –, eine Besuchsstätte und ein paar Läden, darunter tatsächlich eine Schneiderei. Lilið überlegte, sich ein wenig zu falten, um vielleicht einen männlicheren Eindruck zu machen. Aber es hätte wenig Sinn. Sie würde zum Ball eine ganze Weile in dem Anzug stecken. Solange könnte sie eine Faltung nicht aufrecht erhalten. Und es würde besonders auffallen, wenn sie die Faltung aufhob, wenn der Anzug dann nicht mehr auf sie maßgeschneidert wäre. Sie brauchte eine andere Begründung. Aber so richtig fiel ihr keine ein, außer, dass sie eben einfach Anzüge mochte oder so etwas.

Sie betrat die kleine Schneiderei und fühlte sich sofort fehl am Platz in ihrer salzverkrusteten Kleidung. Sie sah immerhin nicht wie auf der Straße lebend aus. Noch nicht zumindest. Die Situation war so kurios: Sie hatte Bedenken, bald auf der Straße zu leben, und besorgte sich einen Anzug.

Nun ja, es war genau das Leben, das sie sich gewünscht hatte. Voller Absurditäten und Abenteuer.

“Du schaust dich erst einmal um?” Eine der beiden Personen hinter dem Tresen hatte deren Gespräch unterbrochen, um sie einzubinden, falls sie wollte.

Lilið sah sich nur flüchtig um, um sich zu orientieren, trat aber dann direkt an den Tresen und legte die Marke auf den Tisch. “Ich komme von außerhalb. Ich musste leider unerwartet früher aufbrechen, sodass ich mir den Anzug für den Ball nicht in meiner gewohnten Schneiderei habe anfertigen lassen können.”, sagte sie und legte dabei gelassene Überzeugtheit in ihre Stimme.

Die Person am Tresen nahm die Marke entgegen und betrachtete sie eingehend. Lilið suchte in ihrem Blick nach Skepsis, fand aber keine. Als nächstes vermaß der geübte Blick jener Schneidersperson ihren Körper. “Du trägst derzeit grün. Ist das deine Farbe?”

Damit hatte Lilið nicht gerechnet. Sie lächelte freudig überrascht. “In der Tat!”, antwortete sie. “Auch wenn ich etwas unsicher bin, ob ich damit nicht doch zu sehr auf dem Angelsoger Adelsball auffallen werde.” Sie hoffte, dass die Marke einen Anzug für eine Person hergab, die dort willkommen gewesen wäre.

“Warst du noch nie dort?”, fragte die zweite Person hinter dem Tresen.

Lilið schüttelte den Kopf. “Es wird mein erstes Mal.”, sagte sie. “In den letzten zwei Jahre, in denen ich eingeladen war, ist es jeweils ins Wasser gefallen. Einmal wegen eines Krankheitsfalls in der Familie und”, Liliðs Kopf ratterte, um sich möglichst flüssig einen zweiten Grund auszudenken, “einmal ist auf der Reise ärgerlicher Weise nicht alles glatt gelaufen.”

“Der klassische Mist?”, fragte die zweite Person. “Zwischen den Reiseinseln verheddert, was ja oft zu so ein bis zwei Tagen Verspätungen auf den einfachen Reisekagutten führt, meine ich.”

Lilið nickte bestätigend und seufzte tief. Sie hatte keine Ahnung von Reisekagutten. Ihr Vater wählte für Reisen immer die etwas größeren, zuverlässigeren Reisefragetten aus, und nun bekam sie einen Eindruck davon, warum. Einfach Bestätigen erschien ihr in jedem Fall als eine gute Möglichkeit, Sympathie und Vertrauen zu erwecken.

“Wer sich heute alles Nautika nennen darf, ist mir auch immer wieder ein Rätsel.”, seufzte die zweite Schneidersperson hinterm Tresen. “Aber kommen wir zurück zum Thema: Es gibt auf dem Angelsoger Adelsball durchaus gewisse Kleidernormen, wenn ich das so nennen kann. Du wirst allein mit einem Anzug aus dieser Norm fallen, das ist dir vermutlich klar. Es kommen aber auch sicher gut ein Zehntel zu diesem Ball, gerade um aufzufallen. Mach dir also keine Sorge, dass du am Ende die einzige Person wärest, die etwas aus der Reihe tanzt. Passt das für dich?”

Lilið nickte zögerlich. “Warst du schon auf diesem Ball?”

“Wo denkst du hin?”, fragte die Schneidersperson. Dieses Mal lag unverkennbar Skepsis in Stimme und Gesichtsausdruck. “Ich habe als Schneider natürlich ausführliche Informationen und bekomme Skizzen angefertigt. Aber selbstverständlich war ich noch nie dort.”

“Es tut mir leid. Das hätte mir klar sein müssen.”, lenkte Lilið rasch ein. “Ich bin ein bisschen nervös.”

“Dir muss überhaupt nichts leidtun.”, mischte sich wieder die erste Schneidersperson ein. Sie warf der anderen einen unauffällig tadelnden Blick zu, der Lilið trotzdem nicht entging. “Du sagtest ja schon, du bist unerfahren. Ich hoffe, wir können das Aussuchen und Anpassen so gestalten, dass du dich wohl bei uns fühlst. Es ist uns eine Ehre, dich bekleiden zu dürfen.” Sie schob der anderen Scheidersperson die Marke zu, die nun auch einen längeren Blick darauf warf, nickte und sich bei Lilið entschuldigte. Diese Marke musste wirklich was bedeuten.


Das Aussuchen und Anpassen dauerte fast drei Stunden. Lilið ließ sich in Sachen Farbe und Stil beraten, nahm fast alle Vorschläge an und wünschte sich selbst lediglich, dass sie sich gut im Anzug bewegen können wollte und er leicht sein sollte.

Als sie sich am Ende in dem dunkelgrünen Anzug im Spiegel anblickte, dessen Stoff zwar außen ein wenig rau war, aber der bei verschiedenem Lichteinfall trotzdem schillerte oder glänzte, fand sie sich selbst sehr schick. Auch wenn er ihre Figur nicht verbarg, sodass sie vermutlich weiter als Frau wahrgenommen werden würde, fühlte er sich nach genau dem Dazwischen an, das sie am liebsten sein wollte. Sie bekam einen einfachen Beutel mit, um den Anzug heile zu transportieren, weil sie ja selber keine ausreichend große Tasche dafür dabei hatte. Sie hatte sogar flache Tanzschuhe in einem ähnlichen Stil dazu bekommen. Es waren einfache Stoffschuhe mit weicher Sohle. Die Schneiderspersonen gingen davon aus, dass sie darin tanzen würde, aber sich für den Zweck, draußen herumzulaufen, noch andere Schuhe besorgen würde. Lilið hatte keine Marke dafür und würde darauf verzichten, aber teilte das natürlich nicht mit.

Sie bedankte sich, und verließ die Schneiderei, nun wieder in ihrer alten Kleidung und barfuß. Sie war froh, endlich draußen zu sein. Es waren angespannte drei Stunden gewesen. Und nun, da sie wieder unter freiem Himmel war, atmete sie gefühlt gieriger die Luft ein, als nach ihrer ähnlich langen Schwimmorgie. Es roch grün und nach frischer Erde.

Als nächstes musste sie sich also darum kümmern, innerhalb ungefähr eines Tages nach Angelsedde zu gelangen. In der Schneiderei hatte sie erfahren können, dass der Ball dort stattfinden würde, ohne danach zu fragen. Es war einfach im Gespräch gefallen.

Sie hatte nicht gewagt, die Schneiderspersonen zu fragen, wie weit es bis dorthin wäre, weil es doch auffällig gewesen wäre, wenn sie den Ball als ihr Ziel angab, aber nicht wusste, wie sie dahin gelangen könnte. Also stellte sie die Frage erst Passierenden im nächsten Dorf, als sie es erreichte. Und seufzte innerlich sehr auf, als sie erfuhr, dass sie die Großstadt nicht zu Fuß im vorgegebenen Zeitraum erreichen würde. Wie das wohl hier mit per Anhalter fahren aussah?


Es war nicht so einfach wie auf Nederoge. Es fuhren mehr Fahrzeuge, aber es hielten viel weniger an, und die, die anhielten, hatten nicht Angelsedde als Ziel, sondern fuhren immer nur ein Stück in die Richtung. Sie kannten es schon, dass per Anhalter Fahrende nicht so weit mitgenommen würden, und boten sich an, weil jedes Stück mitgenommen werden zählte. Am Abend verkroch Lilið sich heimlich in einer Scheune zwischen den Feldern, um zu übernachten. Sie hatte Hunger, aber versuchte sparsam mit ihren Vorräten umzugehen.

Sie war darauf vorbereitet, dass vielleicht jemand nach dem Rechten sehen könnte, und faltete sich samt Gepäck zu einem Strohhaufen, als sich die Tür öffnete. Es handelte sich allerdings um eine andere landstreichende Person, die sich hier umsah und es sich schließlich gemütlich machte. Lilið tat, als würde sie sich aus dem Strohhaufen wühlen, der sie eigentlich selbst war, und grüßte.

“Ist das okay, wenn wir hier zu zweit sind?”, fragte sie.

Die andere Person war wortkarg und nickte einfach.

Lilið war auch nicht darüber überrascht, im Morgengrauen davon aufzuwachen, dass die andere Person versuchte, Liliðs Gepäck zu klauen. Sie wehrte sich, trat um sich, schaffte es tatsächlich, die andere Person kurz abzuschütteln, rappelte sich auf und rannte aus der Scheune, die andere Person dicht auf den Fersen. Sie tat, als würde sie sich hinter der Tür verstecken, die die andere Person einfach weiter aufsperren und ihr ins Gesicht schlagen wollte, aber Lilið faltete sich schmal zusammen, sodass sie sich zwischen den Holzpanelen, aus denen die Scheune bestand, hindurchschieben konnte und wieder in den Innenraum trat. Sie hatte in der Nacht auf ihrem Gepäck geschlafen und ihre gesamte Kleidung so lange am Körper gefühlt, dass sie die Faltung hinbekam. Im Inneren versteckte sie sich hinter einem echten Strohberg.

Die landstreichende Person suchte draußen noch eine Weile nach ihr, aber vergeblich. Die Kunst, sich durch papierbreite Ritzen zu schieben, war nicht sehr verbreitet, also rechnete sie vielleicht mit einer anderen Erklärung für Liliðs Verschwinden, die ausschloss, dass Lilið wieder in der Scheune sein könnte. Liliðs Anspannung ließ erst nach, als sie schon eine Weile allein war. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatte brach sie auf und frühstückte auf dem Weg.


Als sie Angelsedde schließlich erreichte, war es schon fast Abend. Sie war müde, aber auch erleichtert. Der Ball fand in einem Schlossgebäude und auf dessen Grund statt. Das Grundstück war umgeben von hohen Mauern. Lilið beobachtete, bereits umgezogen, eine Weile, wie die Eingangskontrolle ablief. Einige, vielleicht bekannte, Personen wurden ohne Umschweife eingelassen. Andere mussten etwas Ausweisendes oder eine Einladung vorlegen, die gründlich untersucht und mit der Haut der Besuchenden abgeglichen wurde. Das Vorgehen wirkte auf Lilið nicht, als hätte sie eine Chance mit einer guten Geschichte.

Als auch noch eine Person abgewiesen wurde und später einem Menschengrüppchen in ihrer Gegend erklärte, dass ihr die Einladung gestohlen worden sei und sie daher nicht eingelassen werden würde - womit sie jedoch schon halb gerechnet habe -, beschloss Lilið, einen anderen Weg zu probieren.

Es gab einen Balkon im Schatten, über den sie vielleicht in den ersten Stock des Gebäudes gelangen könnte. Leise Musik drang aus den Türen zum Balkon, immer wenn diese geöffnet wurden, aber ansonsten war es ruhig. Es lehnten sich keine Leute auf die Brüstung, um hinabzuschauen. Und die zwei Wachen, die darunter positioniert waren, schauten sich nur sehr gelegentlich flüchtig um. Lilið beobachtete, dass sie es immer dann taten, wenn die Musik kurz lauter wurde, also, wenn die Balkontür geöffnet wurde.

Ihr war schleierhaft, warum der Balkon nicht gründlicher überwacht oder mehr genutzt wurde, aber sie beschloss, den Einstieg darüber zu versuchen. Es schien ihr nicht völlig ausgeschlossen, es zu schaffen, dort hinaufzuklettern, und eben sich immer dann, wenn sie die Musik lauter werden hörte, kurz in eine Ranke oder so etwas zu falten, sodass sie nicht gesehen würde. Ranken wuchsen hier jede Menge, aber keine, die stabil genug zum Klettern gewesen wäre. Dafür würden eine Abflussrinne und einige Ritzen im alten Gemäuer herhalten müssen.

Sie holte einige Male sehr tief Luft, um sich in einen Igel zu falten, und in dieser Form an der Wache vorbeizuhuschen. Das war eine äußerst komplizierte Faltung. Sie hatte früher, um sich an Menschen vorbeizuschleichen, auch gelegentlich probiert, ein Eichhörnchen zu sein. Aber zum einen konnte sie nicht so flink und elegant huschen wie ein Eichhörnchen, und zum anderen sahen Leute bei Eichhörnchen aus irgendwelchen Gründen genauer hin. Igel waren dunkler, die Form verwaschener. Es wunderte sich niemand, einen Igel zwar gesehen, aber nicht so richtig wahrgenommen zu haben.

Sie schaffte es an den Wachen vorbei und hielt erst an, als sie krabbelnd mit der Nase gegen die Mauer stubbste. Die Perspektive war ungewohnt und sie konnte kaum atmen. Ihre Eingeweide fühlten sich deplatziert an. Noch in Igelform drehte sie sich um, um zu sehen, ob sie beobachtet würde. Ihr brach der Schweiß zwischen den Stacheln aus, als sie den Blick einer Wache genau auf sich spürte. Der Schreck und der Schweiß verursachten, dass sie ihre Form unter den Stacheln für einen Moment nicht perfekt halten konnte, aber sie hoffte, dass die Stacheln das gut verbargen.

Die Wache tippte der anderen auf die Schulter und zeigte auf Lilið. Sie raunte ihr leise etwas zu, was Lilið nicht verstand, weil es in ihren viel zu kleinen, ungewohnten Ohren rauschte, von denen sie erst herausfinden musste, wie sie sie spitzte. Sie versuchte, sich trotz Atemnot und leichtem Schwindel sehr zu konzentrieren, und konnte tatsächlich die Worte ausmachen, die die andere Wache schließlich erwiderte: “Niedlich, aber wir haben hier eine Aufgabe zu befolgen. Lass dich nicht zu leicht ablenken.” Dann blickten beide wieder zurück auf die leere Seitengasse vor sich.

Puh. Lilið richtete sich langsam einatmend aus der Faltung wieder auf und lehnte sich gegen die Wand in den Schatten. Sie war ein bisschen stolz darauf, das mit dem neuen Anzug hinbekommen zu haben. Es spielte dabei eine Rolle, dass er so gut saß und dass er sich so gut anfühlte. Am Anfang ihrer Faltübungen hatte sie oft mit neuer Kleidung Schwierigkeiten gehabt, sie mitzufalten.

Sie blickte sich ein letztes Mal nach den Wachen um, und als diese keine Anstalten machten, sich zu rühren, begann sie ihre Kletterpartie.

Sie hatte sich das einfacher vorgestellt. Sie hatte es sich auch nicht einfach vorgestellt, nur einfacher. Immerhin kletterte sie mit Gepäck und in einem schicken Anzug eine Mauer hinauf, die nicht zum Klettern gedacht war, mit der Gefahr im Nacken, dass sie entdeckt werden könnte. Aber sie kletterte auch eine Mauer hinauf, an der Gestrüpp wuchs, das Geräusche verursachte, wenn sie darin hängen blieb, und daran hatte sie nicht gedacht. Sie musste ihr Klettern also mit dem Wind abpassen oder zusehen, dass sie eben nicht hängen blieb, und wenn doch, sich vorübergehend selbst zu Gestrüpp falten, damit sie nicht gesehen würde, wenn die Wachen glaubten, etwas gehört zu haben, und sich umwandten. Und das durfte ihr nicht zu oft passieren.

Sie hatte das Mäuerchen gerade erreicht, als die Musik wieder lauter wurde, faltete sich reflexartig in eine Ranke, die im Wind wehte, sich dort aber auch gut halten konnte, und dachte, es wäre zu spät. Das wäre das eine Mal zu viel, dass die Wachen sich umdrehten. Aber es war ja Musik und nicht Rascheln, das sie sich umwenden ließ. Etwas was eben immer wieder Mal passierte. Sie schauten nicht lange zu ihr hinauf, drehten sich gelangweilt wieder gen Gasse, und im nächsten Augenblick glitt Lilið auf den Balkon.

Sie erkannte nun zügig den Grund dafür, dass der Balkon so leer war. Es war ein Erotik-Balkon. Hinter einem Vorhang aus Tuch und Ranken auf der einen Seite hörte sich rascher werdendes, heißes Atmen. Unter dem Sichtschutz lugten grellblaue Spitzenunterwäsche und der Zipfel eines blau und schwarz gemusterten Abendkleides hervor. Auf der anderen Seite gab es auch so einen blickdichten Bereich, der aber den Anschein erweckte, leer zu sein.

Lilið trat zwischen den beiden abgetrennten Bereichen hindurch zur Tür, öffnete sie und wollte hindurchschreiten, aber eine Wache, die den Eingang von innen bewacht hatte, stellte sich ihr in den Weg. “Ich kann mich nicht erinnern, dich auf den Balkon treten gesehen zu haben.”, sagte sie. Ihr Tonfall war freundlich, aber machte zugleich unmissverständlich klar, dass es hier noch etwas zu bereden gab.

Lilið schüttelte den Kopf. “Ich habe mich auch gewundert, dass ich dabei nicht bemerkt worden bin.”, sagte sie.

“Kannst du mir deine Einladung zeigen?”, fragte die Wache. “Das lässt sich ja dann einfach und schnell klären.”

“Mir war nicht bewusst, dass ich sie auf dem Balkon brauchen würde.”, murmelte Lilið eingeknickt. Sie versuchte die Rolle einer Person zu spielen, die wusste, dass sie etwas falsch gemacht hatte, und auf Großzügigkeit angewiesen wäre.

Die Wache musterte sie von oben bis unten. “Eine Frau in einem Anzug. Das bedarf auch einer Sondergenehmigung, weil es gegen die Etikette ist.”, gab die Wache zu verstehen.

Lilið wurde sehr heiß. Das hatten die in der Schneiderei nicht gewusst? Hätte sie das aus der Andeutung schließen sollen, dass sie in einem Anzug auf diesem Ball durchaus aus der Reihe tanzen würde? Waren sie einfach davon ausgegangen, dass Lilið eine Genehmigung hatte? “Das wusste ich nicht.”

Die Wache runzelte die Stirn. In Lilið verknoteten sich die Eingeweide nun ganz von selbst, auch ohne sich in einen Igel zu falten. Sie hatte keine Chance, zu entkommen. Sie konnte sich nicht einfach vor der Wache falten. Wenn Wachen erst sicher wussten, dass es eine Person gab, die zu fliehen versuchte, war das etwas ganz anderes, als unter unwissenden Wachen unbemerkt einen Balkon hinaufzuklettern. Lilið wurde dabei bewusst, dass ihre Hände, die noch von der Mauer voller Steinstaub klebten, sie auch verraten würden. Sie verschränkte sie hinter dem Rücken und rieb sie erst aneinander und dann möglichst unauffällig in der Innenseite des Anzugs ab, während sie nach vorn hin ungefähr so verzweifelt spielte, wie sie sich fühlte, nur in unschuldig.

“Allil!”, hörte sie eine andere vertraute Stimme, die sich ihre Eingeweide auf ganz andere Weise wickeln ließ.

Marusch!

“Sie gehört zu mir.”, versicherte Marusch der Wache.

“Sie braucht trotzdem eine Einladung.”, erklärte die Wache.

Marusch suchte in der kleinen, zu ihrem Abendkleid passenden Handtasche nach einem Stück Papier und reichte es der Wache. “Wir sind für die Tanzaufführung hier. ‘Das Tanzdesaster von Lilið aus der Unterwelt’ aus dem Tanzzyklus von Bangelesch. Daher bin ich im Kleid hier und sie im Anzug. Sie hatte sich gerade nur umgezogen.”

“In dem Fall müsstest du mir ein Abendkleid zeigen können, dass du angehabt hattest.” Die Wache richtete sich wieder an Lilið, immer noch skeptisch, aber nicht mehr in einer Weise, die keine Hoffnung auf einen besseren Ausgang ließ.

“Ich habe es auf dem Balkon liegen lassen.”, sagte Lilið. “Ich war überzeugt, dass der Balkon als Umkleide gedacht ist, wegen der Sichtschutzvorhänge und der Privatsphäre. Ist es in Ordnung, wenn ich kurz auf den Balkon gehe, und es hole?”

Die Wache überlegte kurz, nickte und richtete sich an Marusch. “Du stehst im Zweifel für deine Begleitung ein, wenn sie nicht wiederkommt?”

“Selbstverständlich.” Maruschs Stimme war klar und fest. Und ließ Liliðs Nerven abermals aufflammen.

Lilið betrat den Balkon erneut. Ja, es wäre vielleicht verhältnismäßig einfach gewesen, nun zu entfliehen und Marusch hängen zu lassen. Und da sie auf dem Ball gewesen war, wüsste Marusch nun auch, dass sie sie wiedersehen wollte. Es wäre vielleicht auch nur fair gewesen, wenn sie sie im Gegenzug auch in Schwierigkeiten gebracht hätte. Aber Lilið wollte kein Zurück.

Der Atem der Personen in der Kabine war in einen schnellen Rhythmus übergegangen. Eine der Personen stöhnte dabei. Lilið bückte sich und zupfte das Abendkleid, das darunter hervorlugte aus der Kabine. Das Stöhnen und die zarten, erotisierenden Geräusche, die gelegentlich von der anderen Person dazukamen, ließen sich davon nicht ablenken.

Lilið hoffte, dass sie Gelegenheit haben würde, das Kleid zurückzubringen, aber konnte nicht abschätzen, wie wahrscheinlich sich eine ergeben würde. Sie legte sich das Kleid ordentlich über den Arm und besah es sich skeptisch. Es war schon ein auffälliges Kleid. Wenn sich die Wache erinnern würde, dass sie vorhin eine Person damit auf den Balkon treten gesehen hatte, dann waren sie geliefert.

Lilið überlegte, das Kleid in ein anderes zu falten. Aber dazu kannte sie es noch nicht gut genug. Der Gedanke brachte ihr aber die rettende Idee. Sie legte es wieder vor der Kabine ab, in der das Stöhnen nun wieder abgebbt und in wohligere, genießende Geräusche eines Nachspiels übergegangen war, packte ihre Jacke aus, die sie wie kein anderes Kleidungsstück verstand, und faltete sie in ein Abendkleid, wie sie es an Bord der Reisefragette zurückgelassen hatte. Es kostete sie nicht allzu viel Atem und Konzentration. Das sollte sie hoffentlich lange genug durchhalten. Als sie sich sicher war, dass sie gut vorbereitet wäre, trat sie mit leicht hängendem Kopf zurück durch die Balkontür.

“Unten links hinter der Bühne findest du die Tür zu den Umkleideräumen der Vortanzenden.”, erklärte die Wache.

“Vielen Dank.”, sagte Lilið leise. Ihre Stimme zitterte.

Sie konnte nicht leugnen, dass sie die Anspannung auch genoss, aber langsam kam sie nervlich an ihre Grenzen.

“Das Chaos tut uns sehr leid.”, fügte Marusch zur Wache gewandt hinzu. Ihre Stimme klang selbstsicher und einladend dabei. “Meine eigentliche Partnerin ist leider wegen einer schweren Grippe ausgefallen. Allil kennt die Gepflogenheiten noch nicht und ich habe versäumt, sie gut einzuführen. Ich hoffe, so etwas kommt uns nicht wieder vor.”

Die Wache nickte. “Habt einen guten Abend. Zur Aufführung werde ich schon abgelöst sein und werde mir euren Tanz nicht entgehen lassen.”

Marusch bot Lilið den Arm an, in den sie sich einhakte. Immerhin diese Gepflogenheit kannte sie sehr gut und führte sie formvollendet aus. Nun, da Marusch sie berührte und ihr Geruch ihr wieder so nah war, fühlte sich ihr ganzer Körper kribbelig unter der Haut an.

“Ich hoffe, du kannst tanzen!”, raunte Marusch ihr zu.