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CN: Sex - erwähnt, Suizid als Gesprächsthema.
Auch in den folgenden Tagen konnte Lilið sich nicht über einen Mangel an Aufregung oder Anstrengung beklagen. Mit der Entdeckung des Metallstaubs war das Dekodieren noch nicht getan. Lilið wusste nicht einmal, ob sie das sonderlich überraschte. Sie hatte die Zeichen nicht gekannt, die sie gefühlt hatte. Auch Marusch nicht, die sich im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen mit Dekodierungsmethoden mit mindestens drei bekannten Schriftsystemen befasst hatte.
Im Gegensatz zu Lilið konnte Marusch die Zeichen nicht erfühlen. Also hatte sie Lilið gebeten, eine Abschrift anzufertigen. Das war nicht wenig Arbeit. Es war Arbeit, die Lilið durchaus anfangs eine gewisse Freude bereitet hatte, aber sie wollte ja auch weiter an ihren Faltfähigkeiten arbeiten. Während sie segelten erklärte ihr Marusch Theorie, sehr viel spannende Theorie, und nachdem sie sich zusammengerauft hatten und Lilið ausreichend erklärt hatte, wann sie welche Tonfälle nicht mochte, hatte es angefangen, sehr großen Spaß zu machen, Marusch zuzuhören und zu löchern. Nach dem Durchbruch mit dem Seestern lernte sie fast täglich etwas Neues. Etwa, wie sie sich falten und gleichzeitig atmen konnte. Und was damit alles möglich war! Marusch hatte erklärt, dass Chameleon-Magie in zwei Magiezweige fiel: In Illusions-Magie und tatsächlich in Falt-Magie. Im ersten Fall ging es darum, das Licht so zu verändern, dass eine Person aussah wie eine andere, und im anderen darum, sich umzufalten.
Lilið faszinierte das. Es hatte drei weitere Abende Übung gebraucht, bis sie sich das ganze Abendessen hindurch erfolgreich als Marusch ausgegeben hatte. Nun ja, äußerlich. Schauspiel war eine ganz andere Kategorie von Lerninhalt. Und die Stimme war auch immer noch ihre. Marusch erklärte ihr, dass sie ihre Stimmbänder auch falten könnte, aber das scheiterte bisher kläglich.
Die Abschrift fertigten sie anfangs zusammen an. Zunächst zeichnete Lilið die verschiedenen Zeichen, die sie fand, auf ein Blatt. Anschließend gaben sie ihnen Namen und Lilið diktierte sie, während Marusch mitschrieb. Aber das Buch war lang und es war Lilið nicht recht, dass dabei so viel Zeit von ihrem Lernen abging, also arbeitete ihr Kopf nachts an einer Lösung. Es kam vor, dass sie dabei waren, sich im Dunkeln vorm Einschlafen zärtlich zu streicheln, obwohl es spät und sie müde waren, weil sie nicht lassen konnten, sich gegenseitig zu genießen, und Lilið das Ganze unvermittelt mit einem Gedanken zu Magie, Falten oder dem Buch unterbrach. Der am Ende zielführende Gedanke hatte den Nachteil, dass er die angefangene Arbeit hinfällig machte, aber den Vorteil, dass die Gesamtarbeit trotzdem schneller erledigt sein würde: Sie konnte ja nicht nur mit den Fingern das Papier erfühlen, sondern auch durch bloße Berührung Papier so falten, wie sie wollte, und das sehr gut und routiniert. In den kommenden Abenden kopierte sie auf diese Art die Seiten des Buches in Seiten, wo das, was sie als Metall spürte, jeweils eine Falte war.
Es machte die bisherige Arbeit deshalb hinfällig, weil Marusch in der ersten solchen Kopie bereits systematische Unterschiede sich ähnelnder Zeichen entdeckte, die Lilið für gleich gehalten hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Marusch beim Dekodieren trotzdem keinen Erfolg gehabt hatte.
Sie hatten noch zwei Tagesreisen vor sich, bis sie Nederoge erreichen würden, zumindest wenn alles gut ginge, als Lilið die Kopie abgeschlossen hatte. Marusch hatte die ersten Ideen, wie sich daraus ein verständlicher Text ergeben könnte, aber sie beschlossen, sich heute nur noch auszuruhen. Sie hatten eine lange Reise mit sehr schwachem Wind hinter sich und am folgenden Tag würde eine ebenfalls sehr lange bei recht viel Wind über die Seenplattenströmungen anstehen.
Sie lagen früher als sonst im Zelt und versuchten, zu schlafen. Der Tag war warm gewesen. Eine dünne Wolkenschicht, die den Wind für den morgigen Tag ankündigte, sperrte die Wärme auf der Oberfläche des Planeten ein, sodass es Marusch und Lilið zu ungemütlich war, um sich dicht aneinander zu kuscheln. Stattdessen lag lediglich Maruschs Hand auf Liliðs Unterarm, wo er am zärtesten war.
Lilið konnte nicht schlafen. Sie hatte über die vergangenen zwei Wochen ihr Denken kaum heruntergefahren, und vor allem noch nicht um diese Uhrzeit und ohne Sex. Sie seufzte und beschloss doch endlich die alberne Frage zu stellen, die ihr seit einigen Tagen wie ein lästiger Ohrwurm im Kopf herumkreiste. “Vertraust du mir?” Sie hoffte, dass Marusch noch nicht schlief und sie sie mit der Frage nicht geweckt hätte.
Aber Marusch reagierte zunächst gar nicht. Und dann mit so sanfter Stimme, dass es Lilið den Rücken herunterkribbelte. “In den wichtigen Punkten ja. Wieso fragst du?”
“Ich glaube, ich möchte, dass du mir vertraust, und zugleich habe ich den Eindruck, dass ich dein Vertrauen nicht verdiene.”, sagte Lilið. “Aber eigentlich weiß ich es nicht genau. Die Frage bohrte da so herum.”
Marusch kicherte warm. “Ich glaube, mit deinem Eindruck, dass du es nicht verdienen würdest, hast du auf manchen Ebenen nicht ganz unrecht. Aber das macht mir nichts aus.”, sagte Marusch. “Du möchtest mir gewisse Dinge nicht erzählen. Damit du auch nicht in die Verlegenheit gebracht wirst, lügst du mich gegebenenfalls an. Und ich frage nicht weiter. Aber ich vertraue dir zum Beispiel sehr, dass du mir deine Gefühle für mich nicht nur vormachst. Ich glaube, dass du mich magst und mir nichts Böses willst, aber dass im Zweifel etwas anderes wichtiger werden kann.”
Liliðs Inneres verkrampfte sich bei den Worten. Vor Scham, weil Marusch recht hatte, und vor positiven Gefühlen, weil sie Marusch wirklich mochte. Sie griff nach Maruschs Hand und küsste sie sanft. “Ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass etwas anderes wichtiger werden würde.”, sagte sie leise. “Ich glaube, selbst mein Vater ist mir derzeit nicht wichtiger. Ich möchte das Buch seinetwegen zurückbringen, aber würdest du dabei zu großer Gefahr ausgesetzt, wüsste ich nicht weiter.”
Wieder reagierte Marusch eine Weile nicht. Aber dieses Mal war es anders. Lilið spürte ihre Hand in der eigenen erschlaffen, den Atem flacher werden, und als sie Marusch musterte, so gut es das Dunkel zuließ, wirkte sie wie leblos.
Lilið schluckte das Grauen herunter. “Ist etwas schlimm?”
“Ich habe das Bedürfnis, mich zu distanzieren.” Passend zu dem, was Marusch sagte, klang sie ein wenig wie aus der Ferne. “Ich sollte das vielleicht nicht tun. Ich weiß es nicht. Ich bin nicht sonderlich stabil. Wenn ich verschwinde, dann bedeutet es für Menschen, die mich mögen, Trauer und Verlust. Jede Beziehung zu einer Person, die ich dadurch verletzen würde, dass ich gehe, belastet mich.” Endlich tat Marusch einen tiefen Atemzug. “Das ist ein hartes Thema. Ist es für dich in Ordnung? Oder soll ich mich eher verschließen.”
Lilið widerstand dem Impuls, Maruschs Hand in ihrer fester zu halten. “Redest du von Suizid?” Und dann tat sie es doch, so zärtlich sie konnte. “Ja, ich kann mit dem Thema umgehen.”
“Zum Beispiel. Ich habe immer Mal wieder suizidale Phasen. So würde ich das beschreiben. Eigentlich, denke ich, besteht die meiste Zeit über kein Risiko, dass ich mich suizidiere. Aber für mich fühlt sich leben nur machbar an, wenn ich mir permanent über die Option bewusst bin. Sie gibt mir Sicherheit.”, antwortete Marusch. “Und vielleicht in dem Zusammenhang neige ich zu Risikoverhalten. Das hast du vielleicht schon mitbekommen.”
Lilið strich mit einem Finger sanft über die immer noch schlaffe Hand. “Habe ich.”, sagte sie. “Es überrascht mich auch nicht, von deiner Seite mit dem Thema konfrontiert zu werden. Aber vielleicht kann ich dich beruhigen: Wenn du gehst, gehst du, und ich werde damit leben lernen. Nur selbst möchte ich dein Leben nicht riskieren.” Lilið zögerte und fügte ein weiches “Nicht allzu sehr.” hinzu. “Meine Reiseplanung ist ja nun auch nicht unriskant. Oder unser Einbruch in Lord und Lady Piks Anwesen. Oder unser Unterfangen, das Buch zurückzugeben. Das wird auch noch einiges an Risiko mit sich bringen.”
Endlich kam wieder Leben in Maruschs Hand. Ihr Daumen lag so, dass sie Liliðs Haut damit berühren konnte, und sie strich darüber im Rahmen des wenigen Spielraums, den sie hatte, ohne sich aus Liliðs Griff herauszuwinden. “Das tut tatsächlich gut, zu wissen.”, sagte Marusch. “Danke, dass ich mich dir anvertrauen darf. Menschen haben meistens den Reflex, alles gut zu finden, was mich daran hindern könnte, mich zu suizidieren, und darauf den Fokus zu lenken. Quasi, Hauptsache weiterleben, egal wie. Während ich mir vielleicht wünsche,”, Marusch unterbrach sich einen Moment, vielleicht, um nachzudenken, und strich Lilið mit der noch freien Hand über den Arm. “Ich wünsche mir, mit meiner Suizidalität sein zu dürfen und akzeptiert zu werden. Vielleicht ist Suizidalität ein zu starkes Wort dafür, aber ich benutze es mal, mangels eines besseren. Es gehört zu mir und geht nicht durch Zwang weg. Es hilft mir nicht, wenn Leute mich nicht gehen lassen wollen und sich dagegen wehren. Das löst in mir den Drang aus, mich zu distanzieren.”
“Und gerade habe ich den Drang ausgelöst, indem ich äußerte, dass du mir vielleicht wichtiger bist als mein Vater?”, fragte Lilið. Sie tat es in möglichst sachlichem Tonfall. “Was impliziert, dass ich dich in ähnlicher Weise zu retten versuchen würde? Also ich an deinem Leben hänge?”
“Ja.”, flüsterte Marusch. “Ich möchte gern nicht vermisst werden. Nicht negativ schmerzvoll zumindest. Oder am liebsten gar nicht. Ich wünschte, dass sich niemand an mich erinnern würde, sollte ich gehen. Ich möchte keine Spur hinterlassen. Keine Erinnerungen, keine Gefühle, nur ein bisschen Staub.”
Dieses Mal war es an Lilið, länger darüber nachzudenken, wie sie darauf reagieren sollte. Ihre Reflexe waren durchaus, zu sagen, dass sie gern Erinnerungen an Marusch haben wollte. Aber ihr wurde auch zügig bewusst, dass, würde sie Marusch komplett vergessen, sie auch nichts vermissen würde. Weil sie nicht vermissen könnte, wozu sie keine Verbindung mehr hätte. Sollte Marusch nicht mehr sein und sie hätte die Wahl, die Erinnerungen zu behalten oder so restlos zu löschen, dass sie nichts vermissen könnte, sie würde trotzdem ersteres wählen. Aber sie respektierte Maruschs Wunsch natürlich. Dann hatten sie eben verschiedene Wünsche. Und sie wollte Marusch nicht davon überzeugen, einen anderen zu entwickeln.
“Habe ich nun etwas zu Schlimmes gesagt?”, fragte Marusch.
“Nein.”, antwortete Lilið sofort. “Ich frage mich, wie du dir wünschst, dass ich damit umgehe. Sagen wir, du wärest in Gefahr, und ich hätte das Bedürfnis, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Wäre dir unlieb, wenn ich das versuche?”
“Ja.”, antwortete Marusch ohne Zögern, aber korrigierte dann doch: “Wenn etwas Politisches dahintersteht, und du tust es vor allem für diesen politischen Grund, ist das vielleicht etwas anderes. Aber auch da wäre es nicht unwahrscheinlich, dass ich nur in Gefahr scheine, aber nicht allzu sehr in Gefahr bin, sondern es Teil eines Spiels ist. Ich würde mir wünschen, dass du kein hohes Risiko für mich eingehst.” Etwas sanfter ergänzte sie: “Aber ich möchte dir eigentlich auch keine Vorschriften machen. Ich würde dich bitten, es dir gut zu überlegen und mit einzuberechnen, dass ich gar nicht so am Leben hänge. Und dass Dinge vielleicht anders scheinen können, als sie sind.”
Lilið nickte nachdenklich und untermalte die in der Dunkelheit nur eingeschränkt sichtbare Geste mit summenden Geräuschen. “Ich werde mit meinem üblichen Herumgeanalysiere da rangehen und mit einberechnen, wie ich einschätze, was du möchtest.”, versprach sie.
“Wow, Lilið, womit habe ich dich verdient?”, seufzte Marusch. “Ich fühle mich zumindest ernst genommen. Und nicht irgendwie in ein gefälligeres Wunschbild verdreht. Dafür bin ich dir unbeschreiblich dankbar.”
“Was, wenn ich mich gerade nur zusammenreiße und absichtlich distanziert bin, und heimlich doch an dir hänge?”, murmelte Lilið.
“Das würde ich schade finden, aber das berechne ich bereits mit ein.” Maruschs Stimme war weich und warm, als würde sie etwas sehr Liebes sagen wollen. “Du versuchst mich trotzdem nicht zu verdrehen. Oder mal eben von etwas zu überzeugen. Oder für mich zu entscheiden, was das Beste für mich wäre. Das allein ist schon selten.”
Lilið strich ihr über die Wange. Marusch hielt sie stets glatt rasiert. Lilið fühlte die zarte Haut gern. “Ich glaube, ich distanziere mich nicht einmal.”, sagte sie. “Es scheint dich einfach mehr zu belasten, nicht mit deiner Suizidalität akzeptiert zu sein, als die Suizidalität selbst dich belastet. Korrigiere mich, wenn ich falsch liege.”
“Tust du nicht. Die Suizidalität ist manchmal belastend, aber meistens ist sie einfach ein Teil von mir, schon von klein auf gewesen. Es fühlt sich meistens eher entlastend an, die Option zu fühlen, jederzeit zu gehen.” Wieder sprach Marusch sehr leise. “Vielleicht ändert sich das irgendwann, auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Aber dann muss es von mir kommen. Wenn andere versuchen, daran etwas zu ändern, dann belastet mich das sehr.”
“Dann habe ich das richtig wahrgenommen.”, sagte Lilið. “Und deshalb ergab es für mich keinen Sinn, in mir drin ein Gefühl von Grauen oder so etwas zu spiegeln, wenn du es selbst nicht hast. Ich weiß nicht, wie es ist, so etwas mit sich herumzutragen. Ich habe es ja nicht. Es ergibt für mich keinen Sinn, etwas mitzufühlen, wovon ich kein Konzept habe. Stattdessen versuche ich, deines zu begreifen.”
“Danke. Das ist schön.” Marusch drehte nun doch ihre Hand in Liliðs, um umgekehrt Liliðs Hand zu ihrem Mund zu führen und zu küssen. “Wie ist es eigentlich umgekehrt: Vertraust du mir?”
Lilið kicherte. “Ich glaube, du bist ehrlicher als ich mit den Dingen, die du mir nicht anvertrauen möchtest. Du sagst, dass da etwas ist, worüber du nicht reden möchtest.”, sagte sie. “Ich vertraue dir auf ähnliche Weise wie du mir. Ich glaube dir, dass du mir nicht vormachst, dass du mich magst, sondern es wirklich tust. Und ich glaube, dass du mein Leben nicht unnötig gefährden wirst.”
“Über letzteres würde ich gern noch einmal mit dir reden.”, sagte Marusch, nun wieder mit einem breiten Grinsen in der Stimme.
Lilið runzelte die Stirn, fühlte es an den Muskeln und realisierte, dass Marusch es wahrscheinlich nicht sah. “Würdest du?”
“Das kommt drauf an.”, antwortete Marusch. “Auf Definitionen von ‘unnötig’ vor allem. Und darauf, was du nach der Buchrückgabe vorhast. Wenn wir weiter zusammenbleiben wollen, würde ich mich gern nicht sehr in meinen Plänen einschränken. In meinen unkonkreten Plänen. Das bringt ein Risiko mit. Ich denke, ein ähnliches, wie du es schon kennst, aber eben nicht mehr für den Zweck, deinen Vater zu retten. Also gegebenenfalls unnötiger.”
“Du sagtest, die Pläne sind unkonkret. Aber kannst du trotzdem etwas über sie sagen?”, fragte Lilið.
Marusch schüttelte den Kopf. Lilið sah es kaum, aber spürte es in der Unterlage. “Die Optionen, die so zur Debatte stehen: Mehr Unsinn der Kategorie machen, in die der Diebstahl des Buches fällt. Ich mag daran die spannende Lektüre und das Auflehnen gegen Regeln, die Machtungleichgewichte auf besonders unsinnige Weise zeigen.”
“Oh, die zweite Begründung kannte ich noch gar nicht!”, hielt Lilið überrascht fest. “Ich dachte, du wolltest nur ein Buch lesen.”
“Ich wollte auch einfach nur das Buch lesen.”, antwortete Marusch kichernd. “Ich möchte viele Dinge einfach tun. Und ich suche mir unter diesen Dingen solche aus, um mich von ihnen nicht einfach abhalten zu lassen, bei denen es eine besonders antiautoritäre Aussage hat.”
“Ich glaube, das verstehe ich.” Nach kurzem Zögern ergänzte Lilið: “Und ich mag es irgendwie. Was sind die anderen Optionen?”
“Menschen retten, die auf kriminalisierte Art versuchen, etwas im System zu bekommen, was ihnen zustehen sollte, und die dabei in Schwierigkeiten geraten.”, schlug Marusch vor. “Aber das ist ein frustrierendes Fass ohne Boden.”
Lilið nickte. “Das habe ich mir auch schon überlegt. Vielleicht ist es dann besser, die Revolution zu planen.”
Marusch kicherte. “Nehme ich mit auf die Liste der Optionen!”, sagte sie. “Auch wenn ich mir das nicht so richtig zutraue. Und eigentlich keine Lust darauf habe. Eine Revolution ist nicht unwahrscheinlich tödlich für die, die sie einleiten, oder alternativ sehr traumatisierend. Die Erfolgsquoten sind nicht riesig. Ich bin ein wenig egoistisch und würde eigentlich auch noch gern was vom Leben haben.”
“Hm.”, machte Lilið. “Ich verstehe den Gedanken, aber ich finde gerade schwierig, ihn mit einem suizidalen Charakter überein zu bringen.”
“Ist das so verwunderlich?”, fragte Marusch. “Dass ich bei der Frage, was ich mit dem Leben, das mich oft frustriert, etwas anfangen möchte, was mir persönlich etwas bedeutet? Wovon wahrscheinlich ist, dass es sich auszahlt?”
“Ich verstehe.”, murmelte Lilið. Sie überlegte, ob sie noch etwas dazu zu sagen oder fragen hatte, aber es gab nichts. “Noch eine Option?”
“Ich hatte mir überlegt, vielleicht die Diebstähle und anderen Kriminalakte weniger davon abhängig zu machen, wie antiautoritär sie sind, sondern sie überall auf dem Planeten auszuführen und dabei Kontakte zu schließen. Wie den zu Heelem.”, erklärte Marusch. “Das könnte ein gutes Netzwerk für eine Revolution werden. Als Ausblick.”
Lilið nickte wieder. “Ich denke, da könnte ich mich mit anfreunden.”, sagte sie. Es war ja auch kein ganz neuer Gedanke. “Vielleicht könnten wir auch die Gruppe erweitern. Mit mehr Booten wären wir sicherer. Was meinst du?”
“Klingt gut!”, sagte Marusch. “Also sagen wir, es ergeben sich in der Richtung Pläne und ich hätte keine Möglichkeit, sie mit dir abzusprechen, bevor ich dich hineinplane, wäre es für dich ein ausreichendes ‘nötig’ dafür, dass ich dein Leben ein wenig riskiere?”
Lilið dachte an Allil. Aber eigentlich wusste sie, was sie wollte. Und dass sie beide nun besser aufpassen würden, als sie es in der Situation mit Allil getan hatten. Trotzdem ging sie das Erlebnis noch einmal in Gedanken durch. “Ja, aber ich möchte, wenn du mich spontan anders umbenennst, nicht mehr Allil heißen.”
Marusch nickte. “Den Gedanken hatte ich auch bereits.”, sagte sie. “Ich habe es vorwiegend getan, weil ich weiß, dass du durch dein Training damals mit ihr auf diesen Namen reagieren wirst. Aber mir war eigentlich nie wohl dabei, ihn für dich zu benutzen. Das tut mir leid. Soll ich dir einen anderen Namen vorschlagen, oder möchtest du?”
“Du hättest bereits einen Vorschlag?”, fragte Lilið überrascht.
“Ich mag Aurin.”, sagte Marusch.
“Oh, der ist geschlechtsneutral oder?” Aurin. Das klang schön, fand Lilið.
“Genau! Wobei die seltsame Welt da draußen vermutlich sagen wird, es wäre ein Name für beide Geschlechter.” Marusch klang ein wenig resigniert. “Aber der Name Lilið musste ja auch schon lernen, für mehr Geschlechter erlaubt zu sein. Ich denke, Aurin würde das auch lernen. Oder wie immer du heißen magst.”
“Aurin.”, antwortete Lilið.
“Darf ich dich in den nächsten Tagen zu Übungszwecken immer Mal wieder so nennen?”, fragte Marusch.
“Zu Übungszwecken.”, erklärte sich Lilið einverstanden. “Ich heiße immer noch Lilið.”
“Das ist schön.”, sagte Marusch. “Lilið. Magst du mit mir schlafen? Also, in der müden Bedeutung?”
Lilið beugte sich über Marusch und gab ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn. “Gute Nacht, Marusch.”, flüsterte sie. Sie hatte dasselbe schon einmal getan, bevor sie sich dann doch wieder unterhalten hatten. Aber nun war sie innerlich ruhiger und konnte schlafen.
Lilið weckte sie, wie nicht unüblich, zum Sonnenaufgang. Da es eine lange Reise werden würde, verschoben sie ihr Frühstück auf See. Sie packten alles besonders organisiert, damit sie auf der langen Fahrt mühelos an alles Wichtige drankämen, schoben die Ormorane in die Brandung und starteten die Tagesreise. Nah vor Ufer brachen und schäumten die Wellen, sodass das Einhängen der Ruderanlage ein frickeliges Unterfangen war. Die Beschläge, in die sie fast gleichzeitig eingehängt werden musste, hoben und senkten sich samt Heck. Obwohl Lilið darin geübt war, brauchte sie dafür sicher ein paar Minuten.
Dann stiegen sie ein, die Segel dabei schon halb gefüllt, und rauschten aufs Meer hinaus. Zunächst hatten sie Gegenwind, aber dann führte sie die Route in einem Bogen um eine Insel herum, sodass sie mit Wind schräg von achtern übers bald inselfreie Meer jagten. Es war auf der Fahrt selten vorgekommen, dass sie gar kein Land gesehen hatten, aber heute würde es über eine lange Zeit so sein.
Der Wind war gleichmäßig stark, der Tag nicht so heiß, weil der Himmel bedeckt und die Luft etwas diesig war. Nun, als der Kurs einfach nur gehalten werden musste, holten sie ihr Frühstück nach.
“Wir sollten gleich noch einmal eine Pause einlegen und beidrehen.”, beschloss Lilið. “Um uns im Meer zu erleichtern. Denn in einer knappen Stunde oder so passieren wir die Seenplattenströmungen und wechseln ihre Seite. Da ist über einige Stunden eine Pause nicht drin.”
Beidrehen war bei der Ormorane ein Manöver, bei dem das Vorsegel auf der falschen Seite fixiert wurde, also, auf der Seite, von der der Wind eher kam. Er drückte in das Segel, sodass es sich nach innen bauchte, und trieb die Ormorane rückwärts an. Die Ruderanlage wurde beim Beidrehen so fixiert, dass sie dabei das Boot in eine Richtung steuerte, dass der Wind wieder ins Großsegel strich und es wiederum vorwärts antrieb. Sobald es Fahrt nach vorn aufgenommen hatte, wirkte die Rudereinstellung umgekehrt, sodass es das Vorsegel wieder mehr gegen den Wind drehte. Auf diese Weise flatterten auch bei starkem Wind die Segel nicht, aber das Boot bewegte sich kaum, immer nur leicht vor und zurück.
Sie wechselten sich bei ihrem Bad ab: Erst zog sich Marusch untenrum aus und stieg, sich an einem Seil festhaltend ins Wasser, und dann war Lilið dran.
Obwohl es nicht so warm war, tat die Abkühlung sehr gut. Lilið wäre sonst bei der Aufregung danach vielleicht unangenehm heiß geworden, die sie in sich fühlte, als sie zum ersten Mal mit einer Jolle auf eine Seenplattenströmung zusegelte. Sie hielt lange Ausschau nach dem Streifen an besonders starker Gischt mitten auf dem Meer, wo die verschiedenen Strömungen aufeinandertrafen. Aber sie spürte den Sog unter dem Rumpf bereits, bevor sie den weißen Streifen entdeckte. Und als sie ihn entdeckte, war er schon viel näher, als sie es erwartet hätte. Sie hatte die Diesigkeit unterschätzt.
“Halt dich gut fest!”, befahl Lilið. “Ich weiß nicht, ob ich dich dort aus dem Wasser ziehen könnte, wenn du mir über Bord gingest!”
Marusch nickte ihr mit einem Grinsen zu. Sie genoss das alles, das war ihr anzusehen.
Lilið ließ sich anstecken und freute sich einfach auch. Sie wurde sich bewusst, wie klein sie auf diesem Planeten waren. Das war ein schönes Gefühl. Es verschob, was wichtig und was unwichtig erschien.
Eine starke Strömung ergriff das Boot und riss es mit einer Gewalt mit sich, dass kein Steuern der Welt einen geraden Kurs darüber hinweg zugelassen hätte. Lilið verschenkte keine Zeit, sich über den Kurs Gedanken zu machen. Sie steuerte die Ormorane auf eine Art halb gegen den Wind und gegen die Strömung, dass sie nicht umgeworfen würden, und dann erst, als die Strömung gleichmäßiger wurde wieder senkrecht dazu. Sie merkte, dass sie mehr seitwärts segelte, aber das machte nichts. Sie mussten nur schnell genug von der Strömung wieder heruntersein. Je länger sie abgedriftet wurden, desto länger wäre hinterher ihr Weg zu ihrer Zielinsel. Und würden sie zu weit abgedriftet werden, müssten sie sie wechseln und die Reise würde sich um mindestens fünf Tage verlängern. Vielleicht wären fünf Tage länger reisen auch nicht so schlimm, überlegte Lilið. Sie mochte das Reisen mit Marusch. Nun, sie würden wohl ohnehin danach irgendwohin weiterreisen.
Aber als sie das Ende des Strömungsstreifens erreichte, hatte sie sehr andere Sorgen als mögliche fünf Tage zusätzlicher Reise. Die hoch peitschenden Wassermassen verrieten ihr, dass der Strömungswechsel hier so stark sein würde, dass er das Boot auseinanderreißen könnte.
Lilið steuerte über die Wellen, versuchte, die Ormorane zum Fliegen zu bekommen, damit sie nicht irgendwann zeitgleich mit dem Heck in einer anderen Strömung stecken würde als mit dem Bug. Aber der Wind war nicht stark genug. Als sie die Grenze erreichten, musste Lilið spontan entscheiden. Sie wählte einen Winkel, bei dem sie fast entlang ihrer alten Strömung ausgerichtet in die neue eintraten. Aber die neue riss sie trotzdem herum. Etwas knackte. Sie wurden aus dem Strom herausgerissen und trudelten zweimal im Kreis. Lilið und Marusch hatten alle Hände voll damit zu tun, die Segel daran anzupassen. Zweimal schlug der Baum auf die andere Seite und sie mussten sich ducken. Dann war der Spuk vorbei.
Lilið ließ kaum Zeit verstreichen. Nicht, dass sie wieder auf die Strömung zutrieben! Sie setzte den neuen Kurs und holte erst dann allmählich Atem. “Was hat geknackt?”, fragte sie. “War das einfach normal, weil Holz unter Last mal knackt, oder meinst du, es ist was kaputt?”
“Ich denke, eher ersteres, aber fühl doch nach!”, schlug Marusch vor.
Lilið starrte sie einen Moment an. Ja, das konnte sie inzwischen. Sie war es nur noch nicht gewohnt.
Sie legte den Handballen der Hand, die die Schot hielt, auf der lackierten Bordswand ab und fühlte hinein. Sie fühlte die ganze Ormorane. Oder fast die ganze. Der Mast bereitete ihr Schwierigkeiten, weil er aus einem anderen Holz gemacht war und nicht mit der Ormorane sozusagen verwachsen. Er konnte heruntergenommen werden. Aber sie fühlte den ganzen Rumpf. Sie kannte die Ormorane, hatte sie unterbewusst über die ganze Zeit kennengelernt, nur noch nie so bewusst erfühlt. Sie hätte sie falten können.
“Sie ist im Prinzip heile, nur in einem Bereich Holz am Bug merke ich, dass sich das ganze kurz so verbogen hat, dass es unter erneutem Einwirken von Last brechen könnte.”, erklärte sie. “Ich glaube, ich kann das verfalten. Auf Dauer. Sollte ich es jetzt probieren? Oder, es darauf verschieben, wenn wir an Land sind, falls ich Fehler mache? Wo es vielleicht auch eine Person tun kann, die es gelernt hat?” Sie spürte die Aufregung, während sie das sagte, mit ihrem Falten etwas zu tun, was wirklich nützlich war. Aber sie hatte Angst, zu übermütig zu sein. Ein Verschmelzen zwischen zwei Holztypen wie bei der Reparatur der Ruderanlage traute sie sich noch nicht zu.
“Ich denke, wenn du es tust, haben wir weniger Risiko für uns, als wenn ich noch einmal eine solche Marke einsetze.”, hielt Marusch fest. “Ich würde sagen, fühl über den Verlauf der Fahrt weiterhin hinein. Und wenn es sich verschlimmert oder wir wieder in Strömungen geraten könnten, machst du es dann. Und sonst erst, wenn wir angelegt haben.”
Lilið nickte. Das klang sinnvoll. Aber am Ende entschieden sie sich doch noch einmal um: Lilið hatte den Eindruck, sie würde es auf der Fahrt besser können. Die Ormorane fühlte sich im Wasser liegend für sie natürlich vertrauter an als an Land. Also tat sie es, als ihre Zielinsel in Sicht war. Es fühlte sich an wie das Heilen eines verletzten, vertrauten Tiers, glaubte sie. Obwohl sie letzteres nie getan hatte. Aber für sie war die Ormorane bei dem Vorgang lebendig und ein Teil ihrer Familie.