Welten
CN: Sexuelle Übergriffigkeit, Erinnerungen an Mobbing, Durchfall, Gift (erinnernd an KO-Tropfen?), Lebensgefahr, Cliffhanger.
Lilið brach das Siegel und fühlte sich an Kindertage zurückerinnert. Es war kein professionelles Siegel, sondern einfaches Kerzenwachs, in das ein M geprägt war. Ein M, das darauf schließen ließ, dass es eine Person in ein Stück Holz oder ähnliches Material geschnitzt hatte, die weder gut im Schnitzen war, noch darin, spiegelverkehrt zu schreiben. Ein M hatte diesbezüglich immerhin eine vorteilhafte Symmetrie.
Lilið hatte zu Schulzeiten mit ein paar Mitlernenden manchmal Briefe mit ähnlich beschaffenen Siegeln ausgetauscht. Die Erinnerung war schön, obwohl die Beziehungen zu ihren Mitlerndenden insgesamt eher unangenehm gewesen waren. Sie war in der Schule nicht sehr beliebt gewesen. Wer sich mit ihr offen angefreundet hätte, hätte es schwer gehabt. Also hatte niemand gewagt, sichtbar mit ihr befreundet zu sein, aber einige hatten heimlich mit ihr Briefe geschrieben. Sie hatte sich damals nicht bewusst gemacht, wie es hätte besser sein können. Sie hatte alles einfach genossen, was doch schön gewesen war, als wäre es losgelöst und unbelastet. Die Briefe mit selbst kreierten Siegeln und erfundenen Geheimschriften hatten für sie dazu gehört. Unbeschwertheit war vielleicht der Name für das Gefühl, mit dem Lilið diese separaten Erinnerungen verband.
Es war gut, wenigstens die heimlichen Freundschaften gehabt zu haben, aber zu ihrem Schulabschluss hatten alle ein großes Fest gefeiert und auch die, die mit ihr insgeheim befreundet gewesen waren, hatten ihr nicht einmal Bescheid gesagt. Es hatte in ihr so ein mieses Gefühl ausgelöst, dass sie kurzerhand jeglichen Kontakt abgebrochen hatte. Nun war sie allein. Sie träumte von Freundschaften und sie wusste, dass es schwer wäre, welche zu finden, wenn sie nicht in die Welt zöge. Sie hatte aber auch Angst, dass sie einfach nicht geeignet wäre, welche zu führen. All diese gemischten Gefühle hatten dafür gesorgt, dass sie sich ein paar Monate gönnen gewollt hatte, zur Ruhe zu kommen, bevor sie sich um eine Ausbildung zum Nautika bemüht hätte. Nun waren die Pläne also durchkreuzt worden.
Sie entrollte den Brief. Vielleicht war es Sehnsucht nach Freundschaft, die sie so sehr an Marusch denken ließ und sie mit Hoffnung füllte, ausgelöst durch das Papier mit dem nun gebrochenen Siegel in Händen.
Verehrtes Lilið!
Es mag vielleicht nicht die beste Anredeoption sein. Räch dich gern an mir, wenn nicht. Gegebenenfalls habe ich schöne Neuigkeiten für dich. Ich habe etwas über den Namen Lilið recherchiert. Falls ich das richtig verstehe, handelt es sich nicht unbedingt um einen Frauennamen. Tatsächlich lesen sich viele Quellen so, dass die Kreatur Lilið eigentlich nicht, wie oft dargestellt, gegen die Unterdrückung von Frauen kämpft, sondern unsere komplette Geschlechter-Ordnung zerrütten möchte. Und das ist natürlich noch kein Beweis dafür, dass sie keine Frau und ihr Name kein Frauenname ist. Natürlich nicht. Gleichwohl denke ich, dass es naheliegt, dass auch sie, ähnlich wie wir zwei, selbst gar nicht erst ins binäre Gefüge passt. Sie hat für mich, wenn ich die Quellen lese, ein starkes Geschlechtsgefühl außerhalb der Kategorien Mann und Frau. Gegebenenfalls aber auch von beidem zusätzlich etwas. Eine Quelle verwendet für Lilið sogar niemals den Begriff Frau. Furie, – das ist das Wort, das diese Quelle an Stelle von ‘Frau’ verwendet –, ist wohl eigentlich negativ konnotiert, aber ich mag den Begriff doch. Als Furie bezeichne ich mich gern, wenn ich wütend werde, was mich dann irgendwie bestärkt und mich mehr wie ich fühlen lässt, mich weniger schämen lässt, wütend zu sein. Hat dir der Einblick gefallen? Rede ich über zu persönliche Dinge?
Dann zu den wichtigen Dingen. Um euren Tausch unauffällig hinzubekommen, solltet ihr im Vorfeld üben, eine realistische Rolle der jeweils anderen Person einzunehmen, wobei du als Mentorin von Anfang an offenlegst, dass du das vermeintliche Lilið nicht die ganze Reise lang begleiten willst, sondern sie für eine Besorgung unterbrechen und später anderweitig fortsetzen wirst. Rollentausch ist auf der Reise früher besser als später, sollte also unmittelbar passieren, wenn ihr an Bord geht, sodass ihr bereits in den getauschten Rollen kennen gelernt werdet. Chaos halte ich für wirksamer als Ablenkungsmethode für einen gelingenden Rollentausch bei Fahrtantritt als Chameleonmagie, weil Allil diese sonst womöglich sehr lange aufrecht erhalten müsste. Höchstens in dem Moment, wenn ihr an Bord geht, kann ihre Chameleonmagie zusätzlich zu Chaos nützlich sein, um zu verwirren, nicht als Alternative.
Allil überschätzt sich manchmal ein wenig, aber sag ihr nicht, dass ich dir das geschrieben habe. Lieber solltest du ihr Mut machen, das braucht sie manchmal. Langsam wird der Briefbogen voll… Ich wünsche euch alles Gute!
Liebevolle Grüße, Marusch.
Auf den letzten Rest des Bogens war noch in friemeliger Handschrift mit einer feineren Feder hinzugefügt:
PS: Ich halte mich, damit ich nicht aufdringlich bin, aus dem Fluchtplan raus. Wenn du mich wiedersehen möchtest, versuch es auf dem Angelsoger Adelsball.
In Liliðs Luftröhre bildete sich so etwas wie eine Verstopfung, die sie ein paar Augenblicke nicht atmen ließ. Das passierte ihr oft, wenn sie stark fühlte, vor allem, wenn sie begeistert war. Nein, dachte sie, das waren nicht zu persönliche Dinge. Sie liebte alles am ersten Abschnitt. Wie Marusch sich Gedanken über eine gute Anrede für sie gemacht hatte, die sich allein für den Versuch schon gut anfühlte. Der Vorschlag, sich an Marusch zu rächen, die Albernheit. Wie der Text dann übergegangen war in dieses wunderschöne, sie bestätigende Wissen über ihre Namensherkunft. Eigentlich kannte sie die Namensherkunft, aber sie hatte sich nie mit Details dazu befasst.
Sie mochte das Wort Furie ebenfalls. Es klang schön. Allerdings konnte sie sich weder selbst, noch Marusch in laut wütender oder anders furioser Verfassung vorstellen. Nun, sie kannte Marusch noch nicht lange.
Die Atemblockade kam aber auch durch die Unsinnigkeit des letzten Satzes. Den Angelsoger Adelsball hätte Lilið nicht einmal in der Rolle des Kindes von Lord Lurch ohne Weiteres besuchen können. Vielleicht, wenn ihre Mutter auch adelig gewesen wäre. Wie sollte sie dann erst auf diesen Ball gelangen können, wenn sie identitätenlos unterwegs wäre? Oder die von Allil übernahme, die aber gerade auch nur spielte, adelig zu sein und es eigentlich nicht war?
Lilið müsste dafür sagenhaft gekleidet sein, sich irgendwie hineinschummeln und dann gut schauspielen. Das würde ein sehr riskantes Unterfangen werden. Aber sie würde vorsichtshalber ein gutes, dünnes Abendkleid einpacken.
Lilið faltete den Brief nach einiger Überlegung und legte ihn in das Buch, das sie in ihrer Jacke aufbewahrte. Sie hätte ihn gern faltenlos gelassen, aber der Drang, ihn immer bei sich zu haben, war größer. Im Buch war er gut geschützt. Die Jacke ließ Lilið unauffällig nie aus den Augen.
Den Gedanken an den Ball verschob sie erst einmal. Selbst wenn es realistisch werden würde, auf diesen Ball zu gelangen, waren Überlegungen dazu für Lilið noch zu weit weg. Es gab so viele Stationen bis zu ihrer Freiheit zu planen, die alle scheitern könnten, dass sie keinen Raum hatte, sich viele Gedanken über ein Danach zu machen.
In den kommenden Wochen lebte Lilið, – so fühlte es sich zumindest an –, abwechselnd in verschiedenen Welten. Sie spielte die Rolle der an sich zwar nicht völlig vom Konzept Internat für skorsche Damen überzeugten Tochter, die aber doch fand, dass der einzig sinnvolle Weg für sie wäre. Das war in ihrem Kopf die Welt aus Familie und Hofstaat, in der sie groß geworden war, die sie kannte, und die sich doch nicht mehr so vertraut anfühlte. Sobald sie das Besuchshaus betrat und mit Allil allein war, fühlte sie sich in einer völlig losgelösten Dimension. Als würde Zeit und Gefüge mit Allil in den abgedunkelten Räumen anders funktionieren. Es fühlte sich wie eine neue Welt an, die anderen Regeln gehorchte, in die Lilið eigentlich schon immer gehört hatte. Es war, als hätte diese Welt schon immer in Lilið geschlummert. Sie war gefährlich, aber Lilið konnte in ihr freier atmen, fühlte sich nicht so eingesperrt oder eingeengt. Das war witzig, bedachte sie, dass sie aktuell nur in einem kleinen Besuchshaus existierte.
Allil trainierte sie in allerlei Dingen. Die ersten vier Tage tauschten sie lediglich Rollen, sobald Lilið das Besuchshaus betrat. Allil verkörperte gleich mehrere Personen, mal Lilið, mal zum Beispiel ihren Vater, und Lilið sollte versuchen, Allil in der Rolle der Mentorin darzustellen. Sie spielten immer ein paar Stunden durch, ohne dass Allil unterbrach, um Lilið etwas zu erklären. Sie ließ Lilið im Spiel einfach auflaufen, wenn sie Fehler machte. Lilið fand sehr beeindruckend, wie Allil zum Beispiel Lord Lurchs Denkweise kopierte und Liliðs Schauspiel dabei entlarvte, wie ihr Vater es realistisch getan hätte.
Erst irgendwann am Abend unterbrachen sie das Spiel jeweils und Allil gab theoretischere Lektionen, die Lilið über Nacht verinnerlichen sollte.
Wenn Allil nicht gerade eine Person schauspielerte, die Emotionen zeigte, verhielt sie sich streng und unaufgeregt. So, als würde sie Lilið gegenüber weder Sympathie noch Antipathie hegen. Es war vielleicht einfach eine Zweckbeziehung für sie.
Lilið schwankte eine Weile, ob sie versuchen sollte, durch die Fassade hindurchzudringen und Allil persönlich näher kennen zu lernen. Sie wollte sich nicht aufdrängen und auf der anderen Seite wollte sie mehr Einblick in Allils Leben haben, wo sie doch selbst mindestens vorübergehend ein verruchteres Leben für sich plante. Sie mochte die Eigennützigkeit ihres Interesses nicht, aber eines Abends fand sie die Frage, die sie schon von Anfang an interessiert hatte, harmlos und unaufdringlich genug, um sie zu stellen: “Warum möchtest du das Internat besuchen?”
Allil legte lautlos ein Messer auf den Tisch. Heute verwendete sie eine Unterrichtseinheit darauf, Lilið den Umgang mit Messern zu zeigen, weil Lilið sie darum gebeten hatte. Allil fokussierte erstmal weniger darauf, Leute zu bedrohen, sondern vor allem darauf, wie sie sie unauffällig bei sich tragen oder griffbereit halten konnte.
“Weil ich Magie lernen will?” Allil runzelte die Stirn.
“Du hast wohl recht, dass ist offensichtlich.”, beeilte sich Lilið, einzuräumen. Sie fühlte sich so unfähig, eine Freundschaft anzufangen.
Draußen vor den Fenstern, – sie hatten zur Abwechslung die Vorhänge einen Spalt geöffnet –, turtelten drei Auben. Die hatten mit Beziehungsaufbau keine Probleme, schien es. Die grauen Drachen gurrten und sprangen gegenseitig auf ihre Rücken. Das war eine Kennenlernart, die Lilið womöglich eher gelegen hätte als reden, aber wahrscheinlich hätte sie Allil überhaupt nicht gepasst. Lilið unterdrückte ein Grinsen bei der Vorstellung.
“Entschuldige, wenn das unangenehm rüberkam.”, sagte Allil. “Magie zu beherrschen, hat einfach in dieser Welt eine Menge Vorteile.”
Lilið nickte. “Wohl wahr.”
“Du kannst Privilegien und Freiheit haben, weil du hineingeboren worden bist, oder weil du gut in Magie bist. Ersteres ist bei mir eben nicht gegeben.”, fuhr Allil fort. “Ich habe keinen Oberschulabschluss, mit dem ich Magie studieren könnte. Und zwar nicht, weil ich nicht gut genug gewesen wäre, sondern weil das Schulsystem nicht so durchlässig ist, wie es immer heißt, und ich während meiner Schulzeit auch noch arbeiten musste.” Sie zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: “Oder stehlen.”
Lilið wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte. Wollte Allil Mitgefühl? Sie wirkte nicht unglücklich, eher emotionslos. “Das System ist ziemlich ungerecht.”, stimmte sie also zu. “Ich bin in einer recht privilegierten Situation, bekomme aber trotzdem genug mit, um das zu wissen.”
“Deshalb bin ich froh, dass ich durch dich die Möglichkeit haben werde, eine Chance auf einen nachträglichen Oberschulabschluss zu erlangen. Dann kann ich Magie studieren. Und dann vermutlich eine Anstellung bekommen, durch die ich mehr Freiheiten haben werde als jetzt. Vielleicht ein oder zwei Zimmer für mich, in denen ich offiziell wohnen kann. Also, ohne Angst zu haben, aufzufliegen, weil der Grund dafür, sie zu bewohnen, dann nicht mehr so eine Nummer wie jetzt wäre.”, beendete Allil die Ausführung ihrer Pläne.
Lilið lächelte. Es gab ihr immerhin ein besseres Gefühl dabei, so viel zu riskieren, dass, ginge der Plan auf, nicht nur sie davon profitierte, sondern Allil vielleicht noch viel mehr. Das war schön. Aber ob sie Allil nun durch dieses Gespräch wirklich näher gekommen war, wusste sie nicht. Vielleicht ein wenig.
Der Abreisetag war bewölkt und windig, was ihnen gut in den Kram passte. Das sich verändernde Licht lenkte Leute davon ab, genau hinzusehen.
Ihr Vater brachte sie zum kleinen Hafen, der zum Hof gehörte, und wartete mit ihnen am Steg. Sie beobachteten gemeinsam, wie die Reisefragette einlief und die Segel einholte. Sie hatte zu viel Tiefgang für den Hafen, weshalb ein kleineres Beiboot zu Wasser gelassen wurde, dass Allil und Lilið einsammeln würde. Als es anlegte, war der Moment für ihr geplantes Chaos gekommen. Allil tat so, als würde ihr Gedärm sich sehr plötzlich entleeren wollen, also verabschiedeten sie sich so hektisch von Lord Lurch, dass es nicht mehr dazu kam, dass er sie vorstellte. Tatsächlich verabschiedete sich Lilið von ihm höflich und Allil fiel ihm rasch zum Abschied um den Hals. Es war natürlich vollkommen unangemessen, aber Lord Lurch war keine Person, die sich mit Etikette auseinandersetzte, wenn eine etwas unbeholfene Mentorin Darmprobleme hatte.
Als das Beiboot mit ihnen in See stach, fühlte Lilið sich bereits viel befreiter. Das hatte also geklappt. Nun musste sie nur noch über zwei Reisetage hinweg erfolgreich so tun, als wäre sie eine Mentorin, die für eine Erledigung auf den Reiseinseln eine Unterbrechung der Reise plante, von wo aus sie erst die nächste Reisefragette zum Internat zu nehmen gedachte. Das war sicher auch nicht einfach, aber es handelte sich eher um eine kontinuierliche Herausforderung, nicht mehr um so einen Moment, von dem alles abhinge, wie eben.
Die beiden Junior-Nautikae, die das Beiboot segelten, beeilten sich, sie beide an Bord zu bringen. Allils Spiel war sehr überzeugend, als sie die Strickleiter emporstieg und so tat, als müsse sie die Arschbacken zusammenkneifen und als verkrampfte ihr Körper. Lilið spielte besorgt und blieb dicht hinter ihr. Ihnen wurde ohne Umschweife die Bordtoilette gezeigt. Es gab mehrere Kabinen, die von einem der seitlichen Gänge auf dem Mitteldeck an der Reling entlang erreichbar waren. Auf diese Weise waren sie gut durchlüftet. In den Holztüren befanden sich kleine Löcher nach außen. Lilið wurde auch darüber informiert, dass sie, wenn sich Allils Zustand nicht bessern würde, die Schiffsmedikae auf der gegenüberliegenden Seite der Reisefragette finden würde, vom anderen der seitlichen Gänge auf dem Mitteldeck aus erreichbar.
Lilið stellte sich vor die Tür, hinter der Allil ihren vorgetäuschten Klogang überzeugend in die Länge zog. Lilið lehnte sich auf die Reling, fühlte den Wind in den Haaren, der ihr Gefühl von Freiheit und endlich Luft zu bekommen noch verstärkte, und sah den schwarzen Ormoranen zu, die ihre glänzenden Flügel in der Sonne trockneten. Diese Seedrachenart belebte fast jeden Hafen. Sie fischten in den Gewässern nach Fressbarem, und wenn sie genug hatten, dann hockten sie sich auf Steinmolen oder Brüstungen, breiteten ihre majestätischen, schwarz glänzenden Flügel aus und ließen sie in der Sonne wärmen und trocken. Das war ein Leben. Lilið hatte sich nicht selten gewünscht, ein Seedrache zu sein.
Die Besatzung der Reisefragette lichtete den Anker, hisste die Segel wieder und das Schiff setzte sich in Bewegung, noch bevor Allil die Toilette wieder verließ. Allmählich, dachte Lilið, war ausreichend Zeit vergangen, um den vorgetäuschten Klogang zu beenden. An Allils Stelle hätte sie eher in einer halben Stunde einen weiteren Krampf vorgetäuscht, als jetzt noch weiter auf der Toilette auszuharren. Aber an sich traute sie Allils Einschätzungsvermögen in Sachen Schauspiel mehr als ihrem eigenen.
Ein Mensch näherte sich Lilið und lehnte sich neben sie an die Reling. Der geringe Abstand war ihr unangenehm, also rückte sie ein Stück zur Seite, um ihn auf eine für sie angenehme Distanz zu vergrößern.
“Wohin fahrt ihr?”, fragte der Mensch.
Das war also die erste Härteprobe, ob sie gut genug spielen könnte. “Wir sind auf dem Weg zum Internat für skorsche Damen auf Frankeroge. Also, Lilið ist auf dem Weg dorthin. Ich werde auf den Reiseinseln noch einen Zwischenhalt einlegen. Und du?”
“Oh, welch eine Ehre!”, sagte der fremde Mensch. Er rückte das kleine Stück Abstand wieder auf, das Lilið sich gerade erst zurückerobert hatte. “Ich bin nur so mäßig skorsch, muss ich zugeben. Ich bewundere es immer vor allem bei Frauen, wenn sie es sind.”
So ein Mensch war das also. Wenn Lilið noch weiter weggerückt wäre, hätte er direkt vor Allils Kabine gestanden. Lilið war auch generell eher nicht so angetan von der Idee, den Rückzieher zu machen.
Sie hatte gerade überlegt, ob sie den gleichen Trick wie bei Herrn Hut anwenden wollte: schauen, ob dieser Mensch es irgendwann wagte, sie anzufassen, sich dann annähern und ihn zu bestehlen, während sie mit einer Drohung ablenkte. Da fiel ihr ein, dass es an der Idee nun einige neue Haken gab: Sie würden zwei Tage Zeit auf dem gleichen Schiff verbringen. Sie könnte also nicht einfach ohne Weiteres fliehen. Wenn sie erwischt würde, wären die Konsequenzen nun auch viel schlimmer, weil ihr Vater nicht mehr einschreiten könnte. Vor allem nach einer hoffentlich geglückten Flucht nicht mehr. Sie musste sich anders zur Wehr setzen oder abgrenzen. Aber wie machte man so etwas normalerweise?
Zu ihrer Erleichterung trat in diesem Moment Allil aus der Kabine. Sie sah fahl im Gesicht aus. Lilið fragte sich, ob sie sich geschminkt hatte, es ihr nun nicht mehr nur vorgetäuscht nicht gut ginge oder ob das ihre Chameleonmagie wäre.
“Weißt du schon, wo unsere Kabine ist, Allil?”, fragte Allil.
Lilið schüttelte den Kopf.
“Das hättest du ja mal herausfinden können.”, monierte Allil. “Na ja, dass du gewartet hast, ist auch lieb.”
Noch während der ersten Stunden Fahrt passierten sie Danmoge, eine Insel vor Nederoge. Von allen Reisezielen, zu denen Lilið je selbst gesegelt war, lag diese am weiteresten weg, daher fühlte es sich für Lilið nostalgisch an, ihr nachzusehen. Es dauerte nicht lang, da lag auch diese Insel hinter ihnen und sie waren umgeben von nichts anderem als stahlgrauem Meer mit ein paar anderen, kleineren Segelbooten, die darüber schipperten. Eine bedienstete Person auf diesem Schiff zeigte ihnen Messe, Teeküche, ihre Kabine und andere wichtige Orte.
In der Kabine fühlte sich Lilið immerhin halbwegs sicher vor Tomden. Der Mensch von vor den Toiletten hatte sich inzwischen vorgestellt. Lilið bemerkte durchaus, dass er sie immer wieder abpasste. Sie beide. Besonders auf schmalen Gängen. Er fasste sie nie an, aber er kam ihr immer zu nah.
Lilið beschloss, sich dieses Mal nicht mit starken Mitteln zur Wehr zu setzen und fühlte sich ausgelieferter als je zuvor. Es waren immerhin nur zwei Tage, die sie es aushalten müsste. Wenn er nichts Schlimmeres im Schilde führte. Lilið wich ihm aus, so gut es ging, aber sie konnte nicht die ganze Zeit in ihrer Kabine bleiben. Zum einen drängte Allil sie, sich unauffällig, also nicht allzu zurückgezogen zu verhalten, und zum anderen mussten sie auch essen. Er sah auch bei den Mahlzeiten immer zu ihnen herüber. Es wurden zwei anstrengende und unangenehme Tage.
Als ihr letzter Mitreisetag anbrach, fing Lilið optimistisch an, Erleichterung zu fühlen, aber wenige Stunden bevor die Reisefragette die Reiseinseln erreichen sollte, spitzte sich die Lage zu. Lilið und Allil saßen in der Teeküche (schon wieder eine Teeküche) und führten ein Abschiedsgespräch, das sie zuvor einstudiert hatten, während sie noch einmal Übungsaufgaben für die Schule durchgingen. Allil stand auf, als das Wasser kochte, um den Tee aufzugießen. Sie wartete noch an der Küchenzeile, bis er zu Ende gezogen hätte, und natürlich gesellte sich Tomden zu ihr, viel zu dicht. Lilið wollte Allil dort nicht allein lassen, also stand auch sie auf, um die Tassen abzuholen.
“Darf ich euer Gespräch unterbrechen?”, fragte sie. “Ich glaube, ich habe den Fehler in deinem Lösungsansatz für Aufgabe 16 gefunden, und wenn wir das noch besprechen wollen, bevor ich dich verlassen muss, dann sollten wir das nicht allzu lange aufschieben.”
Allil blickte sie dankbar an. “Ich komme gleich mit der Kanne nach!”, sagte sie, und sich an Tomden richtend fügte sie hinzu: “Es tut mir leid, vielleicht habe ich ein andernmal mehr Zeit.”
Tomden ließ sich nicht abwimmeln und kam zu ihnen an den Tisch, um sich gefühlvoll bei Lilið zu verabschieden, aber zu ihrer Überraschung blieb es dabei. Er wünschte eine gute Weiterreise und verließ anschließend den Raum. Vielleicht hätte das ein Alarmsignal für Lilið sein sollen, dachte sie im nächsten Moment, als sie die Teetasse an ihre Lippen setzte, pustete, einen kleinen Schluck nippte – und Gift herausschmeckte. Ein Gift, über das sie Bescheid wusste, auch wenn sie es selbst aus gutem Grund nie benutzte. Sie schaffte es, kaum Tee zu schlucken und spuckte den Rest zurück in ihre Tasse. Aber sie wusste, dass das bisschen Gift schon ausreichen konnte, um sie übel in Mitleidenschaft zu ziehen. Sie wusste nicht wie sehr, weil sie nicht vom Geschmack auf die Konzentration schließen konnte.
Mit zitternden Händen setzte sie die Tasse ab und blickte Allil an. “Trink das nicht.”, sagte sie leise. “Lärchenwurz.”
“Lärchenwurz?”, fragte Allil kurz irritiert. Dann wirkte sie mit einem Mal hellwach. “Oh scheiße! Hat er das in den Tee getan? Ich habe nicht gut aufgepasst, aber er war den Tassen schon sehr nahe. Ich war nicht wach genug, es tut mir leid!”
Lilið merkte, wie ihr schwindelig wurde. Gleichzeitig fühlte sie Panik in sich aufsteigen und war sich nicht ganz sicher, wieviel Schwindel vom Gift und wieviel von der Panik kam. “Ich brauche Hilfe.”, murmelte sie. Sie versuchte, klar zu denken, aber gerade gelang ihr das nicht.
Allil nickte. “Ich habe in unserer Kabine ein Gegengift.”, erklärte sie. “Das rote Medizintäschchen sollte ganz zu oberst im Rucksack liegen. Darin findest du ein kleines braunes Fläschchen mit dem Gegengift. Ich werde mich um die Entsorgung des Giftes hier kümmern und gleich nachkommen. Schaffst du das ohne mich?”
Lilið stand schwankend auf, tat einen tiefen Atemzug und fühlte sich ausreichend sicher auf den Beinen. “Ich glaube schon.”, sagte sie. “Vielleicht war es doch nicht so viel. Aber besser ist besser.”
Sie wusste, wie das Gift wirkte. Wenn sie jetzt noch stehen konnte, dann war sie einigermaßen auf der sicheren Seite.
Sie verließ die Teeküche zügigen Schrittes und als sie merkte, dass sich der Gangschwindel in Grenzen hielt, rannte sie die Außentreppe hinab zu ihrer Kabine. Sie schätzte, dass sie der Inhalt der ganzen Tasse wahrscheinlich binnen weniger Minuten getötet hätte. Lärchenwurz war ein Gift, das einfach angenehm kräuterig schmeckte und in einem Tee nicht weiter auffiele. Sie hatte natürlich nie wirklich Lärchenwurz probiert, aber ihre Mutter hatte ihr mal das Kopfkraut der Mörbenwurzeln zu einem Tee zubereitet, das ungefähr den gleichen Geschmack hatte. Von ihrer Mutter hatte sie einiges über Gifte gelernt.
Sie fand das Medizintäschchen tatsächlich ohne Probleme. Darin gab es einige Fläschchen, Tinkturen und Verbandsmaterial. Immerhin war nur eines der Fläschchen braun. Lilið entkorkte es und ein kräuteriger Geruch stieg ihr in die Nase. Wieviel sollte sie nehmen? Sie dachte darüber nach, was ihre Mutter ihr erzählt hatte. Liliðs Hand zitterte einen Moment und verkrampfte sich zugleich um das geöffnete Fläschchen, um nichts zu verschütten. Es gab kein Gegengift zu Lärchenwurz.
Liliðs Herz stolperte. Das konnte wieder die Panik sein, oder das Gift. Wollte Allil sie vergiften? Oder wusste sie mehr von Giften als Lilið?
Was hatte Marusch geschrieben? Allil schoss manchmal über das Ziel hinaus oder so etwas? War da eine versteckte Botschaft gewesen, die sie hätte entdecken sollen?
Lilið rechnete nicht damit, viel Zeit zu haben, aber wie automatisiert zog sie das Buch aus der Jacke, die sie sich um die Hüften gebunden hatte, und den Brief aus dem Buch. Sie war hellwach und zugleich verschwamm der Brief immer wieder vor ihren Augen. Sie las die Stelle über Allil noch einmal:
Allil überschätzt sich manchmal ein wenig, aber sag ihr nicht, dass ich dir das geschrieben habe. Lieber solltest du ihr Mut machen, das braucht sie manchmal. Langsam wird der Briefbogen voll… Ich wünsche euch alles Gute!
Und ihr Atem stockte abermals. Das konnte kein Zufall sein. Zusammen mit Maruschs Unterschrift war in der Nachricht ein Name versteckt: “Allil”. Ihr flatternder Blick konnte kaum auf den Brief fokussieren, aber die Verschlüsselung war nur geschickt untergebracht, nicht schwer zu entziffern, hatte sie sie erst einmal verstanden. Sie überflog den Brief und entschlüsselte die kurze Botschaft darin. Marusch hatte ihr also verraten, dass Allil sie möglicherweise vergiften wollte. Da gab es für sie keinen Zweifel mehr.
Sie schloss einen Moment die Augen, um zu planen, was sie nun tun sollte. Sie musste so tun, als wäre sie vergiftet, oder als wäre es aus Versehen gescheitert, damit Allil keinen Verdacht schöpfte. Sie musste schnell unter Leute, damit sie weniger in Gefahr wäre. Es wäre wahrscheinlich in jedem Fall gut, die Schiffsmedikae aufzusuchen.
Lilið suchte sich aus Allils Medizintasche eine kleine, hellblaue Flasche heraus, die fast leer war, kippte deren letzten Inhalt auf dem Boden aus und füllte die braune Flasche darein um. Sie steckte das umgefüllte Gift samt Brief und Buch zurück in ihre Jacke und ließ die braune Flasche leer auf dem Boden liegen, als wäre sie ihr aus der Hand geglitten. Sie griff sich ihre Trinkflasche vom Bett, weil viel Flüssigkeit die Wirkung des Gifts eindämmen würde, und trank direkt einige große Schlucke. Auf dem Nachttisch lagen noch zwei Kekse, die sie sich in den Mund schob, nachdem sie sie skeptisch beschnuppert hatte, ob sie nicht auch vergiftet sein könnten. Aber auch Brotartiges im Magen würde die Wirkung der kleinen Dosis, die sie zu sich genommen hatte, abdämpfen. Dann zog sie die Jacke an, weil die Wirkung des Gifts sie bald frieren lassen würde, und huschte aus der Kabine. Ab hier musste sie so tun, als wäre sie kaum in der Lage, zu gehen, und sich in Richung der Kabine der Schiffsmedikae schleppen. Allil war gut darin, sich anzuschleichen, das wusste Lilið. Sie wäre deshalb nicht sinnvoll, erst dann zu spielen, dass sie kaum fähig zu gehen wäre, wenn sie Allil entdecken würde.
Lilið bewegte sich taumelnd durch den Kreuzgang zur anderen Bordsseite, um von dort die Treppe hinaufzunehmen. Es war ihr unheimlich, weil es eine einsame Treppe war, aber wenn sie oben wäre, hätte sie es geschafft. Sie klammerte sich ans Geländer und schnaufte, wie sie es unter Einfluss des Gifts getan hätte, als sie die ersten Stufen emporklomm.
Vielleicht hätte sie doch nicht so laut atmen sollen. Vielleicht hätte sie dann den Schatten bemerkt, der sich ihr von hinten näherte. “Es tut mir leid, Lilið, aber dass du mich auffliegen lassen könntest, ist für mich ein zu großes Risiko.”, hörte sie Allil ihr zuraunen. Ihr Körper gefror einen Moment und sie konnte sich nicht wehren, als Allil sie in einer einzigen, fließenden, vielleicht Magie-unterstützten Bewegung über Bord hievte. Dann war die Starre auch schon vorbei. Lilið griff nach der Reling, erreichte sie aber nicht. Sie schrabbte an der Bordwand entlang. In einem letzten Moment großer Klarheit stieß sie sich mit aller Kraft mit den Beinen von der Bordwand ab und tauchte, vom Schiff weggleitend, ins eiskalte Wasser ein. In die Kielströmung zu geraten, hätte ihr vielleicht das Leben gekostet. Rascher, als bei dem Vorhaben, mit einer geringen Dosis Gift im Blut durch einen Ozean zu schwimmen zumindest.
Es ging alles sehr schnell. Sie machte einige kräftige Schwimmzüge von der Reisefragette weg, um nicht in ihren Sog gezogen zu werden, und nur wenige Momente später, war sie schon so weit entfernt, dass Lilið sich wenig Hoffnung machte, von irgendwem an Bord gesehen zu werden.