Durchbruch

CN: Sex, Genitalien, Tease and Denial, Masturbieren, Minderwertigkeitsgefühle, Vergiftung, Fieber, makaberer Humor.

“Ich wünschte, wir hätten das nicht zusammen erlebt.”, murmelte Marusch.

Es war spät in der Nacht. Das Meer rauschte an der Küste der einsamen Insel auf eine Weise, die nicht zum Wind passte. Die See war nach dem Sturm noch sehr aufgewühlt, aber der Wind wehte derzeit zart. Die Küste der Insel war steinig. Sie hatten Mühe gehabt, die Ormorane hinaufzutragen. Sie wollten sie nicht über den Untergrund ziehen, um ihren Rumpf zu schonen, aber die Steine unter den Füßen, während sie ihr Gewicht zu zweit getragen hatten, waren alles andere als angenehme Fußmassage gewesen. Lilið fühlte die Sohlen immer noch pochen. Jeder Schritt war unangenehm. Und das war ein weiteres Signal für sie, dass sie die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit überschritten hatte.

“Können wir heute Nacht hier bleiben?”, fragte sie matt.

Marusch nickte. “Brauchst du etwas?”

“Erholung.”, sagte Lilið leise. Es fiel ihr erstaunlich schwer, das zuzugeben. “Ich hoffe, ich werde nicht krank.”

“Dann ruh dich aus.” Maruschs Stimme war wieder so sanft, wie Lilið es eher gewohnt war. “Möchtest du gestreichelt werden? Oder gewaschen? Soll ich versuchen, mit dem Gepäck eine weiche Unterlage für dich zu polstern?”

“Du möchtest mich also verwöhnen!”, fasste Lilið zusammen. “Die weiche Unterlage nehme ich, und dann eine Fußmassage. Und anschließend vielleicht noch eine Kopfkraulung.”

Marusch grinste. “Sehr wohl.” Sie sagte es nicht unterwürfig, wie Lilið es von manchen Bediensteten kannte, sondern weich und vielleicht verspielt. Sie machte sich direkt an die Arbeit.

Lilið hatte es eigentlich bloß als Scherz gemeint. Tatsächlich hatte ihr nie zuvor eine Person die Füße massiert. Aber sie bereute keine Sekunde, sich zu der Äußerung dieses Wunschs hinreißen gelassen zu haben. Als sie so entspannt, wie die Umgebung es hergab, auf dem Rücken lag, der leichte Nachtwind sie abkühlte, setzte sich Marusch zu ihren Füßen in einen Schneidersitz und rieb und drückte zärtlich mit ihren Fingern in ihrer Fußsohle herum. Lilið hatte nicht geahnt, welche Dimension von entspannend das sein würde. Und sie fühlte sich dabei geliebt. Vielleicht war sie es auch ein wenig.

Lilið schloss die Augen, atmete bewusst und fühlte in die Berührung hinein. Nicht nur ihre Füße entpannten sich dabei, sondern das weiche Gefühl drang auch in ihren Rücken und andere Stellen ihres Körpers vor. Aber sie schaffte es nicht, sich nur darauf zu fokussieren. Maruschs Satz, mit dem sie vorhin die Stille zwischen ihnen unterbrochen hatte, ging Lilið nicht aus dem Kopf. “Du hättest diese Meute lieber allein erlebt?”, fragte sie. “War es überhaupt die Meute, die in dir diesen Hass ausgelöst hat?” Und dann hinterfragte sie noch einmal: “Habe ich richtig gelesen, dass es Hass war?”

Marusch legte ihren Fuß ab und nahm stattdessen den anderen. “Hass stimmt vielleicht. Ich weiß es nicht. Zerstörungswut.”, überlegte Marusch. “Den Wunsch, alles zu vernichten. Alles!” Einen kurzen Augenblick nahm Lilið die Wut wieder in Maruschs trotzdem ruhiger Stimme war. Interessanterweise blieben ihre Hände dabei unverändert liebevoll. “Ja, die Meute, was sie gesagt hat, was sie gemacht hat. Aber auch das Wissen, dass es überall so ist. Die Aussichtslosigkeit. Wir leben in einem beschissenen System, aber um es zu ändern, bräuchte es eine Mehrheit, die sich nicht von irgendwelchen ‘So gehört das aber’-Regeln oder Klatschgeschichten aus der Monarchie ablenken lässt. Oder deren Ideen, wie eine bessere Welt aussehen könnte, mehr als halb zu Ende gedacht sind. Die Welt, auf die diese Meute zusteuern möchte, ist immer noch derbst sexistisch. Und Menschen mit niedrigem Skorem haben immer noch nichts zu melden. Manche sagen zwar, Leute mit niedrigem Skorem sollte es auch gut gehen, sie sollten die selben Menschenrechte haben und so etwas, aber niemand hält eine Person mit niedrigem Skorem für regierungsfähig.”

“Einen niedrigem Skorem, wie die Prinzessin?”, fragte Lilið.

“Zum Beispiel.”, antwortete Marusch.

“Hältst du sie für regierungsfähig?”, fragte Lilið. “Denn, ich bin auf der einen Seite voll deiner Meinung. In diesem System ist es ein Privileg, einen hohen Skorem zu haben, der sogar manchmal Geburtsprivilegien ausgleichen kann. Und das ist ungerecht. Beides: Die Geburtsprivilegien und die durch hohen Skorem. Mein Inneres hat sich deshalb immer gesträubt, anzunehmen, dass ich einen hohen Skorem haben könnte. Ich wollte mich am liebsten davon unabhängig durch die Welt bewegen. Ich habe die Abwertung, und später die Aufwertung von mir als Person deutlich gespürt, und gehasst, wann immer mein Skorem eingeschätzt wurde. Was halt nicht nur durch Skoremetrikae passiert, sondern auch im Magie-Unterricht immer wieder implizit. Ich habe diese Bewertung so gehasst.”

Lilið machte eine kurze Sprechpause, um dem unangenehmen Gefühl von Minderwertigkeit, das sie in der Schule ständig begleitet hatte, bewusst keinen Raum in sich zu geben, und knüpfte stattdessen an das Thema von vorher an: “Die Prinzessin hat deshalb tatsächlich eher Sympathie-Punkte bei mir. Allein, weil ich die Abwertung, die sie wegen ihres niedrigen Skorems erlebt, so sehr verachte. Aber sie macht leider auch nicht den Eindruck auf mich, als würde sie sich mit guten Strategien auseinandersetzen, die Welt zu einer besseren zu ändern. Sie macht sich keine Gedanken, was für Implikationen ihr Handeln hat, oder es ist ihr egal. Es gäbe so viele einfache Wege, wie sie durch ein diplomatischeres Auftreten an ihrer Beliebtheit arbeiten könnte. Meine Meinung zu ihr als mögliche Regierungsperson leitet sich nicht von ihrem Skorem ab.” Sich selbst hinterfragend, fügte Lilið ein skeptisches “Oder?” hinzu. “Bin ich genau so, wie diese Meute, gefangen in Klatschnarrativen oder so etwas?”

“Du bist in keinem Fall wie diese Meute.”, informierte Marusch sachlich und seufzte dann schwer. “Ich weiß es nicht. Ob sie eine gute Regierungsperson wäre, wenn sie die richtige Unterstützung bekommen würde. Oder ob sie es wäre, wenn die Welt bereits eine andere wäre. Ich kann selbst nicht einschätzen, ob die Welt für eine Königin wie sie im Prinzip einfach nicht bereit ist, oder ob sie auch in einer idealen Welt keine gute Königin wäre. Sie hat Schwierigkeiten, das kann ich nicht leugnen. Sie hat in der Tat kein besonders tiefes Verständnis von Politik, Diplomatie oder Strategie.”

“Vielleicht gäbe es in einer idealen Welt keine Monarchie mehr.”, murmelte Lilið. Sie hatte das Gefühl, dass Marusch eigentlich nicht über Politik reden wollte, und hoffte, die Bemerkung würde in dem Falle einen Ausstieg ermöglichen.

“Wahrscheinlich nicht.”, bestätigte Marusch. Sie legte Liliðs Füße beide vorsichtig auf dem Boden ab. “Soll ich dir nun die Kopfhaut kraulen?”

Lilið gab ein glucksendes und dann ein bestätigendes Geräusch von sich. “Ich hoffe, du weißt, dass du ablehnen kannst.”

“Ja, das weiß ich, und ich fühle mich sicher genug, es auch zu tun, wenn ich wollte.” Maruschs Stimme war durchsetzt von ihrem Schmunzeln. “Aber ich möchte dich eben sehr gern verwöhnen.”

Sie fanden eine liegende Position, in der Lilið halb auf Marusch lag und Maruschs Finger sich in ihr Haar gruben. Ein Kribbeln durchrann ihren Körper jedes Mal, wenn es sehr sanft an den Haarwurzeln ziepte.

Auf dem Kopf war Lilið schon oft gekrault worden, vor allem von ihren Eltern, aber auch mal von der ein oder anderen Freundin. Sie fand erstaunlich, wie unterschiedlich sich das personenabhängig anfühlte.

“Ich finde das Thema anstrengend.”, verriet Marusch. Lilið hatte also recht gehabt. “Und das ist auch der Grund, – um den Bogen zurückzuschlagen –, warum ich die Situation lieber ohne dich erlebt hätte.”, fuhr sie fort. “Bisher gab es zwischen der Welt, die ich mit dir erlebe, und der Welt, die uns umgibt, keine Verknüpfung für mich. Sie fühlten sich getrennt von einander an. Ich konnte mit dir frei davon sein und habe tatsächlich ein kleines Stück Welt gehabt, in der ich mich gefühlt habe, als dürfte sie auch einfach so sein. Und als wäre ich darin erlaubt, so wie ich bin.”

Lilið tastete nach Maruschs Hand, der, die nicht mit kraulen beschäftigt war. Bei der Suche drückte sie versehentlich in Maruschs Genitalbereich, was Marusch zunächst zum hastig Einatmen und dann sie beide zum Lachen brachten. “Tut mir leid.”, sagte Lilið. “Ich suche eigentlich deine Hand, um sie zu küssen!”

Marusch schob ihre Hand vorsichtig unter Liliðs Finger. “Lilið.”, flüsterte sie.

Lilið umschloss die Hand sachte und führte sie zu ihrem Mund. Sie verteilte nicht nur einen sanften Kuss darauf und lauschte dabei auf Maruschs Atem, der ein bisschen angespannt war. “Kannst du den Abend vergessen?”, fragte sie.

“Leider nein.”, antwortete Marusch. “Aber vielleicht werde ich in ein oder zwei Tagen wieder ein bisschen mehr genießen können, dass es dich in meinem Leben gibt. Es fängt schon an.” Sie seufzte.

Ein unangenehm bohrendes Gefühl entstand in Liliðs Brust, als Marusch das sagte. Nun also doch Trennungsangst. Was, wenn irgendetwas passierte und sie in zwei Tagen nicht mehr zusammen wären? Nach dem heutigen Tag war Liliðs Angst vor Unvorhergesehenem wieder gewachsen. Aber noch, noch waren sie zusammen. Wie um diesen Gedanken zu unterstreichen, küsste sie noch einmal besonders zärtlich den Handrücken vor ihrem Mund.


Marusch löste sich aus dem verkuschelten Knäuel, das sie waren, als es noch stockfinster war und baute das Zelt auf. Liliðs müder Kopf verstand nicht warum. Es war eigentlich warm genug, um draußen zu schlafen. Erst, als es richtig zu regnen begann, begriff sie, dass es nicht Sprühwasser von der Fahrt gewesen war, das sich zuvor so angenehm angefühlt hatte, sondern stattdessen ein Nieselregen, der Vorbote für den Wetterumschwung gewesen war.

Marusch scheuchte sie aus dem Schlaf auf, als sie soweit war, und verfrachtete die weich gebastelte Unterlage ins Zelt. Sie fühlte sich hinterher nicht mehr so gemütlich an wie vorher. Der Wind frischte auf und rüttelte am Zelt. Marusch stand irgendwann später noch einmal auf, um die Zeltwände neu abzuspannen. Der Steinstrand eignete sich eher nicht dafür, aber der Fels weiter oben hätte sich noch weniger geeignet. Dort, wo die Zelthäute aufeinander lagen, drang Wasser hinein und durchnässte einen Schlafsack, den gerade niemand von ihnen benutzte.

Das Wetter blieb so grau, als Tageslicht Lilið weckte. Es weckte sie vielleicht auch deshalb viel zu spät. Sie mussten aufbrechen, und eigentlich hätte sie vorher noch navigieren gewollt. Sie hatte zwar noch eine Route im Kopf, aber es war ja bereits eine Alternativroute. Weil diese nun ihre neue Route war, bräuchte Lilið auch entsprechend neue Alternativen, falls etwas nicht liefe wie geplant.

Aber dazu musste auf der nächsten Insel Zeit sein. Es war sicherer, früher aufzubrechen als später.

Als sie die Insel hinter sich gelassen hatten und mit der Ormorane über das Meer segelten, fühlte Lilið sich wirklich miserabel. Ihre Glieder schmerzten, sie konnte nicht geradeaus denken und ihr Körper tat jede Bewegung nur mit größtem Widerwillen. Es regnete ungemütlich. Der Wind war zwar nicht so stark wie ein Sturm, aber ziemlich hackig. Er wechselte dauernd die Richtung.

Atmen fühlte sich an, als wäre ihre Lunge porös und würde den Sauerstoff, den sie in sich einsog, gar nicht richtig aufnehmen. Die Atmung selbst fiel ihr leicht, aber in ihrem Körper kam die positive Wirkung davon kaum an.

“Vielleicht musst du mich zurücklassen.”, rief sie Marusch gegen den Wind zu. Das war die Angst vom Vorabend, die aus ihr sprach, das wusste sie. Aber es fühlte sich auch realistisch an.

Marusch blickte sich alarmiert zu ihr um. Als der Wind wieder für ein paar Momente nachließ, sie ihr Gewicht also nicht über die Bordkante hängen musste, rückte sie kurz an Lilið heran und legte eine Hand auf ihre Stirn. “Nicht gut, das.”, sagte sie. “Aber du redest Unsinn.”

“Weil ich Fieber habe?”, fragte Lilið.

“Erhöhte Temperatur, würde ich sagen.”, beruhigte Marusch. “Ja, kann sein, dass das die Ursache für den Unsinn ist, den du redest.”

“Ich dachte, weil ich Fieber habe, oder erhöhte Temperatur, musst du mich vielleicht zurücklassen.”, erklärte Lilið. Ihre Gedanken dümpelten träge in einem Gedankenmeer, das sich kein Beispiel an der dunklen, welligen See nahm, die um sie herum wogte.

“Ich dachte mir schon, dass dir die Idee gekommen ist, weil du nicht ganz erfolgreich versucht hast, geradeaus zu denken.”, antwortete Marusch mit einem Grinsen, das nicht glücklich wirkte. “Aber es ergibt keinen Sinn! Ich kann nicht ohne dich einfach irgendwohin. Wenn du nicht mehr weitersegeln kannst, sitze ich mit dir fest. Und dann werden wir, sobald es Sinn ergibt, versuchen, uns einen Plan auszudenken, wie wir deine Probleme lösen.” Marusch betonte das Pronomen. “Du möchtest deinen Vater retten, und deshalb möchtest du weiter. Ich möchte nur, dass du nicht in Schwierigkeiten kommst. Wenn wir dazu auf einer Reiseinsel um die Welt dümpeln, klingt das für mich weniger verkehrt als für dich. Folglich werde ich dich sicher nicht zurücklassen.”

Lilið nickte. Ihr Atem zitterte, stellte sie fest. Was Marusch da sagte, ergab durchaus Sinn. Es beruhigte sie auch. Nur der Gedanke, dass sie ihren Vater vielleicht nicht retten können würde, löste ein leicht panisches Gefühl in ihr aus. Sie musste es schaffen, trotz Fieber zu segeln. Trotz erhöhter Temperatur.

“Setz einen Hut auf und trink etwas.”, orderte Marusch an. “Ich kann leider nicht das ganze Boot alleine bedienen. Aber ich kann dir noch die Großschot abnehmen.”

Lilið schüttelte den Kopf. “Die ist das kleinste Problem, und es hilft mir, etwas zu haben, worauf ich mich konzentrieren kann.”

“Dachte ich mir.” Marusch lächelte.

Als der unbeständige Wind es wieder zuließ, suchte sie für Lilið einen Hut und die Trinkflasche aus dem Gepäck. Das Wasser half tatsächlich ein wenig, aber sie hatte Angst, so viel zu trinken, dass ihre Vorräte dann zu schnell zur Neige gehen würden. Marusch drängte sie trotzdem dazu.


Das Anlegemanöver verlief etwas holprig. Lilið hatte sich eigentlich zugetraut, es hinzubekommen, im Wasser zu stehen und das Boot zu halten, aber das Seegras, das sich um ihren Knöchel schlang, irritierte sie überraschend so sehr, dass sie stolperte und ganz ins Wasser eintauchte.

Marusch nahm ihr alles ab, was sie konnte, aber die Ormorane war für sie alleine zu schwer. Lilið musste noch einmal anpacken, als sie sie den grauen Strand hinaufschoben. Immerhin war es weicherer Strand als am Tag zuvor, sodass sie sie nicht anheben mussten. Und es nieselte höchstens noch.

“Ruh dich aus.”, orderte Marusch an. “Ich hole Wasser und kümmere mich hinterher auch um das Abendessen.”

“Du holst immer Wasser.”, nuschelte Lilið. “Ich frage mich, ob du dabei heimlich masturbierst oder so. Weil du es nicht in meiner Nähe kannst, aber ich dich dauernd errege.” Das waren Gedanken, die sie schon öfter gehabt hatte, aber heute war sie so unbeherrscht, dass sie sie aussprach und sich nicht einmal schämte.

Marusch kicherte. “Heute käme mir dergleichen definitiv nicht in den Sinn.”, versicherte sie. “Ich habe da ein Lilið zu versorgen.”

‘Ein Lilið’. Das fühlte sich schön an, fand Lilið.

In der Wartezeit breitete Lilið die Decke aus, aber hielt sich daran, nicht das Abendessen vorzubereiten. Stattdessen rollte sie die Karte aus, die immerhin anders als das Buch brauchbar wetterbeständig war. Das Buch würde sie heute Abend in der dichten Tasche belassen und nicht herausrücken.

Sie schaffte es, trotz des matschigen Gefühls im Kopf, sich in den Denkmodus zu versetzen, der für das Navigieren notwendig war. Sie merkte, dass dieser eine lange Nachmittag mit Heelem viel Übungseffekt hinterlassen hatte. Sie fand überraschend viele Alternativrouten. Bis sie feststellte, dass sie von der falschen Ausgangsposition der Karte aus gestartet hatte: Sie hatte sie ja in der Nacht zuvor nicht um einen Tag weitergestellt. Als sie das nachgeholt hatte, fiel ihr das Navigieren dann doch ziemlich schwer. Sie ärgerte sich, nicht nur über den Fehler, sondern auch, weil sie ihr Gefühl, dass alles viel zu leicht ginge, ignoriert hatte.

Marusch schüttelte den Kopf über sie, als sie mit Wasser zurückkam. “Was machst du da?”

“Ich navigiere.” Lilið versuchte, ahnungslos ob der Ungläubigkeit und möglichst unschuldig dabei zu klingen. “Oder ich versuche es zumindest.”

“Und wo soll ich das Abendessen aufbauen, Gnädigstes?”, fragte Marusch.

Lilið kicherte. “Auf deinen Schoß?”, fragte sie. “Dann kannst du mich beim Essen auch besser kraulen.”

“So ist das also!” Das Schmunzeln in Maruschs Stimme war schon wieder nicht zu überhören. Aber wenn es eine Doppeldeutigkeit war, erschloss sie sich Lilið nicht.

Statt Liliðs Vorschlag nachzukommen, nötigte Marusch sie zunächst noch mehr zu trinken. Nicht, ohne sich zu vergewissern, ob es ihr vorhin auch wirklich gut bekommen war und trinken das richtige Mittel. Anschließend machte sie mit ihrer Feuermagie eine Ausnahme, um in einem überraschend gut dazu geeineten Pützeimer eine Suppe zuzubereiten. Sie roch ziemlich gut. Wieder erinnerte sie Lilið an ihre Mutter. Es roch nicht so, wie Lilið es gewohnt war, aber sie verband gute Küchengerüche einfach mit keiner Person mehr als mit ihrer Mutter. Bei der Gelegenheit bemerkte sie, dass sie ihre Mutter überraschend wenig vermisste.

“Das ist die Gelegenheit für dich, um mich zu vergiften.”, merkte sie zwischen zwei Kartendurchgängen an. Allmählich nahm sie das Navigieren nicht mehr als frustrierend, sondern wieder als normal kompliziert wahr.

“Gute Idee!” Marusch gluckste. “Ich werde es mit Wasser versuchen. Habe gehört, das ist so ein typisches Gift, aber ich kenne mich auch nicht allzu sehr aus.”

“Du musst noch viel lernen!”, sagte Lilið theatralisch. “Ich hoffe, du kannst besser kochen als vergiften.” Sie verkniff sich den Kommentar, dass das wohl hieß, dass Vergiften nicht Maruschs Mordmethode in der Vergangenheit gewesen sein würde.


Die Suppe tat so gut, wie Lilið es nicht für möglich gehalten hatte. Sie schmeckte nicht ganz so gut, wie sie roch, aber um Längen besser als ihr Abendessen gestern. Solide, würde Lilið sie beschreiben. Und sie fühlte sich genau richtig im Magen an.

Lilið ließ sich dazu drängen, die Karte einzupacken und stattdessen früh schlafen zu gehen, als sie eine Alternativroute gefunden hatte. Das musste erst einmal reichen. Aber der Gedanke, dass ihre derzeitige Route genau siebzehn Tage brauchte, belastete sie durchaus. Wenn sie diese nahmen, hieß das also, dass nichts mehr scheitern durfte, wenn sie ihr Zertifikat haben wollte.


Sie wachte kurz nach Sonnenaufgang mit drei klaren Gedanken auf. Der erste war angenehm. Sie fühlte sich viel besser. Keine Hitzewellen brachten ihren Körper außer Fassung und ihre Gedanken waren sortiert und greifbar. Marusch hatte sie gut gepflegt. Vielleicht hatte sie sich auch doch ausreichend geschont. Wahrscheinlicher war, fiel ihr ein, dass es kein Infekt, sondern bloß sehr starke Erschöpfung und vielleicht ein Sonnenstich gewesen war.

Der zweite Gedanke war unangenehm. Sie hatte nicht nur vergessen, die Karte auf den neuen Tag einzustellen, was sie dann ja nachgeholt hatte, sie hatte den Tag auch vergessen mitzuzählen. Das hieß, dass sie mit der aktuell geplanten Route einen Tag zu spät für ihr Zertifikat wären. Es war kein Weltuntergang. Bei dem Gedanken musste sie grinsen, weil sie durch Marusch gelernt hatte, auch dem Weltuntergang nicht völlig abgeneigt gegenüberzustehen. Es käme drauf an, wie er dann von statten ginge.

Der dritte Gedanke baute auf dem zweiten auf und war ein Hoffnungsschimmer: Ihr Kopf hatte in der Nacht am Navigationsproblem weiter gearbeitet und ihr eine Route vorgeschlagen, die funktionieren müsste.

Der Himmel war immer noch grau, als sie das Zelt zum Navigieren verlassen wollte, aber es regnete nicht mehr.

“Bleib noch ein bisschen liegen.”, nuschelte Marusch.

“Bleib doch selber ein bisschen liegen!”, antwortete sie, in einem Versuch, schlagfertig zu sein.

Marusch richtete sich entgegen ihres Vorschlags auf. “Du klingst besser!”, stellte sie fest. “Antrag auf Aufstehen genehmigt.”

“Ich navigiere noch ein bisschen, bevor es losgeht.”, antwortete sie, dieses Mal ernster. “Du kannst wirklich noch etwas liegen bleiben. Oder das Masturbieren von gestern nachholen, wenn du willst.”

Marusch grinste sie an. War der Blick vielsagend? “Du denkst wohl, ich wäre permanent geil!”

Jedenfalls war Maruschs Gesichtsausdruck anziehend, fand Lilið, verlockte dazu, ihr ins Gesicht zu küssen. Lilið ließ sich also doch noch einmal vom Navigieren abhalten und tat es. Maruschs Körper in ihren Armen wurde dabei weich und ihr entfleuchten, vielleicht aus Versehen, sachte fliepende, verlangende Geräusche. Lilið gefiel das. Sie verteilte ihre Knie rechts und links von Maruschs Becken, legte ihr ihre Hände in den Nacken und drückte sie, ohne mit ihren Lippen von Maruschs Gesicht abzulassen, auf die Unterlage. Ihr war schon öfter aufgefallen, dass es Marusch sehr gut gefiel, unten zu liegen. Aber anders als sonst, ließ Lilið sie heute dort einfach liegen.

“Ja, das denke ich durchaus.”, beantwortete sie die Frage. Aber bevor sie den Zelteingang hinter sich schloss, fügte sich leicht verschämt hinzu: “Ich ja nicht weniger.”

Was hatte sie sich dabei gedacht? Wie sollte sie sich denn jetzt auf die Karte konzentrieren, wenn sie in Gedanken Marusch weiter mit Liebkosungen quälte? Sie schaffte es, mühsam den Gedanken an sie zu verdrängen, indem sie sich klarmachte, dass sie nach dem Navigieren ja wieder ins Zelt gehen könnte.

Falls Marusch masturbierte, tat sie es so leise, dass Lilið davon nichts mitbekam. Vielleicht aus Rücksicht. Vielleicht sollte Lilið irgendwann einmal nachfragen. Und vielleicht wäre es jetzt, wo sie herausgefunden hatte, dass sie keinen Sex haben wollte, bei dem ihr andere Personen irgendetwas vaginal einführten, auch eher recht, wenn Marusch es mal in ihrer Gegenwart täte. Sie überlegte sogar, dass sie es sich vorstellen könnte, selbst wenn sie es nicht sehr erotisch finden würde, Marusch mit der Hand zu befriedigen.

Nein, die Gedanken waren zwar interessant, aber jetzt überhaupt nicht hilfreich.

Sie atmete tief durch und bearbeitete die Karte. Wie sie es sich noch im Halbschlaf gedacht hatte, fand sie eine Route, mit der sie rechtzeitig da wären. Es war keine schöne Route, aber eine mögliche. Anschließend versuchte sie, Ausweichrouten für diese zu finden, oder doch noch eine bessere, aber was sie herausfand, ernüchterte sie.

Sie legte gerade das Kartensteinchen endgültig bei Seite, als Marusch das Zelt verließ. Sie wirkte ausgeruht und, wie immer, charmant, fand Lilið.

“Du bist also sadistisch.”, hielt Marusch fest.

“Du magst es doch.”, erwiderte Lilið frech. Aber schnell fügte sie hinzu: “Das ist nicht gut von meiner Seite, das so zu sagen. Es klingt wie dieser Standardspruch. Ich habe dir Gewalt angetan, aber das ist schon in Ordnung so, denn dein Körper hat ja reagiert. So soll das nicht gemeint sein. Wie fühlt es sich für dich an?”

Marusch setzte sich neben sie auf die Decke und strich ihr über den Kopf. “Ich genieße unser ganzes Spiel in vollen Zügen.”, antwortete sie sanft. “Ich liebe es, wenn du mich kriegst, wenn du plötzlich Kontrolle über mich hast und ich sie verliere. Und umgekehrt mag ich es auch.” Einer ihrer Finger rann bei ihren Worten über die Stelle an Liliðs Hals, auf die Lilið besonders empfindlich reagierte, wenn Marusch hineinbiss.

Sie atmete einen Moment hastiger. “Ja.”, flüsterte sie. Sie überlegte, ob sie ein ‘bitte’ hinzuflehen sollte, aber Marusch ließ sie einfach los und sah auf die Karte.

“Hast du etwas herausfinden können?”, fragte sie.

“Dass es eine Route gibt, eine einzige, mit der wir das Zertifikat rechtzeitig erreichen könnten.”, murrte sie. “Und zwar eine, bei der unser vorletzter Abschnitt eine Tour von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ist. Es ist gleichzeitig auch noch der Abschnitt, bei dem wir die Seenplatten kreuzen, also mit kräftigen Strömungen zu kämpfen haben und viel Konzentration brauchen werden.”

“Und die Route müssen wir schaffen, weil wir sonst ein Jahr unterwegs wären?”, fragte Marusch.

Lilið schüttelte den Kopf. “In dem Fall würde ich sie gar nicht erst zählen, das wäre mir zu riskant. Aber alle Ausweichrouten brauchen mindestens acht Tage länger.”

Marusch nickte. “Ich verstehe, dass dich das stresst.”

“Was mich viel mehr stresst, ist, das es einen Strauß dicht beieinander liegender schöner Routen gibt, wenn wir uns heute für einen anderen Zweig entscheiden.”, sagte sie. “Aber die kürzeste davon braucht einen Tag zu lang.”

“Du bist in Nautik-Sprech gefallen.”, informierte Marusch. “Aber ich glaube, ich kann dir trotzdem folgen.”

“Eigentlich nicht Nautik-Sprech.”, gab Lilið zu. “Mehr mein eigener. Ich finde die Worte intuitiv passend. Jedenfalls ist die Auswahl: Einen Tag zu lang, dafür aber gemütlicher und mit viel Sicherheit, dass es nicht viel über den Zeitrahmen hinaus geht? Oder mit recht hoher Wahrscheinlichkeit pünktlich, aber anstrengend, und wenn etwas scheitert, dann mit viel Verzug.” Murmlend fügte sie hinzu: “Ich hoffe, ich habe mich nicht verrechnet.”

Marusch zuckte mit den Schultern. “Variante zwei.”

“Das sagst du so ohne zu zögern?”, fragte Lilið. War das Maruschs Risikobereitschaft zuzuschreiben?

“Du bist mein Nautika.”, antwortete Marusch. “Ich kenne dich inzwischen ein kleines bisschen. Du willst Variante zwei. Du traust uns das zu. Und wenn etwas scheitert, sind wir immer noch bloß drei Wochen unterwegs. Selbst das sollte passen, ohne dass dein Vater in allzu schlimme Gefahr gerät.”

Lilið nickte. “Du hast schon recht.”, murmelte sie. “Ich möchte das gern, und ich denke, es ist realistisch genug, dass das klappt.”


Das Wetter an diesem Tag war dem des Vortages ziemlich ähnlich, als sie wieder in See stachen, nur mit dem Unterschied, dass Lilið es heute genießen konnte. Sie fühlte sich wach, etwas aufgeregt und gesund. Ihr Körper reagierte wieder auf die Böen und die Veränderungen des Windes, als wäre er eins mit der Ormorane. Sie spürte die Lebensfreude, die es ihr gab, dass Marusch und sie inzwischen so eingespielt waren, dass ihre Bewegungen perfekt aufeinander abgestimmt waren.

Zum Nachmittag hin klarte der Himmel auf. Die Sonne brannte, aber die Insel, die sie bald erreichten, bot ausreichend Schatten. Es gab einen kleinen Wald nahe der Küste.

Wieder holte Marusch Wasser, während Lilið das Abendessen vorbereitete. Marusch ließ sich etwas mehr Zeit, was Lilið ein Schmunzeln entlockte, weil sie sich vorstellte, wie Marusch irgendwo auf der anderen Seite der Insel heimlich masturbierte. Aber eigentlich wusste sie es nicht. Vielleicht nutzte Marusch die Zeit einfach für etwas Privatsphäre.

Sie überbrückte die Wartezeit mit ihren Übungen, Steine genauer zu verstehen. Sie suchte sich vom schmalen Strand vor dem Waldboden zwei aus und hielt sie zunächst einfach mit geschlossenen Augen in der Hand. Sie dachte über ihre Beschaffenheit nach, wie Marusch es ihr erklärt hatte, nicht nur mit ihrem Gespür, sondern auch mit bewussten Gedanken über die Physik. Bloß erfühlen konnte sie sie prinzipiell schon lange. Das hatten sie in der Grundschule gelernt. Aber sie versuchte, nun nicht nur die Bestandteile zu erfühlen, sondern auch, wie diese zusammengefügt waren, welche Bindungen zwischen ihnen bestanden, welche Schwingungen es gab. Und dann, als sich für sie eine neue Form erschloss, die passen könnte, schmiss sie Maruschs Vorschlag über Bord, erst einmal etwas Einfaches zu versuchen, und faltete den Stein in einer fließenden Bewegung in jene neue Form.

Sie öffnete die Augen, besah sich das Ergebnis und ließ los. Der Stein behielt seine Seesternform bei. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Die Maserung darauf hatte sich in ihrem Gedankenuniversum gut angefühlt, und nicht einmal die sprang zurück in ihre alte Form.

Sie legte den Seestern in die Mitte auf die Decke und probierte, den zweiten Stein zu verstehen. Er fühlte sich auch gut in der Hand an, aber anders. Er war glatt, hatte einige gekrümmte Rillen, wo vielleicht mal etwas von ihm abgebrochen war. Bei diesem Stein hatte Lilið weniger Erfolg. Sie schaffte es schon, ihn zu falten, aber er sprang immer wieder zurück in seine Steinform, wenn sie losließ.

Als Marusch zurückkehrte, auf der Suche nach Wasser wieder erfolgreich, und sie zusammen aßen, konnte Lilið sich trotzdem die ganze Zeit ein glückliches Lächeln nicht verkneifen. Sie hatte etwas verstanden, wenn auch noch nicht vollständig. Aber es war ein Durchbruch.

Sie störte es dieses Mal auch nicht, dass Marusch keinen Kommentar zum Seestern in der Mitte zwischen ihnen abgab. Aber als sie fertig gegessen hatten, hob Marusch ihn doch auf, besah ihn sich von allen Seiten und strich darüber. Lilið holte das Buch aus ihrer Jacke, um es gegen den Stern zu tauschen, wenn Marusch soweit wäre.

“Willst du irgendeinen besserwisserischen Kommentar machen?”, fragte Lilið. “Fühl dich frei! Ich würde ihn dann gern bald hören, damit ich es hinter mir habe.”

Marusch schüttelte den Kopf. “Mir fallen zwar viele Dinge ein, die ich dir noch erklären könnte, aber das mache ich morgen auf der Fahrt.”, sagte sie. “Du hast deine eigene Art, zu lernen, und das ist wunderschön zu beobachten. Ich finde es ein starkes Stück, dass du Zwischenschritte einfach überspringst. Dir fällt es leichter, etwas in einem riesigen Schritt ganz zu verstehen, als in kleinen Schritten zuvor schon einmal ein unpräzises, schwammiges Zwischenverständnis zu haben.”

Lilið nickte und grinste. “Das meinte meine Mutter auch immer.”

Marusch reichte ihr den Seestern und Lilið gab ihr das Buch, aber als Maruschs Finger sich um es schlossen, hielt Lilið es plötzlich doch fest. “Da ist Metall drin.”, sagte sie.

Es war nicht viel Metall. Sie erwartete auch kein Metall in einem Buch. Vielleicht hätte sie es sonst viel eher bemerkt. Aber nun, in einem besonderen Moment der Wachheit, spürte sie es ganz deutlich.

Marusch ließ das Buch los. “Hast du schonmal die Seiten verstanden?”, fragte sie.

“Schon.”, sagte Lilið. “Aber da habe ich kein Metall erwartet. Und darüber, ob sie zusätzlich zu den merkwürdigen, unkoordinierten Zeichen mit einer Schrift beschrieben sind, bei der mit unsichtbarer Tinte oder so etwas geschrieben worden ist, sprachen wir ja schon einmal. Da meintest du, es wäre schon durchleuchtet worden und alles. Und die Maserung untersucht.”

“Magst du die Seiten anfassen?”, bat Marusch schlicht.

Lilið nickte. Sie schloss die Augen dafür, öffnete das Buch und legte die Hand vorsichtig auf das Papier. Es war an sich normales Papier. Aber das Metall war nicht zufällig darin verteilt. Es waren viele kleine Metallpartikelchen, nicht auf das Papier aufgetragen, sondern unter seine Oberfläche eingearbeitet. Und sie ergaben viel klarere Muster als jene sichtbaren Zeichen, die sie immer an Dreck erinnert hatten.