Katjenka regiert das Süd-Ost-Maerdhische Zarenreich der Zwerge und wird von der Flotte der Maare als eines der kleineren Übel gesehen, wenn es darum geht, mit Landvölkern zu verhandeln.

Content Notes:

Fesseln, Gefangennahme, psychische und physische Folter, Ableismus besonders gegen neuroatypische Personen, Völkermord - thematisiert, Rassismus, Selbstverletzendes Verhalten, Blut, Verletzung, BDSM-Anspielung, Gedanken zu Suizid.


Verhalten

Katjenka

Selbst in Fesseln verknotet war diese riesige Gestalt zwischen ihrer Hofwache beeindruckend. Katjenka betrachtete sie neugierig. Überlegte einen Moment, ob sie Angst haben sollte. Aber die Festung war gut bewacht. Ihre Leute richteten ihre Waffen auf die Person und zwangen sie in die Knie. Sie wehrte sich kaum, im Gegenteil, legte dabei einiges an Rest-Eleganz in die Bewegungen.

“Wie heißt du?”, fragte Katjenka. Sie entschied sich für ihre Landssprache Kazdulan und hoffte, die Person würde sie verstehen. Sie überragte Katjenka selbst auf den Knien. Allerdings hatte sie ihr Gesäß dabei nicht herabgesenkt.

“Sindra.”, antwortete die Person. “Pronomen, wenn du über mich sprichst, sie, ihr, ihr, sie. Ich fühle mich mit der Bezeichnung Frau wohl.”

Katjenka runzelte die Stirn. Wenn auch ihr nicht gleich klar war, was Sindra ihr mit diesem Hinweis sagen wollte, war sie doch beeindruckt vom Kazdulan. Es war mit Akzent gesprochen, aber ohne Zögern, als wäre sie es gewohnt, die Sprache zu sprechen.

Die Schattenscholle war gerade wieder im Hafen eingelaufen, mit guten und schlechten Nachrichten: Sie hatten die Schattenmuräne verloren. Sie hatte sich vor den Augen ihrer Crew in Nebel aufgelöst, wie sie berichtete. Aber aus dem Nebel war dann ein kleines, sehr schnelles Segelboot hervorgebrochen. Sie hätten es niemals eingeholt, wenn es nicht irgendwann gekentert wäre. Die Person darin, Sindra, war nicht in der Lage gewesen, es wieder aufzurichten und einzusteigen. Es war für eine erheblich leichtere Person gemacht.

“Gebt ihr trockene Kleidung!”, befahl Katjenka. “Ich möchte mich in Ruhe mit ihr unterhalten. Lasst dann auch die Fesseln weg, aber bewacht sie gründlich. Diese Meerleute sind geschickt im Entwischen.”

“Sehr wohl.”, sagte eine der Wachen, stellvertretend für die anderen.

Sindra durfte wieder aufstehen, was sie wieder nicht ohne eine für die Größe erstaunliche Eleganz tat, und wurde aus dem Raum geführt.

Katjenka winkte Junita heran, die im Hintergrund gestanden hatte, unter anderem um im Zweifel zu dolmetschen. “Kennst du den Akzent?”

Junita schüttelte den Kopf. “Es ist kein Akzent, den ich zuordnen könnte. Es ist kein skandernscher Akzent, aber am ehesten würde ich ihn dort einordnen.”

“Skandern war dieses relativ wenig bewohnte Gebiet im höchsten Norden Maerdhas, richtig?”, fragte Katjenka, die Stirn runzelnd.

Junita nickte.

“Wohnen dort Riesen?”, fragte Katjenka.

“Einige.”, antwortete Junita. “Es ist nicht so sehr bekannt, wieviele dort wohnen. Sie wurden lange gejagt und nur wenige haben den Völkermord überlebt.” Junita blickte Katjenka direkt ins Gesicht, was ungewöhnlich für sie war, wenn sie nicht allein waren.

“Ist sie ein Riese? Oder ein Mensch?”, fragte Katjenka. “Eigentlich sieht sie nämlich weder wie ein Mensch noch wie ein Riese aus.”

“Warum ist das so wichtig?”, fragte Junita.

Das war eine interessante Frage. Also, nicht nur die Frage an sich war interessant. Sondern auch, dass Junita sie stellte. Hier. Katjenka nickte. “Vielleicht ist es nicht wichtig.”, sagte sie. “Ich wollte vor allem wissen, was uns blüht.”

“Wir können nichts darüber aus der Herkunft schließen.”, erklärte Junita. “Zum einen bestehen unsere Kenntnisse über Riesen quasi aus Vorurteilen, die bewusst für die Rechtfertigung des Völkermords entwickelt worden sind. Zum anderen hat Sindra vermutlich so lange Zeit auf See verbracht, dass ungewiss wäre, wie sich eine andere Prägung auf sie ausgewirkt haben kann.”

Katjenka nickte. Junita brachte sie manchmal sehr gut wieder gedanklich dorthin zurück, wo die Musik spielte. Sie mochte sie dafür. “Aus den Gerüchten über die Flotte der Maare schließend würde ich vermuten, wir haben es mit der Kapitänin zu tun?”

Junita nickte. “Das deckt sich mit fast allen Geschichten, die bei uns ankommen.”

Die Geschichten waren nicht sehr zuverlässig und durchsetzt mit Spuk und Nebel. “Hast du noch einen wichtigen Gedanken?”

Junita schüttelte den Kopf. Auf ein Zeichen der Zarin zog sie sich zurück in den Hintergrund.


Katjenka verlegte sich mit ihren Leuten in die große Empfangshalle der Kramelin, einem alten Säulen- und Kuppelbau, der schon über Generationen hinweg der Zarfamilie für die Regierungsgeschäfte und als Behausung zur Verfügung gestanden hatte. Sie ließ, einem weiteren Gerücht folgend, das noch weniger bestätigt war, einen Tisch und zwei Sessel in den hohen Raum tragen, sowie Tee zubereiten. Es hieß, die Kapitänin und Tee wären zwei nicht trennbare Dinge. Es hieß auch, die Kapitänin sei grausam auf eine untergründige Art, die nicht leicht auszumachen wäre. Sie wäre manipulativ und ein Monster.

Katjenka wollte sich davon nicht beeindrucken lassen, aber eine unbestimmte Angst konnte sie nur schwer leugnen. Sie rief sich das Bild dieser großen, nicht einzuordnenden Person noch einmal in Erinnerung, versuchte sich mental vorzubereiten.

Und schließlich betrat Sindra den Raum. Begleitet von zwei Dutzend Wachen. Sie hatten Katjenkas Ermahnung wirklich ernst genommen. Sindra überragte sie um fast eine halbe Körperlänge. Sie wirkte selbstbewusst und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, kein breites, nur gerade so viel, dass es eben eines war.

Sie trug ein Kleid, das ihr viel zu eng und zu kurz war. Es war immerhin nicht für Zwerge gedacht gewesen. Sie hatten durchaus für den Fall der Fälle einige Kleider für zum Beispiel Elben aufbewahrt, der Mode des Zarenreichs für die anderen Körper nachempfunden. Sie hatten wahrscheinlich für Sindra das größte Kleid ausgesucht, das sie hatten. Vielleicht hätten sie es eher mit Hosen probieren sollen. Immerhin war Sindra in welchen gekommen. Das Kleid war modisch betrachtet ein etwas veraltetes Modell, hatte ein feines Drahtgeflecht integriert, das den Rock um sie herum bauschig wirken ließ.

Katjenka war es schleierhaft, wie sich dieses Bild zusammenfügen konnte, aber es funktionierte. Sindra bewegte sich nun anders, graziler vielleicht. Wie sie so eine Strähne ihres endlos langen, braunen Haars am Scheitelansatz begann hinter das Ohr zu legen und von dort aus hinter den Rücken. Das Haar war schwer und dezent gewellt.

“Ich hoffe, unsere mangelhafte Ausstattung an langen Kleidern wirft kein allzu schlechtes Licht auf unsere Gastfreundschaft.”, begrüßte Katjenka erneut. Sie hoffte, dass Sindra ihre furchtlos wirkende Höflichkeit wenigstens etwas beeindrucken würde.

Sindra sah an sich hinab, als hätte sie noch gar nicht realisiert, dass das Kleid zu kurz war. Sie strich beiläufig eine Falte aus dem Rock, blickte wieder auf und schüttelte den Kopf. “So ein Problem hatten wir auch einmal an Bord. Wir sind gewohnt, das beste aus dem zu machen, was da ist.”

Katjenka lud sie ein, ihr gegenüber am Tisch Platz zu nehmen. Eine der Wachen rückte den größeren der Sessel für sie vom Tisch ab. Sindra warf einen Blick darauf. “Ist er gefedert?”, fragte sie.

Katjenka runzelte die Stirn. Legte sie in Gefangenschaft wirklich darauf wert, dass der Sessel gefedert wäre? Löste ihre Art, mit Sindra umzugehen, das Gegenteil von Eindruck aus? “Ja, denke schon.”, antwortete sie trotzdem.

“Ich bin sehr schwer.”, informierte Sindra. “Es ist schon einmal vorgekommen, dass ich Federungen mit meinem Körpergewicht beschädigt habe. Möchtest du, dass ich das Risiko eingehe?”

War das ein Schmunzeln? Machte sie sich über Katjenka lustig?

Katjenka besann sich darauf, dass es hier nicht um eine Anspruchshaltung ging, sondern Sindras Hinweis als Angebot für sie gedacht gewesen war. Sie nickte schließlich, und gewann die Fassung wieder. “Wir haben Ersatz.”, informierte sie. “Setz dich.”

Sindra rückte den Sessel selbst in den passenden Abstand zum Tisch, der Wache, die es andernfalls übernommen hätte, freundlich aber bestimmt zunickend, und nahm darauf Platz.

In dieser simplen Geste lag so einiges auf einmal verborgen, was Katjenka Unbehagen bereitete. Kein großes Unbehagen, aber doch spürbares.

Sindra verhielt sich in keiner Weise wie eine Gefangene. Nicht so, als könnte sie sich überhaupt unterordnen. Katjenka war nicht gewohnt, mit so einer Person zu reden, vor allem nicht mit einer Person, die kein Land regierte. Sondern eine Flotte. Sie sprach mit einer Regentin, die sie noch nicht kannte, und die eigentlich keine Mittel hatte, aber trotzdem Macht über sie.

Doch was ihr am meisten zu denken gab, war die Reaktion ihrer Wache auf das Zunicken gewesen. Sie war auf Sindras wortlose Gesten angesprungen, als hätte sie Sindra zu gehorchen. Als wäre sie Sindras Wache und nicht Katjenkas.

Sindra musste in ihre Schranken verwiesen werden.

“Du solltest dankbar sein, dass wir dich gefangen genommen haben.”, sagte die Zarin zu ihr. Zu dieser außerordentlich bemerkenswerten Person. Nicht zuletzt, weil sie es geschafft hatte, sich in der bauschigen Rockmode inzwischen im Schneidersitz auf den Sessel mit seinen zu schmalen Lehnen zu positionieren und völlig unbeeindruckt auszusehen.

“Hast du das Wort ‘wir’ betont?”, erkundigte sich Sindra.

“Das habe ich.”, bestätigte die Zarin.

Das feine Lächeln auf Sindras Gesicht wurde breiter. “Von allen Nationen, die mich hätten gefangen nehmen können, ist dies mitnichten die schlechteste Option.” Der Wortschatz sprach dafür, dass sie Kazdulan sehr gut kannte. Das war interessant und beeindruckend. “Dennoch erschließt sich mir nicht, warum ich dankbar für ein Unrecht sein sollte, nur weil schlimmeres Unrecht geschehen könnte.”

“Ihr habt Schiffe bestohlen und Forschungsvorhaben sabotiert. Wie kommt ihr auf die Idee, dass euch hier das Unrecht geschieht?”, fragte Katjenka, vielleicht etwas lauter als nötig.

Sindra reagierte darauf, indem sie sich selbst Tee eingoss, ohne den Schneidersitz zu entknoten, und sich anschließend mit einer dampfenden Tasse zurücklehnte. “Meines Wissens seid ihr über unsere Motive und daher unsere eigene Einordnung, was warum Unrecht ist, informiert.”, sagte sie bloß ruhig. Den Blick auf den Teedampf gesenkt, blies sie sachte darüber.

Es stimmte. Die Schattenscholle hatte ihnen auf verschiedene Weisen eine Reihe an Nachrichten zukommen lassen. Als Reaktion zu ihrem Angebot auf Verhandlung.

Katjenka ärgerte sich. Dieser Person war nicht so leicht etwas vorzuspielen. Sie hätte es gar nicht erst versuchen sollen. Vorspielen barg immer ein gewisses Risiko, hinterher, wenn es fehlschlug, noch weniger ernst genommen zu werden. Obwohl es gar nicht genau den Punkt traf, was Katjenka in dieser Konversation fehlte. Respekt und Ernstnehmen war da. “Du bist gewohnt, dich nicht unterzuordnen.” Dann würde Katjenka es vielleicht mit Ehrlichkeit versuchen.

“Nicht sehr.”, gab Sindra freundlich zu. “Es haben sich bisher vor allem Personen auf Spiele mit mir eingelassen, die eher submissiv sind, woraus sich für mich die dominante Rolle ergab. Ich wäre aber einem Spiel mit umgekehrter Rollenverteilung nicht abgeneigt.”

Katjenka schluckte. Der sanfte, vielleicht etwas alberne Gesichtsausdruck dieser riesigen Person tat etwas mit ihr. Sie verstand nicht, worum es ging, aber ihr Innerstes reagierte mit einer sehr seltsamen Art von, vielleicht, Sympathie? Sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, worum es ging. Und fragte trotzdem: “Einem Spiel?”

“Oh!”, machte Sindra. Der Gesichtsausdruck von eben verschwand ohne Rückstände. “Es ging um meine Rolle als Kapitänin?”

Katjenka runzelte die Stirn und nickte.

“Ich war Kapitänin der Maare.”, bestätigte Sindra, was Katjenka ja schon vermutet hatte. “Für solange sie existiert. Ich habe das Kommando gestern abgegeben. Es ist mir nicht schwer gefallen. Ich bin es nicht gewohnt, ja, aber es fällt mir nicht schwer.”

“Das kommt ziemlich anders rüber.”, sagte Katjenka. Sie versuchte eine gewisse Strenge in die Stimme zu legen.

Sindra lächelte. “Dann geht es doch um Spiele.”, sagte sie. “Ich kann eine Person anerkennen als eine, die über mich bestimmt, weil die Handlungsfähigkeit einer Gruppe davon abhängt, dass es eine Person tut. Ich kann auch ein ungleiches Machtverhältnis, wie es zwischen uns existiert, als solches anerkennen. Damit meine ich nicht, dass ich es gutheiße. Aber beides zeigt sich bei mir nicht in gebückten Körperhaltungen oder irgendetwas anderem, das Leute oft erwarten zu sehen, wenn sie solche Fragen bezüglich der Fähigkeit, sich unterzuordnen, stellen. Diese Reaktionen sind Spiel. Manche spielen es unterbewusst oder weil ausreichend Druck auf sie ausgeübt wird, dass sie spielen müssen. Wenn ich muss, merke ich das sehr bewusst. Möchtest du, dass ich spiele?”

Katjenka sah sich im Raum um. Die Körperhaltungen der ihr Untergebenen waren identisch und sie empfand sie als hilfreich. Sie hatte sich all die Fragen durchaus schon gestellt. War es nötig, war es gut? Aber als ein Spiel hatte sie es noch nicht bezeichnet. “Ist es wirklich ein Spiel, oder ist es nicht viel mehr eine Art, Bereitschaft und Respekt zu kommunizieren?”

“Kommt drauf an. Und es muss kein Widerspruch sein.”, sagte Sindra. “Ich spreche in der Tat die Sprache, vielleicht Hofsprache, in der Respekt über Höflichkeitsregeln und Unterordnungsgesten kommuniziert wird, in keiner Weise fließend. Das heißt nicht, dass ich dich nicht respektierte.” Sindra nahm sich die Zeit, einen Schluck des Tees zu trinken. “Ich habe meine eigene, für mich natürliche Weise, Respekt zu kommunizieren. Ich kann versuchen, sie in deine zu übersetzen, aber dann wäre es Performance. Ein Spiel.”

Katjenka fiel durchaus auf, dass die Wörter ‘Hof’ und ‘Höflichkeit’ verwandt waren und dass Sindra dies bewusst eingesetzt hatte. “Kazdulan sprichst du ziemlich gut.”, merkte Katjenka an. Vielleicht um abzulenken.

“Das ist eine ganz andere Art von Sprache.”, sagte Sindra schlicht.

“Aber deine Körpersprache ist eigentlich auch recht flexibel.”, überlegte Katjenka. Warum ließ sie sich darauf ein?

“Danke.”, sagte Sindra. “Du beobachtest aufmerksam. Das ist auch eine Sprache, da hast du recht.”

“Ich behaupte, die Körpersprache, die Respekt bekundet, ist eine, die du lernen kannst, aber nicht lernen willst.”, kam Katjenka zum Schluss. Sie hoffte, damit endlich etwas zu bewegen.

“Es ist eine, die ich wahrscheinlich sogar recht zügig sprechen kann. Vielleicht brauchbar genug, dass nicht auffiele, dass es ein Schauspiel wäre, obwohl sie mir fremd ist und nicht behagt.”, sagte Sindra. “Die Frage ist, wenn dir daran gelegen ist, mit mir Verträge zu schließen, ob du dann möchtest, dass ich dir einen Respekt vorspiele, den ich selbst nicht als Respekt verstehe. Möchtest du das?”

Katjenka erinnerte sich, dass Sindra das schon einmal gefragt hatte. Und dass sie die Frage nicht beantwortet hatte, weil sie nicht wollte, dass Sindra ihr etwas vorspielte, aber sie das Gefühl hatte, dass sie ihr auf der Nase herumtanzte, und das wollte sie erst recht nicht. “Mach dich nicht lustig über mich.”, befahl Katjenka mit ruhiger Stimme.

Sindra setzte die Teeschale ab. “Selbstverständlich nicht.”

“Warum glaubst du, dass wir immer noch Verträge eingehen wollen?”, fragte Katjenka. “Wir haben zwei von euch gefangen genommen. Reicht das nicht, um darzulegen, dass wir in der Übermacht sind und nicht auf Verträge mit euch angewiesen?”

“Ihr wart schon immer in der Übermacht.”, antwortete Sindra gelassen. “Also, nicht konkret das süd-ost-maerdhische Zarenreich der Zwerge. Landvölker im Allgemeinen. Es hat sich nichts geändert.”

“Wir kennen euer Geheimnis.”, setzte die Zarin nach. “Und bedeutet es wirklich gar nichts, dass wir die Kapitänin gefangen genommen haben?”

Sindra schüttelte den Kopf. “Ich bin ersetzbar.”, sagte sie. “Es werden neue Methoden entwickelt werden. Die Lage ist mies, aber das war sie auch schon immer.”

“Das klingt nicht, als wäre die Flotte der Maare besonders gewillt, nun zu verhandeln.” Katjenka stand auf und schritt durch die Halle. Sie winkte Sindra, ihr zu folgen.

Die ehemalige Kapitänin stand auf und folgte ihr. Die Wachen folgten ebenfalls, dezent im Hintergrund, wie sich das gehörte. Ein Teil von Katjenka fragte sich, ob sie Sindra gehorchen würden, wenn sie nur ein Kommando aussprechen würde. Und dann fühlte sie für einen kurzen Augenblick Panik, dass vielleicht die Kramelin unterwandert sein könnte. Das war Unfug. Diese Macht hatte die Flotte der Maare nicht. Aber wieso war diese riesige Person so gelassen? Würde sich das gleich ändern?

Sie traten um eine Ecke in einen anderen Bereich der Halle, der von der Teerunde nicht einsehbar gewesen wäre, wo sie die Nixe aufgehängt hatte. Sie baumelte an ihrem Schwanz ruhig vor sich hin.

“Uns ist zu Ohren gekommen: Du hängst an dieser Nixe.”, sagte Katjenka gelassen. Sie wählte bewusst ein Wortspiel. Um zu provozieren, um diese Person vielleicht endlich dazu zu bringen, zu verstehen, wie die Lage aussah.

Sindra blickte zur Nixe hinauf. Die Nixe öffnete die Augen und blickte zurück. Der Blickaustausch war nicht kurz, aber Sindra zeigte keine besondere Entrüstung, bevor sie sich wieder an Katjenka richtete. “Ich hänge an dieser Person. Ja.”

Hatte sie das Wortspiel überhaupt bemerkt? Aber eigentlich war es ihr sehr zuzutrauen. Sie sprach die Sprache so fließend, dass es ihr kaum entgangen sein konnte. Sie war auch sonst sehr aufmerksam.

Das war Katjenka allerdings auch. Ihr war durchaus aufgefallen, dass Sindra das Wort ‘Nixe’ mit dem Wort ‘Person’ ersetzt hatte.

Sindra wandte sich wieder an die Nixe und gab Geräusche von sich, von denen sich Katjenka nicht einmal sicher war, ob es sich um eine Sprache handeln könnte. Oder ob es Gesang oder einfach liebliche Geräusche sein mochten. Die Nixe fauchte zurück, dass Katjenka zuckte. Aber Sindra ließ sich davon nicht beeindrucken.

“Hast du zu ihr gesprochen?”, fragte Katjenka.

Sindras Blick wirkte unergründlich. “Wir sind uns recht einig, dass die Aufhängung eher kein gutes Licht auf deine Gastfreundschaft wirft.”, teilte sie mit. “Da das vorhin deine Sorge war, können wir daran arbeiten?”

“Hat die Nixe Höhenangst?”, fragte Katjenka, einen neuen Provokationsversuch startend.

Sindra blickte wieder zur Nixe hinauf. Diese starrte einige Momente zurück, schlug dann die Lider nieder und nickte.

“Versteht sie uns?”, fragte Katjenka.

Sindra und die Nixe tauschten ein Grinsen aus. Es war so seltsam. Zuvor hatte die Nixe sich gegen jede Form von Interaktion mit ihr lautstark und mit Einsatz ihres Körpers gewehrt. Nun hing sie da und grinste.

“Wir können sie ein bisschen herunterlassen, wenn es dich glücklich macht.”, räumte Katjenka ein.

“Das wäre reizend.”, antwortete Sindra. “Angesichts der Tatsache, dass sie kleiner ist als du, und sich an Land viel schlechter bewegen kann als wir, habe ich mir allerdings erhofft, sie könnte mit mindestens dem gleichen Respekt behandelt werden wie ich.”

Wieder erinnerte sich Katjenka daran, dass Sindra die Nixe mit Person referenziert hatte. “Sieh es als Lebensversicherung.”, argumentierte sie.

“Inwiefern brauchst du in deiner Kramelin mit zwei Dutzend Wachen eine Lebensversicherung?”, fragte Sindra. “An Land. Bezüglich zwei Personen, die auf See zu Hause sind.”

“Ich wüsste gern, wie wichtig sie dir ist.”, wechselte Katjenka das Thema.

“Sehr.”, antwortete Sindra mit einem schmalen Lächeln.

“Aber müsstest du dann nicht hier stehen und weinen, oder schreien und fluchen?”, fragte die Zarin. “Wenn ihr sagt, dass dort in Grenlannd schützenswertes Leben ist, dass euch so viel wert ist wie euer eigenes, also so viel wert, dass unsere Art Forschung zu sehr schmerzen würde, dann würde ich gern sehen, wie sehr du an dieser Nixe hängst. Sonst kann ich dir oder euch das schwerlich abkaufen.”

Sindra seufzte und senkte den Blick. “Ich zeige Emotionen nicht typisch.”, sagte sie. “Das heißt nicht, dass ich sie nicht habe.”

“Zeig sie!”, befahl Katjenka. Sie fühlte sich nicht gut dabei. Aber auf der anderen Seite fühlte sie sich nicht wohl in Gegenwart einer Person, die keine Gefühle zeigte. Das war ihr unheimlich und suspekt. Ja, das war es, was ihr vorhin nicht klar werden wollte. Es ging nicht um Respekt oder Ernstnehmen. Es ging darum, dass Sindra gefühlstot war. “Zeig sie, und du kannst deine Nixe wiederhaben.”

Sindra blickte sie an, blinzelte einige Male. Nichts passierte. Und dann gab die Nixe Töne von sich. Wie Sindra vorhin. Sindra blickte auf und lauschte, genau, wie die Zarin. Im Gegensatz zu Sindra hatte die Nixe unverkennbar feuchte Augen.

“Was sagt sie?”, fragte Katjenka.

“Ob ich manchmal weine, wenn ich mir physischen Schmerz zufüge.”, murmelte Sindra. “Aber ich habe vermindertes Schmerzempfinden. Nein, das hilft wenig.”

Versuchte die Nixe, Sindra zu beraten, was diese tun könnte, um den Anschein emotionalen Fühlens zu erwecken, das sie eigentlich gar nicht hatte? Katjenka wusste nicht genau, was sie dazu antrieb, aber sie reichte Sindra das Messer, das in der toten Nixe gesteckt hatte, das die Assassinperson nicht wieder eingesammelt hatte.

Sindra nahm es entgegen und schnitt sich ohne zu zögern damit in den Arm. Einen Moment passierte nichts, dann quoll Blut aus dem Schnitt hervor. Rotes. Normales rotes Blut. Was hatte Katjenka erwartet?

“Das ist eher kontraproduktiv.”, teilte Sindra ruhig mit. Sie wischte die Klinge grob auf der eigenen Haut ab und reichte sie zurück. “Ich könnte mich umbringen, was auch wenig Sinn ergäbe.”

“Du hast einfach keine Gefühle.”, hielt Katjenka fest. “Warum sollte ich Verträge mit Personen eingehen wollen, die keine Gefühle haben? Halten gefühlstote Wesen die dann? Wo ist da Verlass? Inwiefern seid ihr gefühllosen Maare vertrauenswürdig?”

“Wieso bringst du Vertrauenswürdigkeit mit Gefühllosigkeit in Zusammenhang?”, fragte Sindra. “Und warum denkst du, ich wäre gefühllos, all die Dinge in Betracht ziehend, die ich gesagt habe, und für die ich stehe, die ich gemacht habe, und für die ich mich einsetze, lediglich darauf basierend, wie ich Emotionen zeige oder eben nicht zeige?”

“Du hast den Ruf einer Monsterkapitänin.”, entfuhr es Katjenka. “Wenn ich Verträge schließe, dann möchte ich wissen, woran ich bin. Ich habe genug Hinterhalte erlebt, dass ich mich absichern möchte.” Das hatte sie wirklich. Allerdings hatten die Herrschenden, die sie hinters Licht geführt hatten, Emotionen gezeigt. Gespielte. Die Argumentation war nicht ganz schlüssig.

Sindra blickte sie lange schweigend an. Wenn da gerade doch ein Fetzen Wut gewesen sein mochte, war sie nun wieder nachdenklich und ruhig. “Das ist ein Moment, in dem ich denke, dass ich mich vielleicht zu weit über die Reling lehne. Ich habe dich nicht zu beraten.”, leitete sie ein. “Ich mag trotzdem anmerken, dass es bessere Mittel gibt, mögliche Hinterhalte unwahrscheinlicher zu machen.”

“Und welche?”, fragte Katjenka gereizt. Nein, es stand dieser Ex-Kapitänin wirklich nicht zu.

“Zwei Varianten fallen mir ein.”, sagte diese ungerührt. “Druckmittel, die stark genug sind. Aber sie müssen immer stark genug sein. Das ist aus meiner Sicht eine in vielen Punkten nachteilhafte Variante.” Sindra hob erst einen und nun zwei Finger hoch. “Gute Konditionen. Die Ziele und Ethik der Flotte der Maare liegen offen und sind konsistent. Biete uns etwas an, wovon wir und ihr profitieren, und was uns in besagter Ethik und besagten Zielen nicht zu Kompromissen zwingt.”

“Ihr habt eines der Ziele sehr klar gemacht.”, reagierte die Zarin. “Wir sollen Grenlannd nie erreichen.”

“Aye.”, stimmte Sindra lächelnd zu.

Es war nicht zu fassen. “Und wie könnten wir von euch profitieren, wenn ihr nicht den Weg freizugeben bereit seid?”

“Ab diesem Punkt möchte ich Vorschläge höchstens unterbreiten, nachdem ihr aufhört, meine Herzperson zu foltern.”, sagte Sindra sachlich. Sie blickte hinab auf die selbst hinzugefügte Verletzung am Arm, aus der das Blut inzwischen langsamer sickerte. “Das war ein interessantes Erlebnis.”, murmelte sie. “Es hat mich noch weiter beruhigt und tut es immer noch. Kontraproduktiv einfach.”

Die Nixe über ihnen bewegte sich, schüttelte den Kopf und grinste. Katjenka war sich inzwischen sicher, dass sie jedes Wort verstand. Es machte sie immer noch fassungslos: Sie hatte eine Nixe an ihrem Fischschwanz aufgehängt, die jedes Wort verstand, aber es erst in Anwesenheit dieser riesigen Person zugab. Sie hatte die Kapitänin der Flotte der Maare gefangen. Und sie kommunizierten mit Blicken, als wären sie frei, als würde Zarin Katjenka ihnen völlig egal sein. Und die stärkste gezeigte Emotion war die der Nixe, als Katjenka versucht hatte, bei Sindra welche zu erzwingen. “Ihr seid wirklich eine Monsterkapitänin.”, murmelte sie.

“Du ihrst mich plötzlich?”, bemerkte Sindra schneller als Katjenka selbst.

“Ich möchte sehen, wie du reagierst, wenn wir deine Nixe sezieren.”, sagte Katjenka. Sie hatte das eigentlich nicht vor. Aber sie sah die Drohung als eine Art Therapie. Es war nicht gut, Emotionen zu verbergen, und am meisten nicht für die Kapitänin selbst. Entweder, Sindra hatte tatsächlich keine, dann würde die Drohung nicht schaden, oder es würde nur gut für sie sein.

“Glaubst du, dass du mir damit einen Gefallen tust? Mich durch Erpressung dazu zu bringen, Emotionen zu zeigen?” Sindra hatte also direkt verstanden, worum es ging. “Emotionen, die ich sehr wohl habe. Aber die dir nicht richtig ausgedrückt erscheinen. Denkst du wirklich, dass irgendeine Person von uns dadurch gewinnt, dass du mich in dieses Muster deiner erwarteten Emotionsexpression presst?”

War das wieder die leichte Wut? Sindra rührte sich nicht vom Fleck, versteifte sich etwas. Auf einmal fühlte Katjenka die untergründige Angst vor der Monsterkapitänin und all den Gerüchten von vorhin deutlich.

“Und nachdem du das reflektiert hast, vielleicht noch die Frage:”, fuhr Sindra fort. “Glaubst du, es ist eine besonders durchdachte Idee, eine Person, die ungefähr doppelt so groß ist wie du, die direkt neben dir steht, die dich vielleicht mit einem gut platzierten Schlag töten könnte, zu einer Emotion zu provozieren, die sehr wohl auch ein impulsiver Wutausbruch sein könnte, der nicht an morgen denkt?”

Katjenka nickte vorsichtshalber. Nickte, damit Sindra wusste, dass sie zuhörte, und hoffentlich nichts in dieser Richtung tun würde. Vielleicht hielt Sindra den Körper so steif, um es zu vermeiden. Sie war nicht aggressiv. Eigentlich nicht.

“Wir kennen uns kaum.”, sagte Sindra, immer noch mit dieser Anspannung. “Was versprichst du dir davon, psychologische Spiele mit mir zu spielen, anstatt zu verhandeln? Ist es ein morbider Spieltrieb? Ist es Rache? Oder ist es die schlichte Feindlichkeit gegenüber Personen, die nicht deine Sprache sprechen. Damit meine ich nicht Kazdulan, und nicht einmal unbedingt Körpersprache, worüber wir vorhin sprachen. Sondern Sprachen, von denen dir gerade wahrscheinlich nicht einmal bewusst ist, dass es sich dabei um Sprachen handelt. Macht dir das Angst? Ist es das?”

“Die Welt ist voller Monsterherrschenden!”, erscholl eine neue Stimme durch den Raum, klangvoll und wütend. “Aber Sindra ist keine davon!”

“Bist du in der Lage, Marah aufzufangen?”, fragte die Stimme einer anderen Person auf Salvenit, einer Sprache, die hier fast niemand sprach. Aber Katjenka hatte sie nicht ohne Grund erlernt. Ein Grauen stieg in ihr auf. Die Person hatte gezielt in einer Lautstärke gesprochen, dass sie nicht schrie, aber für Sindra und Katjenka gut hörbar war.

Katjenka war nicht klar, wie sie mitten im Raum aufgetaucht war, aber sie trug die Uniform der Assassinen, die sie so fürchtete. Ein Messer flog durch die Luft und zerschnitt das Seil, an dem die Nixe hing. Sindra musste in dem kurzen Moment, in dem Katjenka abgelenkt gewesen war, unter die Nixe getreten sein und geantwortet haben, vielleicht mit einem Nicken. Als Katjenka nun wieder hinsah, sah sie ein Bild, das emotionaler war als alles, was sie hatte provozieren wollen. Diese riesenhafte Gestalt hatte die Arme fest um die Nixe geschlossen, und gleichzeitig liebevoll und sanft, küsste die Stirn der Nixe, sich nicht viel Zeit nehmend, aber dafür umso mehr Innigkeit.

Dann brach Chaos aus.