Rash schreibt die Nachrichten, die von Bord gehen. Rash hat außerdem eine gute Charakterkenntnis und starke Gefühle für Amira.

Content Notes:

Misgendern, Lebensmüdigkeit, Sex erwähnt, Verliebtheitskuscheldinge.


Scherben

Rash

Rash dachte tatsächlich einen Moment darüber nach, ob Rash die Kapitänin um diese unnützen Porzellantassen bitten sollte, um sie auf dem Deck zu zerschmettern.

Stattdessen blickte Rash Ushenka nach, bis sie hinter der Kapitänskajüte verschwunden war, zog die Beine mit auf die Kiste und umklammerte sie. In Rashs Kopf zerstörte Rash ganze Ladungen an Geschirr auf den Planken. Es half wenig. Rash schloss die Augen und ließ die Scherben in kleinere Scherben zerbrechen, mit einem Knarzen, in noch kleinere, bis der feine Sand zwischen den Planken hindurch in das Deck darunter rieselte oder vom Wind verwehte.

Ushenka war eine Person, die Kämpfe gefochten hatte, die sicher nicht leicht gewesen waren. Hafenmeisterin zu sein, war ein täglicher Stress: Nicht nur die permanente, untergründige Angst, aufzufliegen. Ushenka war auch gezwungen, all die sexistischen Witze, die in ihrer Gegenwart gerissen wurden, bei der sie in die Gruppe der Männer mitgezählt wurde, mitzumachen. Sie musste sie nicht lustig finden, aber sie musste trotzdem ertragen, eine bestimmte Rolle darin zugewiesen zu bekommen, die von den Machtverhältnissen profitierte, während sie das aber nicht tat. Warum konnte sie das nicht übertragen?

Es brannte in Rash. Es war auf so vielen Ebenen schlimm. Es ging bei den Machtverhältnissen eigentlich nicht um Männer. Das ging nur in eine Richtung: Alle, die davon profitierten, waren Männer, aber nicht alle Männer profitierten davon, und die, die es nicht taten, waren meist ganz leise. Männer als Gruppe zum Problem zu machen, war ein Zuschreiben von Eigenschaften an Männer.

Hinzu kam: Rash wusste nicht so genau, inwiefern Ushenka darüber informiert war, wie das mit Rash und Geschlecht war. Sie kannte wahrscheinlich den Begriff nicht-binär, den Rash für sich gewählt hatte. Jedenfalls hatte sie damit Rash auch indirekt ein Geschlecht zugewiesen. Dadurch, dass sie sich Ashnekov und Janasz für den Witz ausgesucht hatte, und nicht Rash, hatte sie zum Ausdruck gebracht, dass eine Person mit Geschlecht wie Rash, eine nicht-binäre Person, nicht auch ein Mann sein konnte.

Manchmal mochte Rash auch einfach nicht über Geschlecht nachdenken, aber nun fraß sich die Frage wieder durch Rash hindurch und es schwappte so sehr hin und her, dass es anstrengte.

Rash umschloss die Beine fester, umarmte sich selbst. Versuchte, sich selbst lieb zu haben. Rash war sogar zu angespannt dafür, die Ziege zu streicheln, selbst wenn sie es gewollt hätte. Aber Aga hatte eigentlich vorhin schon genug gehabt.


Schwere Schritte näherten sich. Es waren die Schritte der Kapitänin. Rash blickte auf und machte auf der Kiste neben sich Platz. Sindra setzte sich. Ihre Knie hatten dabei einen steileren Winkel als Rashs, weil ihr Körper so viel größer war. Sie blickte Rash freundlich an.

“Was ist dein Begehr?”, fragte Rash. Es war verspielt geplant gewesen. Aber der Ärger steckte noch darin.

“Ich brauche deine Beratung.”, sagte Sindra. “Brauchst du etwas?”

Sie hatte also etwas bemerkt. “Ablenkung.”, antwortete Rash wahrheitsgemäß. “Worum geht es?”

“Es gab Todesfälle.”, sagte Sindra. Nun, das war schon länger bekannt. “Jetzt auch Arym. Sagt dir der Name was?”

Arym war der Sprachwissenschaftler mit der Zweckehe mit Ushenka. Rash hatte bemerkt, wie sehr sie trauerte, aber hatte noch nicht gewusst, um wen. “Ja.”

“Wie funktioniert das mit der Trauer?”, fragte Sindra.

Rash musste beinahe lachen. Wie sie da so entspannt saß, wie um ein Pläuschchen zu halten, und diese Frage stellte. Ein warmes Lachen wäre es geworden. Rash liebte Sindra mit all ihrem Sein. “Warum möchtest du trauern?”, fragte Rash.

Die Kapitänin schüttelte den Kopf. “Ich brauche das für mich nicht.”, sagte sie. “Aber ich möchte der Crew geben, was sie braucht. Gibt es Rituale? Gibt es Fragen, die ich am besten stelle? Verletze ich dich mit den Fragen?”

“Nie!”, beantwortete Rash die letzte der Fragen und lächelte nun tatsächlich. Dann dachte Rash nach. Es hatte nicht unbedingt Sinn, Sindra zu versuchen zu erklären, wie sich Trauer anfühlte. “Mir deucht, dass du mir wirklich sehr vertraust, wenn du in so einer Situation mit dieser Frage zu mir kommst.”, murmelte Rash in die Überlegungen hinein.

Sindra nickte. Wie konnte ein Nicken warm sein? Aber vielleicht war es auch der Blick oder die Bedeutung hinter der Geste, die so ohne Einschränkung auf Rashs Mutmaßung erfolgt war.

“Die Bedürfnisse bei Trauer sind verschieden.”, leitete Rash ein. “Manche reden gern über die Verstorbenen, tauschen Erinnerungen aus. Manche geben ihnen Geschenke, mehr oder weniger symbolisch. Manchen hilft singen. Möchtest du eine Trauerfeier ansetzen?”

Sindra hörte aufmerksam zu und nickte vorsichtig. “Ich fühle mich so denkbar ungeeignet, eine anzuleiten, aber es wäre wohl meine Aufgabe als Kapitänin, so etwas zu tun.”

“Es würde wohl reichen, wenn du eine Zeit festsetzt und dazu einlüdest, aber die eigentliche Feier in andere Hände legst.”, erwiderte Rash. “Tatsächlich kann es Trauernden sehr helfen, selbst etwas vorzubereiten.”

“Wenn ich jeder Person einen Raum gebe, eine Erinnerung zu teilen, woraus sich ein Gespräch ergeben darf, und anschließend wird gesungen, aber Crewmitglieder dürfen sich Lieder wünschen? Klingt das sinnvoll?”, überlegte die Kapitänin.

Rash lächelte sanft. Empathie konnte eben auch vollständig auf Logik basieren und war dadurch nicht weniger wert. “Das wäre sehr gut, glaube ich.” Rash bemerkte, wie sich die eigene Körperhaltung etwas entspannt hatte. “Warte damit, bis Marah wieder wach ist. Sie braucht so etwas auch. Also warte bis morgen Nachmittag. Wenn es regnet, eventuell etwas früher. Das sollte zeitlich passen, dass wir bis dahin keine großen Manöver fahren müssen, richtig? Also, wenn nichts außer der Reihe passiert.”

Die Kapitänin beantwortete die letzte Frage nicht. “Das sind sehr wertvolle Hinweise. Ich danke dir.”, sagte sie bloß. “Kann ich wirklich nichts für dich tun? Du wirkst bedrückt.”

Rash fühlte sich nach einer Umarmung. Ganz sicher nicht nach einer von Ushenka. Umarmungen halfen Rash nur von Personen, bei denen Rash das Gefühl einer Umarmung bereits kannte. Aber auch Sindra wollte Rash gerade nicht fragen. Also schüttelte Rash den Kopf und stand auf. “Ich gehe ein anderes Problem in Angriff nehmen.” Es wurde Zeit.


Rash fand Kanta im kleineren Schlafraum, den, wo Sindra und Kanta schliefen, und inzwischen auch Amira und ab heute Nacht wohl auch Ushenka. Aber gerade war der Raum leer, abgesehen von Kanta, die sich in letzter Zeit viel dorthin zurückzog. Rash hätte den Raum im Normalfall nie betreten. Privatsphäre war eine wichtige Sache, aber gerade ging anderes vor.

Rash hielt sich nicht mit Begrüßungsformeln auf. “Du bist, wenn ich richtig beobachte, seit den schlechten Nachrichten auffällig viel nicht unter Leuten.”

“Mir geht es nicht so gut.”, begründete Kanta.

“Physisch oder nimmt es dich emotional mit?” Eigentlich kannte Kanta niemanden der Verstorbenen, aber Rash wurde den Eindruck nicht los, dass sich mit den Ereignissen bei Kanta eine bestimmte Scheu vor der Crew ergeben hatte. Und es drängte Rash unerwartet stark, es zu verstehen.

“Ersteres.”, behauptete Kanta nach einer Weile des Zögerns. “Ich kannte niemanden.”

Rash lehnte sich an die Wand und beobachtete Kanta mit gerunzelter Stirn. Rash kaufte ihr nicht ab, dass da nicht mehr war. “Kanta.”, seufzte Rash schließlich. “Ich werde das Gefühl nicht los, dass du einen Konflikt vor dir herschiebst. Und wenn ich damit recht haben sollte, rate ich dir sehr dazu, ihn nicht bis zum letzten Moment aufzuschieben.”

Kanta hatte mit dem Rücken zu Rash gelegen, eingewickelt in ihr buntes Tuch, das Ashnekov ihr damals aus der Beute eines der Überfälle überlassen hatte. Nun richtete sie sich auf ihrer Kiste auf und blickte Rash alarmiert an. Und da war auch Trauer in ihrem Gesicht. Oder? Ein tiefer Kummer, behauptete Rashs innere Stimme. Hatte Kanta doch Verstorbene gekannt und verbarg es?

“Du liest mich gerade, wie ein Buch, oder? Geh!”, beschwerte sich Kanta.

Plötzlich fügte sich alles in ein mögliches Bild: Kanta war nervös gewesen, seit sie mitbekommen hatte, dass Ushenka an Bord kommen würde. Sie hatte es zu verbergen versucht. Während sie eigentlich viel mit der Crew interagierte, öffnete sie sich selten wirklich. Aber mit Rash war sie doch zu oft in persönliche Themen eingedrungen, als dass Rash die subtile Veränderung nicht bemerkt hätte, wie diese Nervosität und Scheu jetzt. Es hatte Rash Wochen gekostet, um die Nuancen zu erlernen. “Du kennst Ushenka und sie dich. Und du weißt, dass dir nichts Gutes blüht, wenn sie dich erkennt und es der Crew mitteilt.”

“Woher zum Schotbruch weißt du das?” Kanta wickelte sich enger in die Decke und nutzte den wenigen Platz zur Wand hin, um sich von Rash wegzubewegen.

“Ich weiß das nicht. Ich spreche nur für mich naheliegende Hypothesen aus.”, korrigierte Rash. “Und ich habe noch eine: Du hattest eine Beziehung mit Arym, dem Sprachwissenschaftler, der ermordet worden ist?”

Kanta musste ihn gekannt haben, wenn sie an der Universität so viel über Sprachen erlernt hatte, sowie über Rhetorik. Arym war führend in seinem Forschungsbereich gewesen und vielleicht fast so etwas wie das Statussymbol der minzteraner Universität. An mindestens oberflächlichem Kennen hätte für Kanta kein Weg vorbeigeführt, wenn sie sich mit entsprechenden Inhalten an der Universität befasst hatte. Wenn sie um eine Person trauerte, dann war am naheliegendsten, dass es sich um ihn handelte und dass sie ihn besser gekannt hatte als bloß oberflächlich.

Kanta nickte. Ihre Augen wurden feucht, aber sie riss sich wohl zusammen, um nicht zu weinen.

Es war ein guter Zeitpunkt gewesen, Kanta aufzusuchen. Rash hatte im Moment nicht so viel Raum neben der Wut und Verletztheit für Mitleid. Zu viel Mitleid hätte Rash im Moment wohl zu leicht dazu gebracht, alles zu verzeihen und sich ablenken zu lassen.

“Ich wollte das nicht.”, wisperte Kanta. “Aber wer würde mir das glauben? Wenn doch alle wissen, dass ich auch leicht vorspielen könnte, dass ich es nicht wollte?”

“Ich.”, sagte Rash ohne Zögern.

Kanta blickte erneut auf, dieses Mal weniger alarmiert, aber nicht minder überrascht.

“Natürlich wolltest du nicht, dass eine Person ermordet wird, die du liebst.”, erklärte Rash. Bemühte sich dabei, die Balance zwischen einfühlsam und sachlich zu treffen, die Kanta nicht zum Heulen bringen würde, aber ihr auch das Gefühl geben würde, ernst genommen zu werden.

“Woher weißt du, dass ich Arym liebe? Geliebt habe?”, fragte Kanta.

Eine berechtigte Frage. “Ich lese dich eben wie ein Buch.”, antwortete Rash bitter. “Eigentlich nicht. Dazu wärest du eh zu kodiert. Wie gesagt, ich stelle Hypothesen auf. Du wirkst auf mich, als bekümmert dich etwas sehr, und Arym war von den Verstorbenen die Person, die du am wahrscheinlichsten gut gekannt haben könntest. Das ist alles.”

“Gewagte Hypothese.” Kanta versuchte ein vorsichtiges Lächeln.

“Vielleicht, ja. Doch.”, sagte Rash. “Du hast schon recht. Im Nachhinein bin ich auch ein wenig überrascht, wie nahtlos das gepasst zu haben scheint.”

Kantas Hände strichen über das erbeutete Tuch, als würde sie frieren. “Ich muss wohl härter an meiner Kodierung arbeiten.”, ging sie auf Rashs Scherz ein.

Ein Scherz war es zwar gewesen, aber einer, der auch nicht von ungefähr kam. “Du kennst dich mit Kodierung aus?”, murmelte Rash.

Kanta hatte zwischendurch den Blick gesenkt, wie vorhin, und hob ihn nun ein drittes Mal, dieses Mal war es eine blanke Fassade.

Das hatte Rash bei ihr in persönlichen Gesprächen inzwischen oft erlebt. Es passierte meistens dann, wenn Kanta erwischt worden war. Manchmal ließ Rash dann Raum, überließ ihr die Wahl, ob sie doch reden wollte oder ausweichen. Aber jetzt unterbrach Rash sie, noch bevor sie versuchen konnte, das Thema zu wechseln. “Meine Schrift.”, sagte Rash. “Daher hatte ich Erinnerungen. Weil ich die Buchstaben geschrieben habe. Und du lediglich irgendwie weitergegeben hast, nach welchem Muster einzelne aus den Briefen abgepaust werden mussten. Du wusstest ja, welche Wörter ich geschrieben habe. Du musstest sie dafür gar nicht selber schreiben. Ist das so?”

Kanta senkte dieses Mal nicht den Blick, wirkte nachdenklich.

Rash stellte sich vor, wie Kanta berechnete, dass sie es nicht verbergen könnte, wenn es so wäre, weil ja nun mit Ushenka, die ein sagenhaftes Gedächtnis hatte, ein Wissen an Bord war, das nah genug an den Originalen war.

“Es war ein sehr einfacher Code.”, gab Kanta zu. “Immer der selbe. Hat mit Anfangsbuchstaben zu tun.”

Rash hatte die ganze Zeit gestanden, aber plötzlich verließ Rash die Kraft. Eine Anspannung fiel ab. Das Geheimnis der eigenen Schrift war gelöst. Rash setzte sich in einigem Abstand ihr gegenüber auf den Boden. “Warum?”

“Wenn ich es dir erzähle, erzählst du es direkt der Crew, richtig?”, fragte Kanta niedergeschlagen. Ohne Fassade.

“Das darfst du auch gern selbst tun.”, erwiderte Rash.

“Was würde das bringen?”, fragte Kanta. “Ihr werdet mich töten. Damit unterschriebe ich mein Todesurteil selbst.”

Rash erinnerte sich daran, dass Kanta recht müde des Lebens angeheuert hatte. Aber verkniff sich, sie zu erinnern, dass sie auch bereit gewesen war, ihr Todesurteil selbst zu unterschreiben, als sie versucht hatte, an Bord zu kommen. “Nein.”

“Ach, denk doch logisch!”, brauste Kanta auf. “Ja, klar, hier herrscht ein anderer Pazifismus vor als in der Bantine.” Die Bantine war die Elben-Nation, zu der Minzter gehörte. “Aber ich habe euer aller Leben riskiert und einige auf dem Gewissen. Da würde selbst eure Crew meinen Tod wollen. Und das ist auch nur gerecht.”

“Ist es das?”, fragte Rash. Vielleicht etwas spitz. “Ist es jemals gerecht eine Person zu töten? Und hast du wirklich eine Person auf dem Gewissen?”

“Die Briefe sind bei Amira gelandet.”, sagte Kanta. “Natürlich trage ich eine Mitverantwortung dafür.”

Rash fühlte sich nicht barmherzig, als Rash sagte: “Sehr wohl. Die will ich dir nicht absprechen.”

Kanta rang die Hände ineinander und saß kurz darauf wieder still da. Traurig. Den Blick wieder gesenkt. “Du hast gefragt, warum.”, erinnerte sie sich. “Ich bin in deren Haushalt ein- und ausgegangen. Weil ich mit Arym geschlafen habe zum Beispiel.” Kanta blickte einen kurzen Moment auf, aber Rashs Gesicht zeigte keine Regung. “Ushenka hat Geschichten über die Geisterflotte erzählt, aber ich kann gut lügen, wie du festgestellt hast, und ebenso gut erkenne ich Lügen. Ich war damals jung und lebensmüde, und Forschung war mir wichtig, gab mir Halt. Ich wollte das Geheimnis lüften, warum Ushenka so viele Märchen erzählte und habe nach und nach alles über sie aufgedeckt. Bis sie mich erwischt hat, als ich Briefe von der Schattenmuräne las, und dafür gesorgt hat, dass ich das Haus nie wieder betreten durfte.”

Rashs Körper fühlte sich so müde. Es war auf bizarre Art erleichternd, so etwas eigentlich Unbedeutendem zu lauschen, wie der wahren Geschichte von Kanta, in dieser Stimmung aus Trauer und Verlusten.

“Über Nixen und Ushenka habe ich nichts weiter herausfinden können. Mir blieb die Beziehung mit Arym, die ich in der Bibliothek fortgeführt habe. Bis es meiner Cousine auffiel und meine Welt komplett in Scherben lag.”, fuhr Kanta fort. “Mein Leben außerhalb deren Haushalts und ohne Arym war nie lebenswert gewesen. Ich musste weg.”

Rash realisierte, dass Kanta während des Redens über den Schal strich. Der Schal, der in einem Kartoffelsack gesteckt hatte. Wieso würde ein Schal in einem Kartoffelsack stecken? “Ist der Schal von Arym?”, fragte Rash.

Kanta blickte wieder überrascht oder alarmiert auf. Rash konnte die nicht gespielten Emotionen noch nicht so gut übersetzen. Was witzig war. Über die Fassaden hatte Rash nun gelernt, was dahintersteckte, aber über die nicht maskierten Gefühle wusste Rash es weniger genau.

Kanta schüttelte den Kopf. “Von Arwin.”, widersprach sie.

Arwin. Rash erinnerte sich an den Namen. Es war Kantas bester Freund gewesen. Sie hatte mehrfach erzählt, dass sie ihn sehr vermisste. Und dann hatte es plötzlich aufgehört, fiel Rash ein. Das hätte Rash auffallen können. “Ihr habt Austausch, seitdem der Schal an Bord ist?”

Kanta schüttelte wieder den Kopf. “Ich habe immer auf Austausch gehofft.”, sagte sie. “Aber er hat mir nur einmal diesen Schal geschickt.” Kanta seufzte tief, bevor sie eine Wahrheit aussprach, die sie nicht zwangsläufig hätte teilen müssen. “Mit einer Knotenbotschaft. Wir haben in der Universität gemeinsam eine Knotenschrift gelernt. Er schreibt in diesem Schal durch winzige Knötchen, die er hineingearbeitet hat, dass er mich mag, dass sie eine Person in Ushenkas Haushalt haben schmuggeln können, die aber nicht lesen kann, und welche Kodierung ich nutzen soll, wenn ich es einrichten kann, zu beeinflussen, was du schreibst.”

“Das ist gewagt. Wer hätte sich denken können, dass du mich beeinflussen darfst?”, fragte Rash.

“Das war alles nicht so klar.”, bestätigte Kanta. “Wir haben unzählige Alternativpläne ausgemacht. Was ich mache, wenn was jeweils geht oder nicht geht.”

“Aber du wolltest nicht selber schreiben.”, fiel Rash wieder ein.

“Die Kodierung und deine Schrift sollte mich eigentlich schützen, wenn etwas passieren sollte.”, sagte Kanta. “Vor allem wird eine Person, die selber nicht schreibt, auch weniger wahrscheinlich verdächtigt.”

Rash erinnerte sich an das Gespräch zurück, das Sindra mit Rash und Kanta gemeinsam gehabt hatte, nachdem sie sie einzeln verhört hatte. Weil Kanta interessante Ideen gehabt hatte und sie neugierig gewesen war, was sie gemeinsam herausfinden könnten. “Du hast Hinweise gegeben, die dich hätten gefährlich leicht verraten können.” Die Hinweise, dass eine Person die Buchstaben abpauste, waren von ihr gewesen.

“Weil ein Assassinan an Bord war, das den Brief mitgebracht hatte!”, fuhr Kanta auf. “Ich wollte nie, nie dass so etwas passiert. In meiner Forschungsgruppe war Töten nie das Ziel. Gefangennehmen, ja, aber eine Person an Bord zu schleusen, deren Auftrag es ist, zu töten, das wollte ich nicht.”

Rash nickte gelassen. “Vergleichen wir, wie Amira und du an Bord gekommen seid, hättet ihr auch ganz schön viel Geschick dazulernen müssen.”

“Nicht mehr ‘wir’.”, sagte Kanta. “Ich habe schon länger nicht mehr eigene Briefe in deine gemischt. Es kam nie Antwort. Ich habe das gemacht, weil ich Arwin liebe.” Sie ließ den Kopf hängen. “Ich war zu dem Zeitpunkt, als Sindra mich ausfragte, bereit, alles zu teilen, aber ich wollte auch nicht sterben. Ich habe also versucht, euch alle Hinweise zu geben, die ihr brauchen könnt, ohne mich zu verraten. Ich habe euch lieb gewonnen. Und ich fühle mich innerlich zerrissen. Weil ich so schlimme Dinge getan habe.”

Rash wusste nicht wie das passiert war, aber plötzlich berührte eine von Rashs Händen sanft Kantas Unterarm. Kanta blickte die Hand an, als wäre sie surreal. “Wenn du auf meinen Rat hören möchtest, dann gehst du jetzt zu Sindra und legst ihr alles dar. Alles, was du mir auch erzählt hast.”, sagte Rash. “Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders glücklich bin darüber, was du getan hast. Aber ich werde da sein und dich auffangen, wenn du es brauchst.” Rash hatte Kanta auch aufgefangen, als Arwin Anlass gewesen war. Anfangs.

Kanta legte für einen Moment die eigene Hand auf Rashs, dann stand sie auf. Nickte. “Ich mache das jetzt einfach.”, sagte sie. Einfach würde es bestimmt nicht werden. “Ich nutze deine Überzeugungskraft und tue es. Bevor ich es mir anders überlegen kann.” In der Tür drehte sie sich noch einmal um. “Danke, Rash.”

Rash blieb einen Moment ermattet hocken, seufzte lautlos und tief nur für sich selbst. Aber lange verharrte Rash nicht für sich allein. Es war sicher besser, wenn Rash mit nun dem vollen Überblick über die Lage in Kantas Nähe bliebe.


Kanta teilte Sindra zunächst alles allein in ihrer Kajüte mit, aber es wurde sich anschließend bis spät in die Nacht ernst mit verschiedenen Leuten darüber unterhalten. Mit Smjer zum Beispiel. Marah wurde immerhin nicht geweckt. Aber Ushenka und Kanta sprachen sich aus. Bei dem Gespräch wünschte sich Kanta, dass Rash dabei sein möge. Es war erleichternd und deshalb nicht weniger anstrengend.

Rash taumelte ganz zum Schluss den Niedergang hinab in Richtung der Kiste in der Nische, auf der Rash schlief, auch Koje genannt, aber als Rash sich näherte, lag etwas vor der Kiste auf dem Boden. Rash beugte sich hinab. Und ein Gefühl wie warmes, sehr flüssiges Öl rann durch Rashs Körper, so unvermittelt und stark, wie Rash gar nicht vermutet hätte, das Rash überhaupt hätte fühlen können, geschweige denn nach diesem Tag. Rashs Hals fühlte sich immer noch heiß und der Atem zittrig an, als Rash Amira vorsichtig an der Schulter berührte. “Amira?”, flüsterte Rash.

Amira richtete sich in der Dunkelheit auf. Wie konnte dieses Verliebtheitsgefühl und die Anziehung so unfassbar stark sein? Rash wünschte sich die eigenen Hände über Amiras Haut verteilt, die auslösten, dass ihre zarten Küsse nach mehr verlangten. Den leichten Druck ihrer Hände, der ausreichte, um Rash einen Platz zuzuweisen, einzufordern, wie Rash sie verwöhnen möge. Die zarten Geräusche, die ihr entwichen, unbewusst, unbeabsichtigt.

“Darf ich bei dir schlafen?”, flüsterte Amira.

Rash legte sich an die Rückwand auf die Kiste und öffnete die Arme.

“Aber nicht zu laut knutschen!”, kam Ashnes Stimme vom Nachbarbett.

Rash kicherte in den Kuss hinein, den Rash sehr weich und definitiv geräuscharm auf Amiras Stirn schmiegte. Das war, worum Rash die beiden damals gebeten hatte, als Janasz und Ashne zu kuscheln angefangen hatte.

Rashs Arme schlossen sich um Amiras Körper. In Rashs Kopf bildete sich ein weiteres Mal diese Frage, die Rash vorhin Kanta gestellt hatte, aber dieses Mal sprach Rash sie nicht aus: Warum?