Sindra ist die Kapitänin der Flotte der Maare. Sie ist sehr groß.
Content Notes:
Grusel, Selbstkritik.
Unheimlichkeiten
Sindra
Sindra legte die Briefe in die Flüssigkeit, die die wasserfeste Tinte von den Seiten fraß. Die schwarze Farbe bildete wunderschöne Gewitterschlieren in der noch klaren Flüssigkeit. Sindra bewegte das wasserbeständige Papier zunächst nur vorsichtig, um die umherwirbelnde Farbe nicht gleich so mit der Flüssigkeit zu vermischen, dass die hübschen Muster verschwammen. Aber irgendwann musste sie es doch tun, damit auch keine Tinte zurückbliebe.
Es war wasserfeste Tinte auf Papier aus einer bestimmten Algenbasis. Sindra kannte inzwischen etwa vierzig Namen verschiedener Algensorten auf Siren, von denen aber in besagter Sprache viel weniger der Pflanzen die sirensche Vokabel für ‘Alge’ enthielten. So ähnlich, wie in den verschiedenen Landsprachen zwar viele Blumen tatsächlich auch Blumen hießen, aber eben nicht alle.
Jentel hatte darüber mal einen Vortrag gehalten. Darüber, dass es im Sirenschen umgekehrt war. Zum Beispiel hießen Tulpen wörtlich aus Siren übersetzt Glattblume und Rosen Duftblume. Sindra verstand Jentels Faszinantion für dieses Thema sehr gut. Sie übte Siren täglich und Marah nannte Sindras Siren inzwischen brauchbar.
Sindra wischte das blassgelbe Papier mit einem Handtuch ab und hängte es zum weiteren Trocknen auf, sodass das Papier hinterher wiederverwendet werden konnte. Die Inhalte der Briefe informierten sie über die Routen der Forschungsschiffe und zugehörige Politik an Land, und wurden vor der Löschung von drei Crewmitgliedern gelesen und verinnerlicht: Von Smjer, der das Vize-Kommando hatte, von Marah und von ihr. Marah gehörte zum Projekt, seit sie ein Kind gewesen war. Sie war, mehr noch als alle anderen hier, gefühlt auf dem Meer groß geworden. Marah segelte ein kleines, eigenes Segelboot zwischen den Schiffen der Flotte hin und her, als wäre es eine Erweiterung ihres Körpers. Es war eigentlich kein Platz für eine weitere Person auf der Jolle, aber sie hatte Sindra trotzdem manchmal mitgenommen. Zum Beispiel auf die kleine Insel nahe der Küchengärten hinüber, in deren Nähe sie gerade wieder einmal ankerten. Marah hatte auch versucht, ihr die Gärten zu zeigen. Es waren Gärten unter Wasser, in denen einige Nixen, die zur Crew der Flotte gehörten, Lebensmittel für sich anbauten, die dann geerntet und an Bord gebracht wurden. Marah mochte die Gärten. Fische und Garnelen hausten zwischen verschiedenen Sorten von Tang, Gräsern, Getreide, Fruchtranken und Polypengewächsen. Das Meer bot so eine Fülle an Lebensmitteln, die an Land größtenteils unbekannt waren. Zumindest, wenn Sindra den anderen Crewmitgliedern glaubte. Sie hatte ihre Zeit an Land weder in glücklicher noch in sonderlich detaillierter Erinnerung. Sie konnte gut darauf verzichten. Wenn sie aus der Kapitänskajüte trat, der Wind versuchte, an ihrem langen, braunen Zopf zu zerren, das Schiff über die Wellen schnitt und das Salz über das Deck flog, wenn sie sich darüber bewusst wurde, dass eine bisher so sehr abgelehnte Person wie sie nun akzeptiert genug war, dass ihr das Kommando einer ganzen Flotte in die Hand gelegt worden war, durchströmte sie ein Gefühl von Sein, von Präsenz, von einer Verantwortung, die sie gern trug, und von so etwas wie Liebe. Als könnte sie all jenes ein wenig umschließen und hüten.
Trotzdem kannte Sindra die Gärten mehr aus der Beschreibung, als dass sie sie selbst hätte sehen können. Sie war mit Marah getaucht. Sie konnte nicht selbst lange genug tauchen, weil sie mehr Luft brauchte als Nixen. In dem Zusammenhang hatte sie Marah das erste Mal geküsst. Es war sachlich geplant gewesen: Dass Marah einfach mit viel Luft tauchen und Sindra dabei schleppen würde, weil das schneller ging, als wenn Sindra selbst schwamm, und sie Sindra dann, sobald jene es brauchen würde, einmal die gespeicherte Luft spenden würde. Sie hatten den Austausch im flachen Wasser geübt. Es war dabei nicht, wie eben eigentlich geplant, sachlich geblieben. Es war nicht unbedingt das Küssen gewesen, aber es war ihnen einfach unmöglich gewesen, diese körperliche Nähe zu erleben, ohne sich dabei einzugestehen, dass der ganze Plan von vornherein eigentlich nicht ein “Komm, ich möchte dir irgendwelche interessanten Gärten zeigen.” war, sondern eher ein “Ich möchte dir einen persönlichen Teil von mir zeigen.”. Marah hatte sich zuvor schon in Sindra verliebt, ein wenig zumindest. Bei der Aktion war der Funke übergesprungen und Sindra hatte so sehr gefühlt, wie noch nie zuvor.
Es war nicht schlimm, dass Sindra die Gärten am Ende dann kaum hatte erkennen können. Sie probierten es immer wieder, mit mehr Tricks. Erst war es der Druck auf den Ohren gewesen, der für Sindra in der Stärke unerwartet gewesen war. Nun wusste Sindra, wie ein Druckausgleich ging, aber es war zu dunkel. Sie hatten also Leuchtpflanzen ausprobiert, aber diese beleuchteten auch immer nur einen kleinen Teil der Gärten. Das Gesamtbild, wie Marah es sah und beschrieb, ergab sich nicht.
Nach den Tauchgängen hatten sie sich auf die Insel zurückgezogen und sich gegenseitig erforscht, nicht nur körperlich, was nicht weniger anspruchsvoll gewesen war. So forsch Marah oft nach außen wirkte, in ihrem Inneren sah das ganz anders aus. Sie hatte Schwierigkeiten, über ihre Bedürfnisse zu reden, und das besonders, wenn sie dabei gerade viel fühlte. Sie tasteten sich nun schon seit einigen Jahren aneinander heran und es gab immer noch so viel, was nicht erforscht war. Sie hatten Zeit. Vielleicht würde sich in ihrer Auszeit hier vor Anker wieder eine Gelegenheit ergeben.
Es klopfte an die Tür. Kurz fragte Sindra sich, ob es Marah wäre, aber Marah klopfte anders. Tiefer an der Tür – Marah war sehr klein und stand nicht auf Beinen –, und weniger zurückhaltend. Vielleicht war es eine Person, die gerade besonders unsicher war oder selten klopfte. Oder beides. Oder beides nicht.
“Einen Moment!”, rief Sindra zur geschlossenen Tür und hängte zunächst das Papier wieder ab. Sie wischte außerdem die zwei Tropfen von der Platte darunter. Sindra achtete sehr genau darauf, welche Spuren in der Kapitänskajüte sichtbar wären, wenn eine Person sie betrat.
Als sie sich sicher war, dass der Raum den richtigen Eindruck machen würde, öffnete sie die Tür. Es war Janasz. Janasz besuchte sie in der Tat selten. “Was kann ich für dich tun?”, fragte Sindra, die Tür so weit öffnend, dass Janasz es als Einladung auffasste.
Der Zwerg trat ein, schloss die Tür hinter sich und blieb unschlüssig oder unsicher stehen, blickte sich um. Sindra hätte ihm gern einen Tee angeboten, aber der aktuelle Aufguss war inzwischen kalt und sie hatte gerade kein neues Wasser da. “Möchtest du dich setzen?”, fragte sie.
Janasz kam der Einladung nach und nahm auf einem der Stühle Platz. Sindra setzte sich ihm gegenüber auf den anderen Stuhl in einen Schneidersitz. Die Stühle waren vielleicht die losesten Möbel an Bord.
“Moin.”, sagte Janasz mit eher dünner Stimme.
Janasz war keine übermäßig selbstbewusste Person, aber dieser Ausdruck seiner Stimme und Körperhaltung kam Sindra auch für ihn ungewöhnlich unsicher vor. “Du hast Angst.” Sindra hatte ihre Deutung ungeplant ausgesprochen, zu überrascht über ihre eigene Eingebung. Sie war eigentlich wirklich nicht gut darin, Emotionen von Leuten zu erraten, die ihr nicht sehr nahe standen. Und sie lag, selbst wenn sie Ideen hatte, oft genug falsch. “Entschuldige. Hast du überhaupt Angst?”
Selbst mit der Korrektur war es vielleicht keine so gute Idee gewesen, das laut auszusprechen. Janasz wirkte darüber eher entgeistert oder zumindest noch ängstlicher. Trotzdem nickte er.
Sindra dachte über eine gute Strategie nach, zu handeln oder etwas zu sagen, das ihm Sicherheit geben könnte. “Ich werte das nicht. Es ist in Ordnung, Angst zu haben.”, sagte sie sanft. Und dann stellte sie ihm einfach die Frage, die sie sich selbst versuchte, zu beantworten. “Kann ich etwas tun, damit du dich wohler fühlst?”
“Ich”, Janasz stockte und schloss die Augen. “Ja. Schon. Können wir in alle Schränke schauen und dann sehr leise reden?” Sindra sah förmlich den Schweiß, der ihm ausbrach. “Mich gehen deine Schränke nichts an.”, fügte er hinzu.
Sindra warf einen Blick auf den hohen Schrank an der Seite. Ja, darin könnte eine Person versteckt sein und lauschen. Sie war nicht sicher, ob Janasz darauf hinauswollte, aber stimmte ohne weiteres Zögern oder Abklären zu. “Vertraust du mir genug, dass ich überall nachschaue, während du dir die Augen zuhältst?”, fragte sie.
Janasz nickte und kam der Bitte sofort nach. Sindra ging durch die Kajüte, betrachtete alles noch genauer als sonst und blickte nicht nur in den Schrank, sondern auch in die wenigen verschließbaren Schubladen und Fächer. Sie tat es nicht hektisch. Sie fand nichts anders vor, als sie es zurückgelassen hatte. Aber nun im Nachhinein ordnete sie eine Erinnerung von gestern anders ein: Die Blende der Schublade, die am meisten ins Sichtfeld Besuchender fiel, war schon immer etwas lose gewesen. Nach dem Zuschieben war die Ritze unter der Kante, unter der sie war, auf einer Seite ein wenig schmaler als auf der anderen. Sindra richtete es eigentlich jedes Mal, nachdem sie sie zugeschoben hatte. Es war ihr gestern aufgefallen, dass der Spalt asymmetrisch gewesen war, aber sie hatte vermutet, dass sie das Geraderichten eben doch mal vergessen hatte, als sie für Rash in Eile etwas daraus hervorgeholt hatte.
Sie verschob ihren Stuhl um den Tisch herum und setzte sich wieder, sodass sie näher bei Janasz sein würde. Sie tat dies nicht ganz leise, damit er sich nicht erschrecken würde. “Es ist niemand hier in der Kajüte außer uns.”, sagte sie leise. “Aber es ist gut möglich, dass eine Person an Bord, die spioniert oder so etwas. Du darfst die Augen wieder aufmachen.” Sindra hatte sich gefragt, ob sie Janasz die Überlegung wirklich hätte bereits mitteilen sollen. Aber sie glaubte, dass es für Janasz hilfreich wäre, nun ernst genommen zu werden. Dass er dann leichter sagen würde, warum er hier wäre.
Janasz nahm die Hände von den Augen und blickte auf. “Ich hatte nach dem Kochen wie immer das Essen direkt in Schalen umgefüllt.”, berichtete er leise. “Dann habe ich mich umgezogen und gewaschen, auch wie immer nach dem Kochen, und habe die Schalen verteilt. Und Smjer hat sich dann bei mir beschwert. Er hat ja die Galnussunverträglichkeit. Und ich bin mir absolut sicher, dass ich sie nicht in seine Schale gerieben habe. Ich achte sehr auf so etwas. Das muss jemand gemacht haben, während ich weg war. Anders kann ich mir das im Moment nicht erklären.”
Sindra nickte. “Danke, dass du mir darüber berichtest.”, sagte sie. “Wie schlimm wäre es? Hat Smjer rechtzeitig zu essen aufgehört und es hätte ihn töten können?”
Janasz schluckte. “Eigentlich hätte ihn die Menge, die ich in die anderen Schalen gerieben habe, zumindest sehr viel mehr mitnehmen müssen, als die Dosis, die hineingeraten ist, dann verursacht hat.”, sagte er nachdenklich.
“Das ist interessant.” Sindras Blick huschte abermals über die Schubladen. Dachte Janasz, dass sie hier vielleicht Galnuss lagerte? “Warum wolltest du, dass ich durch die Schränke und Schubladen sehe?”
Auch Janaszs Blick wanderte über die Schubladen und er runzelte die Stirn. “Die Schränke hätten wohl gereicht. Ich hatte Angst, dass jemand lauscht. Es tut mir leid, das war unnötig.”
“Es war keine Kritik, ich sammele nur Information.” Sindra lehnte sich zurück und dachte nach. Es gab so viele Möglichkeiten und keine ergab so richtig Sinn. “Hast du einen Verdacht oder eine Idee?”
Janasz schüttelte den Kopf. “Eigentlich nicht.”
“Eigentlich?”, fragte Sindra.
“Rash weiß über die ganzen Kochdinge Bescheid.”, sagte Janasz zögerlich. “Ich habe Rash nie für irgendetwas verdächtigt. Es ergibt auch keinen Sinn. Rash ist schon so lange an Bord. Aber Smjer hat mir damals eigentlich gesagt, niemand solle von der Unverträglichkeit etwas erfahren. Ich habe ihn nun gefragt, ob ich dir davon erzählen darf, und er hat zugestimmt. Und Rash hat es eben mal mitbekommen. Sonst weiß davon niemand.”
“Weiß Smjer, dass Rash davon weiß?”, fragte Sindra.
Janasz nickte. “Ich habe es ihm heute auch gestanden.”
Sindra betrachtete ihn nachdenklich. Er machte immer noch keinen entlasteteren Eindruck. “Kann ich etwas tun, damit es dir besser geht? Hast du weiterhin Angst?”
“Mir geht es nicht gut und ich habe Angst, weil ich mir Vorwürfe mache deswegen.” Janasz blickte zu Boden. “Vor allem deshalb.”, korrigierte er und verknotete dabei die Hände ineinander. “Aber auch, weil ich Angst habe, dass jemand Smjer töten möchte. Oder andere.”
“Mach dir wegen der ersten Sache keine Sorgen.”, beruhigte Sindra. “Es ist natürlich nicht in Ordnung, dass du Rash davon mitbekommen lassen hast. Aber es ist nun mal passiert. Du warst ehrlich darüber.”
Sindra rechnete nicht damit, dass sie die richtigen Worte gefunden hatte. Vielleicht wäre für Janasz hilfreich gewesen, hätte sie behauptet, es wäre kein Fehler gewesen. Aber das war es nunmal, wenn auch sie glaubte, dass er vertretbar und unbedenklich war. Die Gradwanderung zwischen Ehrlichkeit und aufbauender Bestätigung, die sie aber oft für unehrlich hielt, forderte sie in Konversationen nicht selten zu sehr heraus. Sie überlegte einen Moment, ob sie ihre Einschätzungen über die Unbedenklichkeit mitteilen sollte und tat es dann nicht, weil sie nicht sicher war, inwiefern sie durch ihr Vertrauen in Rash eingefärbt waren.
Und doch: Als Janasz wieder aufblickte, wirkte er immer noch nicht glücklich, aber vielleicht doch ein wenig erleichtert. “Was machen wir jetzt?”
Sindra war keine Person, die, solange es nicht nötig war, Strategien spontan plante. Sie durchdachte alles lieber. “Eigentlich vermute ich einen relativ harmlosen Hintergrund für das Ganze, denn hätte jemand einen Anschlag auf Smjer geplant, dann vermutlich mit etwas, was zielführender ist, als Auslösen einer Reaktion auf eine Unverträglichkeit. Merkwürdig ist es aber schon.” Sindra unterdrückte den Reflex nach ihrer leeren Teetasse zu greifen. “Nehmen wir trotzdem einmal das Szenario an, es gäbe ein oder mehrere Personen, die Smjer etwas antun möchten. Und sagen wir, diese haben vermutet, dass es mehr als eine Unverträglichkeit wäre, dass es tödliche Folgen haben würde. Und sagen wir, dieses Gespräch wird nicht belauscht, was wir sicher zu stellen versucht haben. Dann kann ein weiterer Vergiftungsversuch über Essen stattfinden. Wenn du aber jetzt auf einmal anfängst, dich nicht mehr nach dem Essenaufteilen erst zu waschen und umzuziehen, sondern bei den Schalen bleibst, fällt das auf. Auch, wenn eine Person sie bewacht, die sich sonst nie in der Nähe der Kombüse aufhält. Damit fällt Smjer wohl auch raus. Es sei denn, wir beschädigen dort etwas, was er dann reparieren muss. Ich mache mir Gedanken mit ihm.”
Sindra runzelte nachdenklich die Stirn. Vielleicht wäre das auch zu verdächtig, wenn ausgerechnet das potenzielle Ziel des potenziellen Anschlags am möglichen Tatort wäre. Vielleicht machte sie sich aber auch zu viele Gedanken. Sie hatte den Eindruck, dass sie an der falschen Baustelle arbeiteten.
“Es sollte, denke ich, eine Person bei den Schalen bleiben, der du absolut vertraust. Nur für den Fall der Fälle. Klingt es für dich machbar, zusammen mit Ashnekov eine Ausrede zu finden, warum er zufällig in der Nähe der Schalen sein muss, während du dich wäschst und umziehst?”
Janasz nickte. “Das traue ich mir zu.” Dann runzelte er die Stirn. “Oder Ashne. Ashne traue ich das zu. Er würde es auch tun und eine überzeugende Ausrede finden, ohne dass ich ihm erkläre, warum.”
Sindra lächelte ein wenig, als sie unter Janaszs Fassade ein wenig Glückseligkeit erkannte. Ashne und Janasz waren als politische Geflüchtete zusammen an Bord gekommen. Zu dem Zeitpunkt war ihre Beziehung noch sehr jung gewesen. Es war schön zu beobachten, wie sie sich von Tag zu Tag noch vertiefte und sie allmählich an Angst verloren. Dass Janasz heute zu ihr gekommen war, war ein schönes Zeichen.
“Ich werde versuchen, beim Schnack mit dem Rest der Crew ein paar passende Fragen unterzubringen, aufmerksam zuhören und beobachten, um mir einen Reim darauf zu bilden.”, versprach Sindra. “Hast du ein weiteres Anliegen oder möchtest du etwas ergänzen?”
Als Sindra sich am Abend zu Marah ins Segelboot quetschte, fragte sie sich, ob sie eigentlich besser an Bord hätte bleiben sollen. Aber dann wiederum vertraute sie Smjer, der das Kommando dann übernahm, hatte ihm alles weitergegeben, hatte mit einigen an Bord gesprochen und war sich relativ sicher, nicht viel mehr tun zu können. Auszeiten waren wichtig, hatte Marah erklärt. Wenn es nicht gerade wörtlich brannte oder so etwas, dann brauchte auch Sindra Erholung.
Und eine Person zum Reden, bei der sich Sindra sicher fühlte.
Marah umrundete die halbe Insel und schoss gegen den Wind auf, dass die Segel flatterten, dann rutschte sie von Bord.
“Schauen wir nicht zuerst die Gärten an?”, fragte Sindra.
“Du hast was auf dem Herzen.”, widersprach Marah mit einem Grinsen. “Du meintest zumindest vorhin, du möchtest mit mir reden. Mir schien das wichtiger. War das voreilig?”
Sindra schüttelte den Kopf. “Das habe ich wohl. Du hast recht.”
Marahs Formulierung berührte sie heute besonders. Sie bedeutete, dass Marah davon überzeugt war, dass Sindra ein Herz hatte, auf dem etwas liegen konnte. Das fühlte sich warm an.
Marah hielt die Jolle mit aller Muskelanstrengung, die sie aufbringen konnte, als Sindra ausstieg, damit die Jolle dabei nicht umkippte. Sie hatten es inzwischen so oft geübt. Anfangs waren sie häufig dabei gekentert, aber inzwischen passierte es nur noch selten. Sindra zog die leichte Jolle das Ufer hinauf. Es war weich und von einer feuchten Moos-Algen-Mischung überwuchert. Marah robbte neben ihr an Land und holte das Segel ein. Anschließend legten sie sich nebeneinander auf das Grün. Es roch nach Muscheln und Seetang. Sie beide liebten den Geruch.
Sindra berichtete Marah vom Gespräch mit Janasz und der Entdeckung mit der Schublade. Marah hörte nachdenklich zu.
“Die meisten an Bord wissen, dass du in der Schublade keine geheimen Sachen lagerst.”, sagte Marah schließlich. “Vielleicht hilft das als Ausschlussverfahren, um nur diejenigen zu verdächtigen, die es nicht wissen.”
Das stimmte nur bedingt. Es waren zumindest keine geheimen Sachen, die für die Überfälle oder im politischen Kontext interessant gewesen wären. “Ich verstecke manchmal Gegenstände darin, die in Spielen mit Rash zum Einsatz kommen.” Sie ging nicht ins Detail. Marah gingen Rashs Fantasien nichts an.
Marah nickte bloß. “Ich mag Rash schon ein wenig.”, sagte sie. “Aber Rash gehört im Prinzip auch zum Fußvolk. Rashs Herkunftsvolk gehört zu den Unterdrückungsmächten. Ich traue Rash nicht, und ich frage mich manchmal, ob das nur daran liegt, dass ich mich bei Elben schwertue, oder ob Rash auch was verbirgt. Außerhalb irgendwelcher Spiele.”
Sindra sah nicht, wieso es mehr Sinn ergeben würde, Rash zu verdächtigen, als irgendwen sonst. Sie verstand Marahs Abwehr gegen Elben, zumindest jenen, die zu tyrannisierenden Landvölkern gehörten, und hoffte, dass sie nicht von einem für Marah gerade wichtigem Thema ablenkte, wenn sie dem Gespräch nun die Wendung gab, die sie brauchte. “Warum traust du mir?”, fragte Sindra.
Marah blickte sie geradezu entgeistert an. “Warum zur Rochade sollte ich dir nicht trauen? Du gehörst doch eigentlich sogar zu einem gejagten Volk. Oder?”
Sindra zuckte und sagte nichts, blendete für einen Moment alles aus.
Marah merkte vielleicht, dass etwas nicht stimmte. Sie ging nicht weiter darauf ein und wirkte mit einem Mal nachdenklich. “Das ist, was dich am Gespräch mit Janasz eigentlich wieder belastet, oder? Dass du glaubst, du würdest dich nicht vertrauenswürdig verhalten.”
Sindra nickte. “Ich habe gesagt: Ich versuche mir einen Reim darauf zu bilden.”, gab sie wieder. “Ist das eine angemessene Redewendung? Wenn es darum geht, dass eine Person umgebracht hätte werden können, oder dass das noch passieren könnte?”
“Und du fühlst auch wieder weder Horror noch Angst.”, ergänzte Marah.
“Kein bisschen.”, stimmte Sindra zu. Sie zögerte nicht einmal mehr, wenn sie es Marah gegenüber zugab. “Es fügt sich auch nicht zu einem Bild. Es könnte sein, dass etwas Merkwürdiges an Bord vor sich geht, und es ist gut, dass wir Ungereimtheiten früh sehen, selbst wenn sie sich als harmlos herausstellen. Aber ich fühle Neugierde, vielleicht Skepsis. Angst oder Horror? Keine Spur.”
Marah strich ihr mit ihren kleinen Händen über die Wange. “Irgendwann solltest du dich mal mit Jentel unterhalten.”, sagte sie. “As ist ein bisschen, wenigstens ein bisschen genau so. Dann bist du nicht so allein.”
“Ich bin nicht allein.”, sagte Sindra sanft. Strich mit einem Daumen über die Hand an ihrer Wange. Ein Daumen, der den ganzen Handteller ausgefüllt hätte. “Ich habe dich.”
“Aber ich fühle Angst und all das.”, sagte Marah. “Das ist unwichtig, dass wir da unterschiedlich sind. Ich traue dir. Du hast Gefühle. Sie sind halt nur anders als bei den meisten anderen. Das macht dich nicht zu einer schlechten Person.”
“Warum nicht?”, fragte Sindra.
“Warum sollte es?”, fragte Marah. “Du bist doch sonst so logisch. Warum solltest du dahingehend normal sein müssen, wenn doch alles, was du tust und entscheidest, Bände für dich spricht. Wem nützten die Horrorgefühle oder die Trauer, die du nicht fühlst?”
Sindras Daumen auf Marahs Hand wurde sanfter. Sie antwortete nicht. Es war auch nicht nötig.
Marah hatte recht und trotzdem war es ein komplexes Thema. Trotzdem war da die Angst, dass Janasz sie nun für herzlos halten könnte. Weil sie so sachlich und mit zu lockeren Worten über ein Thema sprach, in dem es um Lebensgefährdung ging. “Kannst du dir auf die Sache mit der Galnuss einen Reim machen?”
“Es ist schon einmal passiert, aber nicht mit Galnuss und nicht bei Smjer und nicht so dramatisch.”, sagte Marah. “Als Aga frisch an Bord war, hatte Janasz die Ziege vergessen. Rash hat dann von der Speise, die es an dem Tag gab, jeder Person einen Löffel stibitzt und in eine Extraschale getan und diese der Ziege gebracht.”
“Hat Aga das vertragen?”, fragte Sindra grinsend.
“Ja, an dem Tag gab es einen Gemüseeintopf mit karamellisierter Zwiebel. Das fand Aga ganz gut.”, berichtete Marah weiter. “Ich vertrage aber nicht so gut zu rohe Zwiebel. Also, ich vertrage sie schon, aber ich habe nach dem Essen den ganzen Tag einen unangenehmen Geschmack im Mund. Daher hatte Janasz da für mich besonders drauf Rücksicht genommen, und die hinterher hinzugefügten karamellisierten Zwiebeln für mich extra lange durchgaren lassen. Jedenfalls ist Rash beim Umfüllen eine von den Zwiebeln der anderen Schalen in meine geraten. Rash hat das aufgeklärt und sich entschuldigt, keine weiteren schlimmen Folgen. Seitdem kümmert sich Janasz auch noch um das Zubereiten einer Mahlzeit für Aga. Eigentlich hatte Rash damit entlasten wollen. Janasz arbeitet zu viel.”
“Oh.”, machte Sindra. Es waren viele Informationen auf einmal, aber die letzte blieb ihr am präsentesten. “Können wir Aufgaben besser verteilen? Ich dachte, Kanta würde ihm jetzt helfen.”
“Aber zuvor hatte heimlich Rash für ihn die Arbeit erledigt, die Kanta jetzt macht.”, sagte Marah. “Sie wollten das nicht sagen, weil es gegen deine Aufteilung war, und ich hätte davon nicht wissen sollen. Es ist nur wegen des einen Zwiebelrings damals rausgekommen. Ich glaube, es wäre besser, wenn du sie momentan noch eine Weile so weitermachen lässt, und dich später erst um das Überlastungsproblem kümmerst. Es ist, wenn gerade keine Überfälle anstehen, auch nicht so schrecklich schlimm.”
Sindra erschloss sich der Vorschlag noch nicht so ganz, warum es Sinn ergeben würde, abzuwarten, wenn ein Crewmitglied überlastet war. Vielleicht konnte die Überlastung sogar auch ein Grund für die Sache mit der Galnuss sein. Auf der anderen Seite war sich Janasz wirklich sicher gewesen, aufgepasst zu haben. Es war müßig, zu grübeln. Es gab noch zu wenig Daten für eine Schlussfolgerung.
Sindra beließ es trotzdem dabei. Sie hatte den Eindruck, dass Marah einfach noch ein paar weitere Details wusste, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Also nickte sie. “Sag mir gern Bescheid, wenn ich etwas anordern soll.”
Marah nickte. “Jedenfalls fiele mir zwar kein Grund ein, warum Rash oder irgendwer sonst wieder von allen einen Löffel in eine Extra-Schale umgefüllt haben sollte, aber wenn die Dosis so klein war, dass sie fast nichts ausgelöst hat, dann könnte es wieder auf die gleiche Art passiert sein.”
Sindra drehte sich auf den Rücken und legte die Arme nachdenklich unter den Kopf. Das waren spannende Gedanken, aber ihr Gehirn brauchte eine Pause, um das alles zu sortieren. “Ich habe dich sehr gern.”
“Ich dich auch.”, sagte Marah. “Ganz furchtbar gern. Ganz entsetzlich gern. So unfassbar gern.”
Sindra konnte nicht anders, als über das ganze Gesicht zu grinsen.