Amira war einst ein Assassinan mit dem Auftrag, die Kapitänin zu töten.

Content Notes:

Rassismus, Tod, Trauma, Betäubung, Nadeln, Messer.


Aussichten

Amira

Die Lage war aussichtslos. Amira hatte es zu spät bemerkt. Sie hätte andernfalls zum Rückzug aufgefordert, in der Hoffnung, dass die anderen auf sie hören würden. Kantas Pläne hatten sich brauchbar realistisch angehört. Aber nun standen sie in der Eingangshalle der Kramelin und Amiras Blick streifte über die Menge der Wachen. Viel mehr, als die Zarin je um sich versammelt hatte, wenn den Aussagen Glauben geschenkt werden konnte, die Ushenka im Vorfeld eingeholt hatte. Dazu sagten die Haltungen der Wachen aus, dass sie tatsächlich nicht nur zum Einschüchtern da waren, sondern wussten, wie gezielt Gewalt angewandt werden konnte. Amira konnte Personen das ansehen. Sie hätte Janasz von der Wache, die Janasz vertrat, unterscheiden können, ohne Janasz zu kennen. Und das konnten auch einige der Wachen in der Halle, in die Janasz sie nun führte. Sie sah die Skepsis in ihren Blicken.

Amira gehörte nicht zu der Gruppe. Sie bewegte sich um Säulen, von denen es einige gab, synchron zu den Bewegungen der Wachen und geschützt vor den Blicken selbiger, weil sie ihren Ort im Schatten der Gruppe wechselte, so selbstverständlich, als gehörte sie hier her.

Sie hörten Sindras Stimme. Amira wusste nicht, wie viele Mitglieder der Crew der Maare wie sie wahrnehmen konnten, wie sehr die Kapitänin litt. Amira fühlte nichts. Sie war noch nie einen so langen Zeitraum am Stück nicht in diesem Geisteszustand gewesen, aber nun war er wieder da und saß, wie eine zweite Haut. Dem Geisteszustand, in dem ein Teil von ihr abgekoppelt war. Der, der fühlte. Ihr Kopf war klar, wusste, wo die Ausgänge waren, war wachsam für alles, und wusste, wie aussichtslos die Lage war. Es sei denn, sie tötete.

Amira war als erstes im anderen Teil der Halle, wo Marah hing. Die Gruppe, wie sie es abgesprochen hatten, würde sich nun etwas ausbreiten, als wären sie einfach neugierig und unsicher. Auf diese Weise wären sie eine größere Herausforderung für die Wachen. Aber es waren einfach zu viele. Angesichts der Tatsache, dass die einzige Person, die sie dabei hatten, die mit den Blasrohren gut umgehen konnte, Janasz war. Yanil von der Schollencrew, der es auch konnte, war Ork. Es gab keine Möglichkeit, einen Ork unauffällig in die Kramelin zu bringen. Das hätte für Aufregung gesorgt. Orks waren, ähnlich wie Riesen, ein gejagtes Volk. Also wartete Yanil bei den Nixen.

Amira brauchte sich nicht umzublicken, um zu wissen, dass Rash die Person war, die sich ihr von hinten – wie sich zufällig verirrend – näherte.

“Aussichtslos.”, flüsterte sie.

“Flucht?”, fragte Rashs Stimme direkt in ihr Ohr.

Sie schüttelte den Kopf.

“Dann leite ich Angriff ein.”, murmelte Rash. “Ich halte die Folter kaum aus.”

Amira nickte. “Ich auch nicht.” Plötzlich hatte sie ein Messer in der Hand. Und wenn sie alle sterben würden, Marah würde es nicht an einem Seil hängend tun.

Rash Lippen streiften ihren Hals, ohne zu küssen. Das Gefühl, das es in Amira auslöste, war nicht kontrollierbar und so stark, dass ihr ganzer Körper erzitterte. Sie mochte es. Sie wollte es. Aber nicht hier, nicht jetzt. “Rot.”

“Es tut mir leid.”, flüsterte Rash. Und weg war Rash.

Amira blickte sich um. Atmete. Nun wünschte sie sich, nicht ‘rot’ gesagt zu haben. Es kam ihr abweisend vor. Rash hatte vielleicht ein schlechtes Gewissen. Das war kein gutes Gefühl, um in den Tod zu gehen, falls das passieren würde. Amira schloss einen Moment die Augen, atmete, und sperrte all die Gefühle wieder aus. Sie liebte Rash gerade nicht. Und das war gut. Das Messer lag sicher in ihrer Hand. Sie blickte sich um und der Alternativbaum aller Möglichkeiten erstreckte sich in ihrem Verstand. Was tun, wenn dieses passierte, und was, wenn jenes passierte. Und von dort aus Verzweigungen und Verästelungen an Plänen. Wie ein riesiges Slik-Spiel. Nur mit Personen statt mit Figuren.

Rashs Stimme erscholl durch den Raum: “Die Welt ist voller Monsterherrschenden! Aber Sindra ist keine davon!”

Amira hatte Rash noch nie so voller Wut schreien gehört. Rash hätte vielleicht auch Amira damit eingeschüchtert, hätte sie ihre Gefühle nicht weggesperrt. Die Zarin hingegen wirkte ängstlich.

Amira nahm den ersten Zweig ihres Plans. “Bist du in der Lage, Marah aufzufangen?”, fragte sie Sindra in kontrollierter Lautstärke, in ihrer Sprache, Salvenit. Eine Sprache, die voraussichtlich nur Sindra außer ihr verstehen würde. Zu ihrer Überraschung sah die Zarin neben Sindra allerdings doch verstehend aus. Na gut, dann verstand sie also auch Salvenit. In diesem Moment war es gut, denn es lenkte sie von Sindra so sehr ab, dass sie Sindra nicht nicken sah. Amira schleuderte das Messer in dem Moment, als Sindra unter Marah trat. Sie nahm sich nicht die Zeit, zu beobachten, wie Marah fiel. Sie hielt bereits ein neues Messer in der Hand, als sie in dem Moment aus dem Sichtfeld der Zarin huschte, als diese sich wieder der Ex-Kapitänin zuwandte.

Amira konnte all die Emotionen der Zarin lesen. Die Verwirrung, als sie wieder zurückblickte, wohin Amira verschwunden sein könnte. Und den Horror, den sie zuvor gefühlt hatte, als sie Amira entdeckt und verstanden hatte. Amira machte ihr Angst, und zwar viel mehr Angst, als für Leute üblich, die ein Assassinan erblickten und sich darüber bewusst wurden, dass Amira tödlich sein konnte.

Auch das war ein Vorteil. Die Zarin hatte Tendenzen dazu, impulsiv zu sein. Sie würde vielleicht schlechtere Entscheidungen fällen, weil sie mit Amiras Anblick ein Trauma verknüpfte. Amira brauchte nicht einmal nachzudenken, um zu wissen, dass dann der Mord an der Zarenfamilie durch ein anderes salvenisches Assassinan ausgeführt worden sein musste. Vom Mord an Katjenkas Eltern hatte sie im Vorfeld gewusst, aber nicht, wie er ausgeführt worden war.

Amira spürte einen kurzen Moment Selbstabscheu, als sie berechnete, wie sie sich verhalten müsste, um das Trauma der Zarin durch gezieltes, unheimliches Auftauchen an den falschen Stellen zu triggern. Auf Arten und Weisen, dass sie Wachen dichter zu sich befehligen würde. Wenn sie weniger verstreut wären, wären sie leichter angreifbar. Das war ja der Grund, warum die Maare inzwischen großflächig über den ganzen Raum verteilt waren.

Aber ein Trauma war behandelbar. Wenn sie dadurch entkommen könnten, erschien es ihr vertretbar, ihr Wissen darum auszunutzen. Es räumte ihnen eine Chance ein. Keine sehr reale.

Die Zarin erteilte Befehle, denen Amira aufmerksam lauschte, während sie sich gegenläufig zu Janasz durch den Raum bewegte. Janasz verschoss einen Pfeil nach dem anderen. Dadurch war er als falsche Wache endgültig entlarvt. Aber während er das Blasrohr an die Lippen setzte und sich bewegte, war er konzentriert, und selbst die Tränen in seinem Gesicht hielten ihn nicht davon ab, dem Plan zu folgen, zu tun, was Sinn ergab und nötig war.

Rash befand sich jeweils gegenüber von Amira im Raum, Janasz als Ankerpunkt zwischen ihnen, und tat Dinge, die alle Anwesenden sehr irritierten. Irritation war gut. Rash trat jeweils der Wache gegenüber, die Janasz als nächstes ins Visier nehmen würde. Rash diente dann kurz als eingeplante Zielscheibe für einen Angriff, dem Rash auswich, aber ehe ein erfolgreicher Angriff stattfinden konnte, kippte die jeweilige Wache in tiefen Schlaf und Rash fing den Sturz ab, geradezu zärtlich.

All das konnte Amira beobachten, während sie selbst geschickt Langmessern und Degen auswich und Betäubungspfeile in nachlässig gekleidete Fußgelenke stach.

Die Wachen waren unvorsichtiger mit ihr als mit den anderen. Sie hatten wohl den Auftrag, niemanden zu töten, wenn es sich vermeiden ließe, aber sie gingen bei Amira durchaus das Risiko ein, und sie verstand warum. Sie hatte ein Messer in jeder Hand. Sie benutzte sie nicht, höchstens, um eine Wache von einem der anderen Crewmitgliedern abzulenken, die durch den Raum flohen, indem sie es dicht an ihr vorbei schleuderte. Aber vor allem nutzte sie die darunter verborgenen Nadeln, so unbemerkt wie möglich. Sie bewegte sich mit Abstand am geschicktesten. Sie wirkte gefährlich und tödlich. Und sie trug die Uniform der salvenischen Assassinanen. Sie hatte im Vorfeld nicht damit gerechnet, dass sie letzteres verraten würde, aber unter den Umständen ergab es Sinn und war ebenfalls von Vorteil. Natürlich stürzten sich die Wachen auf die offensichtlichste und größte Gefahr, sie, und erkannten erst viel später, dass Janasz, die unscheinbare und ungeschickt wirkende, falsche Wache, ebenfalls eine wesentliche Gefahrenquelle war.

Amira fühlte sich lebendig in diesem feuerlosen Inferno. Das Ausweichen war wie Tanz. Sie spürte die Gefahr und Ausweglosigkeit unter der Haut. Sie fühlte die Bewegung und Bedrohung in jedem ihrer Glieder. Nur der Moment war wichtig.

Sie kamen weit. Viel weiter, als sie je damit gerechnet hätte. Wachen lagen auf dem Boden verstreut. Sie sprang geschickt über sie hinweg, sodass den Wachen, die ihr nachsetzen wollten, Körper im Weg lagen. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Zarin. Es hatte viele Gelegenheiten gegeben, in denen sie sie mit einem Messerwurf hätte töten können. Aber sie wollte sie erreichen, ihr Leben nur bedrohen, um erpressen zu können, weil das ihre realistischste Chance war, zu entkommen.

Aber irgendwann passierte das Unausweichliche: Janasz wurde überwältigt. Nur Sekunden später konnte die Wache, die Rash hätte auffangen wollen, Rash in die Knie zwingen, mit einem Langmesser an der Kehle. Weniger zärtlich, als Amira es damals getan hatte.

Sie tauschte mit Rash einen Blick, als sie ihre Messer fallen ließ und die Hände hob. Rash lächelte und formte den Mund kurz zu einem Kussmund. Amira schloss einen Moment die Augen und erwiderte dann die Geste.