Sindra ist die Kapitänin der Flotte der Maare. Sie ist sehr groß.

Content Notes:

Blutbad, Gemetzel, Ableismus, Trauma, Erwähnung von Mord.


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Sindra

Sindra hatte Kanta sehr intensiv vernommen, damals, als sie an Bord gekommen war. Sie fand es interessant, die Situation damals mit dem Dazustoßen von Amira ungefähr heute zu vergleichen. Kanta hatte versucht, mit einem Ruderboot überzusetzen. Jentel hatte sie schon frühzeitig vom Mastkorb aus gesehen und Sindra informiert. Sie hatten eigentlich entschieden, keine weitere Person an Bord nehmen zu wollen. Kanta war kein unregistrierter Passagier der Forschungscrew gewesen, sonst wäre sie nicht an ein Beiboot gekommen und hätte nicht einfach unter den Augen der Crew wegrudern können. Das war zu unwahrscheinlich.

Kanta war Teil der Forschungscrew gewesen. Das hatte sie in der Unterredung auch offen dargelegt.

Jentel hatte versucht, Kanta zunächst zu gruseln, so zu tun, als wäre as eine gefährliche Seekreatur, die das Beiboot angriffe. Das hatte Kanta nicht beeindruckt. Dann hatte as versucht, das Ruderboot zurückzuziehen. So, dass es für Kanta vielleicht wie Magie wirken mochte. Kanta hatte Sindra hinterher erklärt, dass sie nie an Magie geglaubt hatte. Anders als große Teile der Forschungscrew.

Und dann war Kanta einfach so rasch gerudert, dass sie aus der Sichtweite ihres Forschungsschiffs gelangt wäre, und wenn die Schattenmuräne dann auch ohne sie weggesegelt wäre, wäre sie allein auf dem Meer gewesen, mit nichts als einem Ruderboot.

Also hatte Jentel das Boot gekentert. Und Kanta hatte diesen unbeschreiblich schlimmen Fehler gemacht, das Boot loszulassen. Das war Regel Nummer eins beim Seefahren, niemals Boote loslassen. Es hätte zu hoher Wahrscheinlichkeit ihren Tod bedeutet, wenn Jentel nicht in der Nähe geblieben wäre.

Das, was schließlich ausschlaggebend dafür gewesen war, dass Sindra sie so intensiv verhört hatte, war, dass tatsächlich ein Versuch unternommen worden war, den Elben zu retten. Sie hatten Crewmitglieder aus verschiedenen Motiven an Bord der Schattenmuräne, aber eine Person von einem Forschungsschiff, das zum Fußvolk gehörte, und die eine gewisse Unterstützung von entsprechender Seite erfuhr, fühlte sich für Sindra sicher gefährlicher an, als eine Assassinperson, die sie nicht angriff, obwohl sie es konnte.

Es hatte sich für sie sicherer und entspannter angefühlt, Amira zu vernehmen.

Amira war auch mit einem Ruderboot übergesetzt, allerdings mit einem schlankeren, getarnten. Einem Boot, das aus gewachstem Stoff und Gestänge bestand, sich klein zusammenfalten ließ und eigentlich alles andere als hochseetauglich war, aber zum Übersetzen hatte es gereicht. Sie hatte es in der Vorratskammer unter dem getrockneten Seegras verstaut, das erst bei einem neuen Überfall zum Einsatz käme. Jentel hatte von all dem nichts bemerkt, weil Amira tagsüber an Bord gekommen war. Amira war allerdings nicht von einem Forschungsschiff übergesetzt, sondern von der kleinen Insel, in deren Nähe sie manchmal ankerten. Einer Insel, die weit weg von Land war, häufig überspült wurde, und wo die Nixen der Crew unter Wasser Esspflanzen und Gewürze anbauten. Die Schiffe des Schattenschwarms hielten hier manches mal, um zu ernten und die Gärten zu pflegen. Von diesem Ankerplatz wussten Amiras Auftraggebende wiederum durch die geheimen Briefe. Nicht durch den, den Amira mitgebracht hatte. Es hatte mehrere gegeben. Sie hatten Amira dort mit nichts als ihrem Boot und etwas Nahrung ausgesetzt, sodass sie keine andere Möglichkeit gehabt hatte, sich zu retten, als an Bord eines der Schattenschiffe zu gelangen. Und dann wäre der Plan gewesen, dass sie die Crew des jeweiligen Schattenschiffs überwältigte oder erpresste, um sie auszuliefern, oder anderweitig den Mordauftrag ausführte, um wieder an Land zu kommen. Die Auftraggebenden hatten nicht damit gerechnet, dass eine Assassinperson als Crewmitglied willkommen geheißen werden könnte, sodass die Notwendigkeit eines Mordes nicht bestand.

Sie hatten das Gespräch unterbrochen, um Smjer hinzuzuziehen, nachdem Sindra die Sicherheit der Lage einigermaßen einschätzen konnte. Zunächst hatte sie dann mit Smjer zu zweit gesprochen, weil Smjer darum gebeten hatte. Er hatte sich Sorgen gemacht und von ihr eine Einschätzung gewollt, ohne, dass eine potenziell gefährliche Person Sindra hätte unauffällig erpressen können.

Anschließend hatte Sindra ihnen in ihrer Kajüte Zeit für sich gegeben, damit Amira ihre Geschichte auch ihm darlegen würde. Sie sollten sie dazu holen, sobald etwas gesagt würde, was sie noch nicht wusste.

Vielleicht war das nicht die beste Entscheidung, sie wusste es nicht. Sie brauchte die feuchte Draußenluft im Gesicht und ein bisschen Ruhe, um ihre Gedanken zu sortieren. Die Situation hatte sie zwar in dem Moment kaum belastet, aber nun merkte sie doch, dass die Bedrohnung eine Nachwirkung auf sie hatte. Außerdem konnte sie sich vorstellen, dass Amira und Smjer ein anderes Gespräch führen würden, als wäre sie dabei. Vielleicht brachte auch das Neues. Jentel fragte vom Mastkorb, was los wäre. Sie antwortete, dass sie einfach ein wenig Ruhe bräuchte, und kam erst verspätet darauf, dass er vielleicht Amiras Erscheinen an Bord meinen könnte. Sie ergänzte nichts. Um das Einweihen der Crew würde sie sich später Gedanken machen. Nun tat sie erst einmal ein paar tiefe und ruhige Atemzüge salziger Vorregenluft.

Die Kajütentür öffnete sich einen schmalen Spalt, und eine Hand winkte sie heran. Sindra schmunzelte. Sie mochte etwas an der Unnauffälligkeit Amiras.

“Weißt du Genaueres über die Bedrohung oder die Auftraggebenden?”, fragte Sindra, als sie alle drei beisammen saßen.

“Es sind neue Auftraggebende.”, informierte Amira. “Deshalb konnte ich auch weg und habe es ausgenutzt. Sie haben mich sozusagen abgekauft, und haben noch nicht so viele Druckmittel gegen mich gehabt. Und ich weiß entsprechend wenige Details über sie. Ich hatte zu viel Angst, den Auftrag nicht zu bekommen.”

“Nicht so viele Druckmittel klingt nicht wie keine.”, bemerkte Smjer. “Das wäre interessante Information für uns.”

“Ich habe mich von den Personen entfernt, die ich liebe. Sie haben fliehen können. Ich habe niemanden mehr.”, berichtete Amira. “Es wird schwer, mich darüber unter Druck zu setzen, aber es ist nicht völlig auszuschließen. Ich glaube aber, dass die neuen Auftraggebenden gar nicht auf die Idee gekommen sind, dass ihr Druckmittel nicht reicht. Dass sie mich vermutlich umbringen würden, wenn ich ohne ausgeführten Auftrag zurückkehrte. Wie ihr wisst, hatte ich keine Wahl, als an Bord zu kommen.”

“Was wäre dein Gewinn dafür gewesen, Sindra zu töten?”, fragte Smjer. “Abgesehen von überleben.”

“Freiheit.”, antwortete Amira.

“Das ist ein ganz schön großer Gewinn für den Tod der Kapitänin der Schattenmuräne allein.”, wunderte sich Smjer.

Sindra nippte nachdenklich an ihrem Tee und verbrannte sich fast die Lippen. Er war frisch gekocht und noch viel zu heiß.

Amira trank ebenfalls einen Schluck und konnte die Hitze wohl besser ab. Jedenfalls machte sie keine Anzeichen, dass der Tee für sie zu heiß wäre. “Es ging nicht unbedingt nur um die Kapitänin.” Sie wandte sich Sindra zu. “Es ging darum, dass die Flotte der Maare Forschung boykottiert. Und es war mein Auftrag, das zu verhindern, indem ich dich töte, oder wenn nötig auch weitere Personen. Ich habe wenige Hilfsmittel zur Verfügung bekommen. Vor allem die Inhalte der Briefe und etwas Geld.”

“Durftest du alle Briefe selber lesen und hast sie zurückgeben müssen, dabei aber einen mitgehen lassen?”, fragte Sindra.

Amira bestätigte.

“Hast du irgendwelche weiteren Details zu den Auftraggebenden?”, fragte Sindra. “Warum zum Beispiel versuchen sie, mich hinterrücks zu töten, anstatt mit einem bewaffneten Schiff, die Flotte zu versenken?”

“Sie haben Angst vor der Schattenflotte.”, sagte Amira. “Das ist alles was ich weiß.”

Es hatte wohl noch einen anderen Grund, den Amira vielleicht einfach nicht kannte: Die Schattenflotte war schnell. Sie waren schon ein paar Kriegsschiffen davongefahren, aber sie hatten bisher nicht gewusst, ob sie tatsächlich Ziel gewesen waren.

Der Aufwand, den die Landsleute inzwischen betrieben, um die Schattenflotte aufzuhalten, fing an, Sindra sehr zu beunruhigen. Lange würde eine Katastrophe oder das Ende der Maare nicht mehr aufzuhalten sein. Die Frage war nur, wie lange doch noch, und wie das Ende aussehen würde.


Sindra trat zur Mittagszeit an Deck. Jentel hatte vom Mastkorb gerufen, dass sich ein neues Forschungsschiff näherte. Das war nicht geplant. Sie kannten die ungefähren Routen der Forschungsschiffe. Griffen sie nicht auch sonst bevorzugt abends an? Es war von Vorteil, wenn es beim Überfall dunkel wurde. Der Gruseleffekt war abends stärker, und Nixen konnten nachts sehr gut sehen – besser als tagsüber –, weil ihre Augen auf Unterwasser-Sicht ausgelegt waren. Aber als Sindra in den Himmel blickte, erkannte sie, dass es bloß ein besonders heller Mond war, der erstrahlte, den sie zerst für die Sonne gehalten hatte. Er blendete, so sehr, dass sie die Hand schützend über die Augen halten musste.

Das Forschungsschiff war viel zu dicht. Sie konnte es in allen einzelnen Details erkennen. Das war nicht gut. Sie befehligte, dass sie wenden sollten, um die Distanz zu vergrößern. Mit ruhiger Stimme, wie stets.

“Schnell, schnell!”, hörte sie Kanta zu Rash zischen. “Nur, weil die Kapitänin so gelassen ist und keinen Finger rührt, heißt das nicht, dass das für uns auch gelten darf.”

Kanta hatte recht. Sindra rührte sich zu wenig. Sonst war sie doch aktiver. Nun fühlte sie sich auf eine seltsam albtraumhafte Weise gelähmt.

Ein kleiner Teil von ihr freute sich, weil Rash mit Kanta eine liebe Person gefunden hatte, mit der Rash sich verstand. Ein anderer Teil drängte Sindra dazu, endlich etwas zu tun. Sie wusste seltsamerweise nicht was. Und als sie über das Deck schritt, in der Hoffnung, sie würde es dabei herausfinden, stolperte sie über einen Körper. Ein Blick zu Boden verriet ihr, dass es Marah war. Und Marah war tot.

Diese Erkenntnis führte zu ihrem Entschluss, dass sie das Forschungsschiff dieses Mal nicht angreifen, sondern Priorität auf Flucht setzen würden. Sie gab entsprechende Befehle, blickte sich um, ob auch der sonst unter Wasser angreifende Teil der Crew noch hier wäre, um es mitzubekommen. Kamira war nicht da. Es war ungewöhnlich still im Unterdeck. Nicht, dass das Nixendeck je besonders laut gewesen wäre. Aber es war, als würde etwas sogar das Geräusch ihrer Schritte dämpfen.

Es überraschte sie wenig, auch Kamira tot vorzufinden. Von Janasz und Ashnekov fehlte jede Spur. Ihr Kopf arbeitete. Sie wusste seit ihrer Unterredung mit Amira, dass sie eine Person in der Flotte hatten, die Nachrichten verschickte, die letztendlich bei Amiras Auftraggebenden gelandet waren. Sie hatte bisher nicht damit gerechnet, dass jene Person sie wirklich hatte tot sehen wollen, obwohl Amira einen entsprechenden Mordauftrag gehabt hatte. Aber Sindra glaubte eigentlich nicht, dass der Person an Bord das bewusst gewesen war. Sie hatte eher damit gerechnet, dass es ihr darum ginge, die Flotte wieder zu verlassen, um Geld, um irgendeine Form von Profit oder Sicherheit, für die die Person bereit war, Informationen preiszugeben, ohne genau zu wissen, was das zur Folge haben würde.

Nun wäre es umso dringender, dass sie herausfände, wer es wäre. Und es wäre sinnvoller, wenn sie alle zusammenblieben, damit sie nicht einzeln ermordet werden könnten. Auf dem Weg die sechs bis acht Decks aufs Oberdeck hinauf scheuchte sie jede Person, die sie sah, vor sich her. Janasz war mit kochen beschäftigt gewesen. Aber sie konnte ihn davon überzeugen, dass es gerade Wichtigeres gab. Er lachte, als er ihr folgte, ein Lachen, das sich in ihr Gehirn brannte, weil es so seltsam war.

An Deck waren sie gar nicht so viele. Ihr fiel es schwer, sie zu zählen. Etwas stimmte nicht. Das Forschungsschiff war nicht mehr da. Rash sah sie mit einem seltsamen Lächeln an, das noch merkwürdiger war als Janaszs Lachen. “Warum weinst du nicht?”, fragte Rash, ohne die Lippen zu bewegen.

Dann fiel Rash vornüber zu Boden. Rashs Körper bewegte sich dabei, als handelte es sich um einen Sack Proviant. Sindra fühlte sich nicht nach weinen. Sie bemerkte, dass sie barfuß in Marahs Blut stand. Deren Kopf abgetrennt vom Körper neben Sindra lag. Als sie wieder aufblickte, bereit, sich zwischen die Assassinperson und gegebenenfalls andere Opfer zu werfen, stand Amira direkt vor ihr. Sie war es, die gesprochen hatte, an Rashs Stelle, nachdem sie Rash von hinten erstochen und bloß noch festgehalten hatte.

Nun hielt sie das blutige Messer Sindra entgegen. “Ich hatte eigentlich für dich arbeiten gewollt.”, sagte sie. “Aber du bist so kalt, dass du nur grundböse sein kannst. Ich hasse dich und werde die Welt vor deiner kranken Emotionslosigkeit beschützen.”

Sindra musste fast lachen, als sie sich wünschte, wenigstens wütend zu sein, weil sie nicht weinen oder trauernd sein konnte, dass Marah tot war. Oder Kamira oder Rash. Dass sie sich ein Ersatzgefühl für das fehlende Gefühl wünschte, war albern, dann hätte sie sich auch gleich das Trauergefühl wünschen können, oder den erwarteten Schock. Sie hätte Trauer empfinden sollen. Besonders für Marah. Sie liebte Marah. Liebte sie wirklich? War es Liebe, wenn Trauer ausblieb? Sie blickte nach unten, als sie Marahs Stimme hörte: “Ich habe dich immer vor Elben gewarnt.”

Das ergab keinen Sinn. Amira war ein Mensch. Allerdings war die Abwehrhaltung der Nixen gegenüber Menschen eher noch größer als die gegenüber Elben und Sindra konnte das gut verstehen. Es gab kaum ein ausbeutenderes Volk als Menschen. Nicht alle Menschen, aber die in Zentral-Maerdha und an der Westküste schon. Marah betonte lediglich häufiger Elben, weil zur Crew zwar bisher Elben, aber keine Menschen gehört hatten.

Sie versuchte, sich körperlich gegen Amira zu stemmen, als diese ihr Messer in sie stach. Es ergab auch keinen Sinn, dass sie es nicht warf. Das wäre sicherer gewesen. Sindra verzichtete darauf, es Amira mitzuteilen.

Als sie bemerkte, dass sie keinen Schmerz fühlte, wachte sie auf.


Vielleicht war es mal wieder Zeit für ein Gespräch mit Kamira. So sehr ihr im Traum mitgeteilt worden war, dass sie keine Emotionen hätte, hatte sie doch gerade eine Emotion sehr stark: Angst.


Erst einmal gab es allerhand zu tun, wie immer. Weniger spannende Aufgaben vor allem, die aber trotzdem gemacht werden mussten. Sortieren und Verplanen der neuen Vorräte, oder der fehlenden, die sie aufgrund der Lage nicht mehr erreichen konnten, weil Marah derzeit nicht zum Festland pendelte, Decksarbeiten, Navigation. Für Navigation war Sindra hauptverantwortlich. Zusammen mit den anderen Steuerpersonen Rash und Smjer setzte sie sich zusammen und zeichnete dünne Linien in Karten, um Positionen und Kurse zu bestimmen. Das war aktuell nicht ganz einfach, weil sie Rash bisher nicht über die Briefe unterrichtet hatte. Sindra mochte nicht, wenn Dinge nicht ausgesprochen waren.

Sie musste endlich mit Rash reden. Sie hatte sich gefragt, wie sie verfahren sollte, auf Basis eines Briefs in Rashs Handschrift. Ob sie Rash verdächtigen sollte. Sindra hatte wirklich keine Ahnung, wen sie verdächtigen sollte, und vor allem wollte sie niemanden verdächtigen. Sie hatte auch versucht, über die andere Seite an das Problem heranzugehen: Wen sie keinesfalls verdächtigen würde. Aber sie schloss so etwas auch bei keinem der Crewmitglieder aus. Sie wollte es bei Marah. Dringend. Aber sich wünschen, dass eine Person vertrauenswürdig war, weil sie sie liebte, war gefährlich. Es ergab bei den Nixen weniger Sinn, dass sie nicht hinter der Sache standen. Immerhin ging es um einen Ort, für den sie seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit mindestens einem Jahrhundert die Initiative ergriffen, ihn zu schützen. Viele Nixen wuchsen vor den Küsten des Kontinents Grenlannd auf, bevor sie in der Weltgeschichte herumreisten.

Das Schiff war ein Nixenschiff. Überwiegend. Eigentlich war es ein Hybridschiff: Es war geplant als Schiff, dass von Nixen und Landsleuten zusammen gefahren wurde. Vermutlich das erste geplante Hybridschiff der Geschichte. Aber das Material kam aus dem Ozean und der größte Anteil der Planung war Nixen zuzuschreiben, unter anderem Smjer, sowie einigen, die gar nicht an Bord waren.

Und trotzdem: Auch, wenn die Motive der Nixen klarer und überzeugender waren, weil es um sie ging, hieß das nicht, dass nicht eine Nixe andere Pläne haben könnte. Aus welchen Gründen auch immer.

Sindra war klar, dass ihr Traum nicht bedeutete, dass Amira am meisten zu verdächtigen wäre. Ihr Traum war aus Angst entstanden, und hatte daher ihre Crew umgebracht, angefangen mit Marah. Und Amira hatte die Fähigkeiten für so etwas, deshalb hatte ihr Traum das so ergänzt. Ihr tat es fast leid, dass sie das so geträumt hatte, ihr Traum da so pauschalisiert eine einfache Begründung auf Kosten der Assassinperson erfunden hatte.

Sie war nun drei Tage Teil der Crew. So lange hatte Sindra bereits den Schriftverkehr mit ihrer Kontaktperson an Land eingestellt, nur Nachrichten bekommen und keine zurückgeschickt. Und das war gefährlich. Das war die Bedeutung des Anfangs des Traums: Über die Kontaktperson erfuhren sie, wann welche Forschungsschiffe welche Routen nehmen würden. Die Informationen, die sie zurücksendeten, waren an sich weniger relevant. Sie verrieten nie genau, wo sie waren. Das war nicht notwendig. Trotzdem waren die Rückantworten wichtig. Es konnte ja nicht verborgen werden, dass keine Nachrichten mehr zurückgeschickt wurden. Falls sie eine verräterische Person an Bord hatten, wusste sie das wahrscheinlich. Und im Traum war das viel zu dichte Forschungsschiff zur Mittagszeit das, was ihr Hirn aus der Idee machte, dass mögliche Auftraggebende in Folge dessen eine neue Methode für ein Attentat versuchen würden, da war sich Sindra einigermaßen sicher. So sicher wie ein Traum eben gedeutet werden konnte. Es gab immer Unsicherheiten dabei.

Sindra erbat bei Smjer, ob er seine Steuerschicht etwas verlängern könnte, damit sie sich mit ihrem Problem in die Kapitänskajüte zurückziehen konnte. Wie immer widersprach er nicht. Manchmal fragte sich Sindra, ob es nicht besser wäre, wenn ihr mehr entgegengesetzt würde. Dann wiederum versicherte ihr der größte Teil der Crew immer wieder, dass ihre Befehle meist sehr begründet und durchdacht wären, sie sie nie aus Spaß gab, eine Priorität zuordnete, und es einfach wenig Sinn ergab, zu widersprechen.

Und natürlich galt auch, dass auf einem Schiff nicht ohne Grund eine Person die Befehlsgewalt hatte, der Folge zu leisten war. Vor allem, wenn Dinge schnell gehen mussten.

Wie es bei einem Gemetzel der ganzen Crew der Fall wäre. Darauf wäre Sindra nicht vorbereitet. Das war vielleicht die Bedeutung ihrer Lähmung im Traum, oder der Vorwurf, dass sie nichts täte. Aber ersteres konnte auch einfach klassische Angst vor Handlungsunfähigkeit sein, die in Träumen oft eine Rolle spielte, und letzteres war der Abwertung zuzuordnen, die Sindra erfuhr, weil ihre Emotionen nicht so sichtbar waren wie bei anderen und ihr manche ganz fehlten. Weil es andere gruselte, dass sie in den gefährlichsten Situationen gelassen war. Das, was letztendlich im Traum auch zu dem Mord an ihr durch Amira geführt hatte. Es gab das Vorurteil, dass Leute, die nicht laut und deutlich fühlten, die in angespannten Situationen ruhig blieben und die keine Trauer zeigten, von Grund auf böse und nicht vertrauenswürdig wären. Das Vorurteil war so stark, dass Sindra manchmal selbst daran glaubte. Vor allem glaubte, dass sie vielleicht gar nicht lieben könnte. Es hieß, wer nicht trauerte, konnte auch nicht richtig lieben.

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Eine Welle eines starken, sehnsuchtsvollen Gefühls rann durch
Sindras ganzen Körper, weil sie an Marah dachte. Und eine
nur leicht weniger leidenschaftliche, als sie an Rash dachte.
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Aga, die Ziege, trabte auf sie zu, als sie die Tür zur Kapitänskajüte erreichte, und ließ sich streicheln. Aga hatte eine beruhigende Wirkung auf Sindra. Als wüsste die Ziege, worum es im Leben eigentlich ging. Sie mähte ein wenig traurig, als Sindra die Kapitänskajüte betrat. Sie war am liebsten an Deck. Sie würde gleich vermutlich zu Smjer traben. Smjer und die Ziege hatten auch eine warme Bindung aufgebaut.

Sindra setzte sich auf den größeren der Stühle in ihrer Kapitänskajüte und betrachtete den Brief erneut. Sie wurde nicht schlau daraus. Die Ausdrucksweise, der Stil, passte zu keinem der Crewmitglieder. Niemand hier glaubte, dass sie nur auf Frauen stünde. Zumindest glaubte sie das. Was war das überhaupt für eine skurrile Information zum Weitergeben?

Rash wusste, dass sie Salvenit sprach. Das hatte nicht in der Nachricht gestanden. Und doch hatte Amira sie in der Sprache einfach angesprochen. Die Assassinperson hatte erklärt, dass sie es einfach ausprobieren gewollt hatte, weil die Liste der Sprachen, die Sindra sprach, so lang war.

Es klopfte. Sindra packte den Brief wieder ein und legte ihn in eine Schublade, bevor sie zur Tür ging und sie öffnete. Es war Amira.

Aus irgendeinem Grund stimmte Sindra der Anblick der Assassinperson weich. “Magst du dich setzen?”, fragte sie.

Amira nickte. Sie wirkte gerade unsicher. Schon über die kurze Zeit, dass sie sich kannten, schwankte es ganz schön bei ihr.

Sindra schloss die Tür hinter sich, als Amira eingetreten war, und nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz. Die Füße auf der Sitzfläche, was zu einem gegenseitigen Austausch eines Lächelns führte. “Was kann ich für dich tun?”

“Ich habe damit gerechnet, dass du mich irgendwann über mein Leben ausfragen würdest.”, sagte Amira. “Darüber, wie vielen und was für Personen ich das Leben genommen habe. Mir ist es unangenehm, solltest du das noch vorhaben, dass das Gespräch noch vor uns liegt.”

Das war ein Gespräch für einen Tee, überlegte Sindra. Sie hatte sich die Frage gestellt, das konnte sie nicht leugnen. Sie hatte sich aber auch direkt überlegt, dass sie es nicht erfragen wollte. Sie überdachte es nun doch noch einmal, da Amira quasi das Angebot machte.

Sie nickte zur Kenntnis nehmend und zündete das Gasflämmchen unter dem Wasserbehälter für Tee an. Sie hatten diese Konstruktion von einem salvenischen Schiff gestohlen, fiel ihr ein. Deshalb hatte Amira vielleicht damit umgehen können. Oder vielleicht, weil Amira sie ja schon seit einigen Tagen beobachtet hatte, bevor sie in Erscheinung getreten war.

Solange das Wasser zum Aufwärmen brauchte, setzte Sindra sich wieder hin und beschloss, bei ihrer vorherigen Entscheidung zu bleiben. “Ich mag gern eine ähnliche Frage stellen:”, sagte sie. “Wieviele Personen hast du freiwillig und ohne negative Gefühle dabei getötet? Ohne irgendeinen Druck von außen, der alle anderen Möglichkeiten schlimmer hat erscheinen lassen. Wie viele Male warst du dabei nicht in einer Situation, in der nicht eine Option widerwärtiger gewesen wäre als die andere? Und wie oft ging es dabei sozusagen nur um dein Leben und nicht auch um die Lebenssituation vieler anderer?”

“Nie.”, gestand Amira ohne Umschweife. Sie sah trotz ihrer Unsicherheit gelassen dabei aus, vielleicht eine Spur wütend. “Abgesehen von diesem Auftrag.”, ergänzte sie.

Den sie ja nicht ausgeführt hatte.

“In dem Fall werde ich dich nie danach fragen.”, versprach Sindra. “Ich gehe davon aus, dass es Trauma ist. Sofern es nicht eine Gefährdung für uns bedeutet, geht es mich nichts an, solange du mich nicht als die Person aussuchst, der du dich freiwillig und von dir aus gern anvertrauen möchtest.”

Das Wasser fing bereits zu kochen an. Diese Vorrichtung war sehr schnell. Amira wirkte nachdenklich und vielleicht schockiert. Sindra überließ sie sich selbst, als sie mit dem Wasser Tee aufgoss.

“Ich weiß nicht, was ich sagen soll.”, sagte Amira und holte Sindra aus ihren Gedanken zurück. “Ich bin unbeschreiblich dankbar. Aber ich verstehe es nicht. Gehst du damit nicht ein großes Risiko ein?”

“Ich glaube nicht.”, sagte Sindra. “Es gibt so eine Art Schaulust, glaube ich. Traumata machen Angst. Leute glauben, ein Anrecht darauf zu haben, jene zu wissen, damit eine Vertrauensbasis hergestellt werden könnte. Aber es ist, als würde ich einer Person erst vertrauen, wenn sie sich vor mir entkleidet und sich nackt präsentiert. Was überhaupt keinen Sinn ergibt.”

“Es geht hier darum, dass ich Personen getötet habe.”, erinnerte Amira. “Das stellt im Gegensatz zu anderen Traumata vielleicht tatsächlich eine Gefahr dar.”

“Sehr richtig.”, sagte Sindra. “Das ist etwas anderes. Hier vermischen sich zwei Elemente. Wichtige Inhalte und Trauma. In der Metapher ist ersteres dann vielleicht eher, was du in den Taschen hast. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ich das eine getrennt vom anderen betrachten kann.” Sindra entfernte das Teesieb aus der Kanne und goss ein, nachdem Amira mit einem Nicken beantwortet hatte, dass sie auch Tee mochte. “Das Detail, dass du gemordet hast, und zum Morden hierher geschickt worden bist, kenne ich. Das ist wertvoll zu wissen. Ich weiß nicht, inwiefern ich viel mehr für mich relevante Informationen dadurch bekommen sollte, dass du mir im Detail mehr über deine Geschichte darlegst. Es sei denn, wir können ein Muster in den Aufträgen finden, die du bisher hattest. Etwas, was uns in diesem Fall weiterhilft.”

<!--Wegen der Kürzung ist das Tee trinken nun etwas sehr kurz. -->

“Es waren, wie gesagt, neue Auftraggebende.” Amira seufzte. “Ich teile gern jedes Detail mit dir.”

“Alles, was du möchtest.”, sagte Sindra und kehrte dann noch einmal zur Ursprungsfrage zurück: “Ich werde dir jedenfalls Fragen nach deinen Traumata nicht ohne Notwendigkeit stellen. Wenn dich jemand aus der Crew bedrängen sollte, darüber zu reden, darfst du dich an mich oder Kamira wenden. Wir geben dann weiter, dass das nicht in Ordnung ist. Und hier hat sich noch niemand gegen einen Befehl von mir offen widersetzt.”

Amira nickte bloß und hielt sich wieder an der Teetasse fest. Aber dann schob sie doch ein geflüstertes “Danke” hinterher.

“Möchtest du noch etwas klären oder loswerden?”, fragte Sindra.

“Das klingt wie ein dezenter Rauswurf.”, sagte Amira unsicher.

“Ja. Also, im Fall, dass dem nicht so ist.”, sagte Sindra. “Sonst habe ich Zeit und Ruhe. Und du darfst jederzeit wiederkommen.”

Amira trank ihre Tasse leer und stellte sie ab. “Ich komme vermutlich wieder, wenn ich darf.”, sagte sie. Sie stand auf und wandte sich zur Tür.

“Herzlich gern.”, sagte Sindra. “Magst du Rash zu mir schicken?”

Amira wandte sich hastig zu ihr um. Sie wusste wohl, was das bedeutete. Ungefähr zumindest. Sie nickte. “Brauchst du mich dabei vielleicht doch?”, fragte sie.

“Wie meinst du das?”, fragte Sindra irritiert.

“Als Schutz.”, antwortete Amira.

Sindra betrachtete sie mit einem ausgiebigen Blick. Dann nickte sie schließlich. Nicht, dass sie wirklich Angst vor Rash gehabt hätte. Vielleicht fand sie es eher interessant, wie Rash reagieren würde, wenn die Person, die einen der Briefe in Rashs Handschrift an Bord gebracht hatte, dabei wäre. Und umgekehrt. Ob Rashs Reaktionen etwas bei Amira auslösen würden.

Sindra war sich auch, als es wieder an der Tür klopfte, noch nicht sicher, welche der Entscheidungen die bessere gewesen wäre.