Smjer ist Schiffsmechanikeran und hat das Vize-Kommando über die Flotte der Maare.

Content Notes:

Betäubung, Ableismus, Fischleid impliziert.


Abstand

Smjer

Die Schattenmuräne hatte noch einmal an Fahrt verloren, seit das Tauchdeck wieder unter Wasser stand. So gehörte sich das für Verdrängerfahrt. Auf diese Weise mussten sie die Segel bloß etwas fieren, um dem Forschungsschiff nicht davonzusegeln. Die Menge des Dampfes ließ allmählich etwas nach, aber immer noch konnte bloß Jentel vom Mastkorb aus genug sehen, um Bericht zu erstatten. As berichtete nichts Besorgniserregendes. Aber der Ruf, der aus dem Schiffsbauch der Schattenmuräne an Deck drang, war es schon. Sindra war drauf und dran, Amira den Befehl zu erteilen, nachzusehen, aber stattdessen stieg Rash eilig an Deck.

“Jannam sagt, Kamira hat um Hilfe gerufen und Jannam schwimmt los, weil es dringend klang.”, sagte Rash. “Das soll ich ausrichten.”

Wenn Rash nicht steuerte, war Rash zuständig für die Kommunikation zwischen den Decks. In neueren Schiffen, die Smjer konstruierte, gab es ein Röhrensystem, durch das Schall auch in andere Decks transportiert werden konnte, aber so etwas hatte die Schattenmuräne noch nicht.

“Sag Myrken, sie möge unter Wasser hören.”, befahl Sindra. Myrken war wie Jannam auch eine der Nixen der Schollencrew. “Du stellst dich wieder ins Mitteldeck und lässt dir weitergeben, was Myrken sagt und gibst selbst wiederum an Smjer weiter.”

“Sehr wohl.”, sagte Rash und stieg den Niedergang postwendend wieder hinab.

“Aye!”, sagte auch Smjer und bewegte sich zum Niedergang. Es brauchte nicht lang, bis Rash etwas zurückmeldete, was er weitergab: “Missglückt. Tauchboot sinkt. Mehr Hilfe!”

Sirenu hatte weniger Worte, und über die Distanz mussten sie auch noch sparsam gewählt werden. Zumindest, wenn die Personen nicht zwischendurch für Luft auftauchen wollten.

Sindra erkannte sofort, dass dies eine Arbeit für Nixen war. Es waren außer Smjer noch drei an Bord und Sindra befahl, was die einzige naheliegende Möglichkeit war:

“Schickt Myrken los.”, befahl sie laut brüllend. “Smjer, du übernimmst Myrkens Position. Jentel Abflug vom Mastkorb, Adune folgt Myrken über das Tauchdeck. Kanta an Smjers jetzige Position. Amira in den Mastkorb.”

Smjer bewegte sich bereits ins Unterdeck, während er noch die wesentlichen Befehle an Rash weitergab. Er erblickte gerade noch, wie Jentel sich geschickt auf eine Weise halb vom Mastkorb baumeln ließ, auf die as genug Schwung bekam, sich über Bord zu katapultieren.

Das Wasser war kalt. Smjer war es nicht mehr so gewohnt. Vor allem nicht mitten auf dem Ozean. Zuletzt war er ufernäher geschwommen, wo es immer etwas wärmer war. Trotzdem ließ sich Smjer nicht aufhalten, gut Luft zu holen und sich unter Wasser abzusenken, wo der Schall ihn erreichen würde. Es gab keine wesentlichen neuen Informationen, bis der Nixenschwarm das Tauchboot mühevoll in die Schattenmuräne schob. Smjer fädelte ein Seil durch die Griffe, das zu einem der Flaschenzüge gehörte, mit denen er eigentlich die Decks wechselte. Kamira war sehr außer Atem, aber half ihm dabei, ihn zu benutzen. Noch während ihrer Bemühungen kletterten Ashnekov und Janasz aus dem Tauchboot. Sie waren klitschnass, packten ebenfalls mit an und atmeten, als hätten sie länger keine Frischluft mehr bekommen: Nicht so schnell, als hätten sie keine Luft bekommen, aber dankbar darum, wieder befreit zu sein.

Marah fehlte.

Niemand sagte es direkt. Es war ja an sich auch offensichtlich. Als das Tauchboot soweit hochgezogen war, dass das Wasser herauslief, was nicht hineingehörte, schloss sich Smjer den meisten Nixen, Janasz und Ashnekov an, wieder an Deck zu gelangen. Die Kapitänin wählte Janasz aus, mit Berichten anzufangen. Smjer verstand, warum sie Janasz wählte – als Person, die die Pfeile schoss, hatte Janasz wahrscheinlich das meiste mitkriegen können, was passiert war –, aber hätte selbst anders entschieden. Janasz wirkte aufgelöst und als könnte er nicht so gut priorisieren, was nötige Information war. Was zu viel Detail und was zu wenig.

“Sie haben Marah.”, sagte er.

Viele Blicke richteten sich auf Sindra. Es war kein Geheimnis, dass Sindra Marah liebte.

“Mehr Details.”, verlangte Sindra, als wäre sie die Ruhe selbst. Ihr war nichts anzumerken.

So sehr die Situation einen kühlen Kopf verlangte, war Sindras Umgang mit Emotionen schon sehr ungewohnt. Smjer hatte sie am Anfang für unempathisch gehalten. Nun wusste er es besser. Es zeigte sich bei ihr eben eher in Worten als in Körperreaktionen.

“Sie wussten, dass wir kommen.”, berichtete Janasz. “Sie haben in der Bilge in der Dunkelheit gewartet. Ashne und ich sind hineingekrochen, ohne sie zu bemerken, weil sie leise waren. Dann haben wir Licht angemacht und sie waren viele.” Janaszs Gesicht zeigte Panik, wie als würde er die Situation noch einmal durchleben. Ihm stockte die Stimme.

“Hast du Personen betäubt?”, fragte Sindra. Sie klang eine Spur strenger als sonst dabei.

Das brachte Janasz aus dem Schweigen wieder heraus. Er schüttelte den Kopf. “Es hätte wenig Sinn ergeben. Ich hätte nie alle erwischt.”

“Und es hätte verraten, wie wir Personen betäuben.”, ergänzte Sindra. “Es ist gut, dass das vielleicht noch geheim ist.”

Natürlich dachten sich die Landsleute der Forschungsschiffe, dass es etwas mit Betäubung zu tun haben musste, was den Schlaf auslöste. Zumindest manche, die nicht an Geister oder Schlafzauber glaubten. Aber solange Janasz immer alle Personen betäubte, die zugegen waren, und die Pfeile wieder einsammelte, mit denen er es tat, wussten sie nicht wie.

Janasz wirkte erleichtert. Aber die Kapitänin forderte ihn sofort auf, weiter zu berichten. Das tat er dann auch eilig: “Ashne und ich sind ins Tauchboot zurückgeflohen, aber sie kamen näher und ich glaube, sie wollten uns angreifen. Sie waren laut und unkoordiniert.”, berichtete Janasz. “Dann ist Marahs Kopf kurz von unten im Tauchboot aufgetaucht und sie hat uns befohlen, zu versuchen, die Schleuse von innen zu schließen und, vor allem, uns, komme, was wolle, festzuhalten.”

Smjer konnte sich denken, wie die Geschichte weiterging. Es war einer der Momente, in denen er sich wünschte, nicht so oft recht zu haben, und dass es irgendwo ein Wunder gäbe. Sie Marah vielleicht irgendwie versteckt hätten und sie später eintreffen würde.

“Janasz hat mich festgehalten, während ich versucht habe, die Schleuse zu schließen.”, übernahm Ashnekov. “Aber lange bevor ich fertig war, – was auch sinnvoll war, weil die Forschungscrew dann doch versucht hat, uns festzuhalten – , haben Marah und Kamira die Verbindung zwischen Forschungsschiff und Tauchboot gelöst.” Ashnekov holte tief Luft und seufzte eilig. “Marah hat sich durch die Wassermassen ins Schiff spülen lassen, oder ist hineingeschwemmt worden, da bin ich nicht sicher. Sie hat durch einen kräftigen Schlag mit der Fluke verhindern können, dass Forschungscrewmitglieder durch das Loch von Bord gingen und es dann von innen verschlossen.”

Sindra nickte. Ihr Gesicht wirkte konzentriert, als würde sie nachdenken.

“Ich konnte das Tauchboot so drehen, dass der Rest Luft nicht entweichen würde.”, fügte Kamira hinzu. “Aber bewegen konnte ich es alleine nicht, weil es nicht dazu gebaut ist, mit soviel Wasser darin geschoben zu werden.”

Sindra nickte erneut. “Wir halten zunächst Abstand.”, kommandierte sie. “Der vorläufige Plan: Wir sind vor ihnen. Wenn wir die Distanz halten, können wir sie vielleicht dazu bringen, uns folgen zu wollen. Wir drehen dabei allmählich unseren Kurs auf West. Das ist vielleicht ein Kompromiss, auf dem sie uns weiter folgen würden, auch wenn es sie nicht näher an Grenlannd heranbringt.”

Rash hatte wieder das Steuer übernommen, das in der Zwischenzeit Sindra geführt hatte, und bestätigte den Befehl.

“Und langfristig?”, fragte Smjer.

Sindra antwortete nicht nur ihm, sondern laut: “Langfristig haben wir wie stets das Ziel, dass das Forschungsschiff es nicht nach Grenlannd schafft. Unsere Angriffsstrategie ist aber nicht mehr möglich. Macht euch Gedanken und nennt mir alle Ideen, was wir alternativ machen können, um dieses Ziel zu erreichen.”

“Was ist mit Marah?”, fragte Kamira.

“Auch Ideen, wie wir Marah retten können, bitte an mich.”, kommandierte Sindra.

In Smjer entfalteten sich grobe Ideen für die erste der beiden Fragestellungen, wie sie sich gegen das Forschungsschiff mit einer neuen Strategie wenden könnten, als ein verzweifelter und wütender Schrei über das Deck schallte. Smjer seufzte innerlich, als Ushenka über das Deck direkt auf Sindra zustapfte. Er hatte auch dieses Mal eine naheliegende Vermutung, was kommen würde, und hoffte, dass es anders käme, auch wenn er Ushenka in gewissen Dimensionen sogar verstand. Sie hatte eine innige Beziehung mit Marah und anders als Sindra war sie weder von Emotionen distanziert, noch drückten sie sich in einer zurückhaltenden Weise aus.

Ushenka versuchte, beeindruckend zu sein, aber gegen die riesige Kapitänin mit ihrem gelassenen, stabilen Stand war so schnell keine Person beeindruckend.

“Du wirst meine Marah retten! Hast du verstanden?”, schrie sie Sindra an.

“Ich werde mein Möglichstes tun.”, antwortete Sindra.

Es überraschte Smjer beinahe, dass sie jetzt, ganz am Anfang des Streits, schon einen eigentlich unmissverständlichem Tonfall wählte, der hätte klar machen sollen, dass das Gespräch an der Stelle beendet war. Aber Smjer hätte es gewundert, wenn Ushenka sich davon beeinflussen ließe, was Sindra für das Ende eines Gespräches hielt. Zumal die Aussage durch ihre Wortwahl, kannte jemand Sindra weniger gut, wahrscheinlich auch eher nicht wörtlich sondern abwiegelnd aufgefasst werden würde.

“Das!”, schrie Ushenka und deutete Arme wedelnd um sich. “Das ist nicht das Möglichste! Ich will mein Kind wiederhaben! Ich will, dass jetzt und nicht später alles in Bewegung gesetzt wird, um sie zu retten! Wir werden das Forschungsschiff plattwalzen und irgendwelches Ehrengedöns fallen lassen! Verstanden? Es geht hier um Marah!”

“Ich weiß, worum es geht.”, sagte die Kapitänin leise und sachlich. Mehr nicht. Sie stand einfach Ushenka gegenüber und blickte ruhig auf sie herab, vielleicht sogar etwas bedrohlich.

“Wie kann mein Kind so eine kaltblütige Kapitänin lieben, der sein Leben nichts, gar nichts wert ist!”, fügte Ushenka hinzu. Sie drehte sich um und stampfte wieder über das Deck, unschlüssig, wütend.

“Wir werden natürlich den Vorschlag in Betracht ziehen, unsere Regeln außer Acht zu lassen.”, antwortete Sindra verspätet auf Ushenkas Vorschlag. “Aber selbst, wenn wir uns entschieden, dass wir Leben nehmen würden, – was wir vermutlich geschlossen und für jede Situation ablehnen werden –, wären wir nicht für einen Angriff oder etwaiges Plattwalzen gerüstet.”

Wie Smjer Sindra kannte, war sie blitzschnell bereits sehr viele Szenarien im Kopf durchgegangen und hatte sie bezüglich Durchführbarkeit und der Moralvorstellungen der Flotte bewertet. Etwas, woran er sich auch hatte gewöhnen müssen, und was für Ushenka nicht transparent sein konnte: Dass Sindra tatsächlich auch abseits üblicher Wege schnell alles durchdachte.

“Wir haben ein Assassinan!”, schrie Ushenka von wo sie inzwischen stand. “Du kannst mir viel erzählen, aber keine Lügen!”

“Amira ist kein Assassinan mehr!”, verkündete die Kapitänin, immer noch sachlich, aber sehr deutlich. “Würdest du wirklich den Mord von zwei Dritteln einer Forschungscrew – so viel bräuchten wir etwa, um an Bord des Forschungsschiffes nicht ausgeliefert zu sein – in die Hände einer Person geben, die ein Leben lang darunter leiden wird, mit der Tat leben zu müssen, um eine Person zu befreien, die damit dann auch leben muss, das etwas für sie getan wurde, wo sie sich mit Leib und Geist jederzeit zwischenschmeißen würde?”

“Sie ist mein Kind!”, schrie Ushenka, sodass Smjer vom Zuhören die Kehle brannte. “Ich würde alles für sie tun! Alles!”

“Nicht alles offenbar.”, widersprach Sindra ruhig, und ohne weitere Erklärung, als bräuchte es keine. “Das Gespräch führt uns nicht weiter. Du störst leider wichtige Abläufe an Deck. Halt dich unter Deck auf, bis du Vorschläge hast, von denen du dir eher vorstellen kannst, dass wir sie umsetzen würden.”

“Du schickst mich unter Deck?”, fragte Ushenka.

“Du bist Befehle noch nicht gewohnt.”, antwortete Sindra, beinahe sanft. “Wir sind in einer Notlage. Du hast mir Folge zu leisten, im Normalfall ohne zu hinterfragen.”

“Darf ich sie begleiten?”, fragte Kanta.

Sindra nickte.

Kanta legte Ushenka einen Arm um die Schulter und führte sie den Niedergang hinab. Noch bevor sie ganz außer Sicht waren, hörte Smjer Ushenka schluchzen und sah ihren Körper schlaff einknicken.

Er hatte durchaus eigentlich Mitleid mit ihr, aber er spürte es kaum noch. Es fühlte sich für ihn so an, als wäre durch Ushenka entsetzlich viel Zeit verloren gegangen, aber eigentlich war die Unterbrechung nicht lang gewesen. Nur emotional. Emotionalität war nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber fühlte sich für ihn immer an, als benötigte sie viel Zeit.

“Meine bisher vielversprechendste Idee ist, sie in die Santenstrudel zu locken.”, schlug Smjer schließlich vor und unterbrach damit die Stille.

Die Santenstrudel waren irritierende Strömungen im Meer, das an die Südwüste angrenzte. Die Steppe, wo die Schollencrew auf sie gewartet hatte. Die meisten Nixen kannten die Strömung gut. Diese Zwergencrew war aber wahrscheinlich weniger darauf vorbereitet, weil die Santenstrudel nicht auf ihrem Weg nach Grenlannd gelegen hätten.

Die Chancen standen schlecht, dass sie sie bis dorthin locken könnten, aber Sindra gab zunächst entsprechende Befehle. Es würde ihnen Zeit verschaffen, egal wie kurz auch nur ein Teil des Plans funktionierte. Sindra machte das bereits für die ganze Crew transparent.

Dann besprachen sie die Lage in einer größeren Runde. Smjer wusste nicht genau, wie Sindra es anstellte, dass die Crew dabei so diszipliniert und aufmerksam war. Es herrschte Hochanspannung. Selbst die Ziege schien gespannt zu lauschen. Einzig Janasz weinte und sagte hin und wieder etwas wie “Ich habe sie nicht retten können!” oder “Was sie wohl mit ihr machen?”. Die Kapitänin schickte ihn nicht weg.

Aus den Vorschlägen leitete sie recht schnell ab, dass sie Unterstützung brauchen würden und die Lage sehr schlimm war. Die Zwergencrew hatte gewusst, wie die Crew der Maare angreifen würde. Das hieß, es wusste wohl mindestens Zarin Katjenka Bescheid. Das Geheimnis war viel wert. Selbst wenn die Zarin von der Flotte der Maare als eines der weniger beängstigenden Gegneranen eingestuft wurde, konnte das Zarenreich durchaus Finanzierung gebrauchen und das Geheimnis teuer verkaufen. Entscheidungen dieser Art hatte die Zarin bereits häufiger gefällt.

Es blieb nun einmal so: Die Landvölker, die irgendwo spürbar in der Weltpolitik mitmischten, waren gefährlich und verhielten sich respektlos.

Sie sandten den Briefwels, der noch an Bord war, Richtung Schattenforelle. Von dort war am schnellsten Hilfe zu erwarten. Sie baten darum, gleich weitere Schiffe aus der Flotte zu informieren.

Kamira war gerade vom Tauchdeck zurückgekehrt, wo er den Wels mit Post in den Ozean entlassen hatte, als Jentel meldete, dass das ihnen folgende Forschungsschiff stark an Fahrt verlor und dass alles, was as erkennen konnte, auf eine bewusste Entscheidung hindeutete.

“Sollen wir ebenfalls Fahrt reduzieren?”, fragte Rash.

“Sie würden dadurch bemerken, dass wir nicht versuchen, davonzusegeln, sondern sie locken möchten.”, widersprach Smjer.

Sindra nickte schwer. “Reduziert die Fahrt, aber nur soweit, wie das durch Ungeschick passieren könnte.”, schrie sie. “Stellt euch an, wie vor drei Jahren noch!”

Smjer konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und auch andere lachten kurz.

Sie hatten ohnehin wenig Raum für gespieltes Ungeschick. Der Abstand wurde zwar zunehmend langsamer größer, aber gerade als sie überlegten, dass sie das Forschungsschiff ja länger noch sehen würden als umgekehrt, weil Jentel sagenhafte Nachtsichtfähigkeit hatte, meldete letzteran, dass das Forschungsschiff wendete.

“Wenden! Aufholen!”, kommandierte Sindra. “Anpeilen, dass wir südlich von ihnen landen.”

Plan B. Sie würden versuchen, ihnen den Weg nach Grenlannd wenigstens schwer zu machen, sie zu irritieren, die ja im Gegensatz zu ihnen nicht einmal genau wussten, wo Grenlannd lag, und irgendwann würde die Schattenforelle zu ihnen stoßen. Sie könnten mit zwei schnelleren Schiffen das eine langsamere vielleicht einschüchtern und belagern, bis sie Marah rausrückten und die Heimfahrt anträten. Es war realistisch genug, um auf Erfolg zu hoffen, und der beste Weg, den sie hatten.

Aber es kam alles ganz anders. Eigentlich nicht sehr anders, nur mit vertauschten Rollen: Das Forschungsschiff trat unerwartet früh den Heimweg an. Vielleicht, weil sie tatsächlich Angst vor diesem grünen Schiff hatten, das in der Lage gewesen wäre, das Forschungsschiff zum Sinken zu bringen, indem sie das Loch wieder öffneten.

Es peilte einen bekannten Fischgrund an, einen, in dem verschiedene weniger hochseetaugliche Angelschiffe des Zarenreiches Netze ins Wasser tauchten. Ein Ort, den Nixen eigentlich besonders mieden. Vielleicht wusste die Forschungscrew das, aber vielleicht war es auch einfach nur die Hilfe, die sie von dort zu erwarten hatte, die sie dorthinlockte. Sindra wagte sich sehr dicht in den gemiedenen Bereich heran. Mit einem Schiff wie der Schattenmuräne war dies durchaus nicht so riskant, wie etwa ein Schwimmausflug dorthin. Aber die Forschungscrew schaffte es, die Angelschiffe auf ihre Seite zu ziehen. Sie bildeten einen Halbkreis, den sie versuchten, um die Schattenmuräne zu schließen. Die Schattenmuräne war zu schnell dafür, aber konnte auf diese Art nicht mehr dem Forschungsschiff nahe sein.


Es war eine schlimme Niederlage, die sie alle spürten, als sie wieder allein und fern von Küsten im süd-ost-maerdhischen Meer beidrehten und auf Post oder wenigstens Briefwelse warteten, die sie dann ihrerseits mit Hilferufen losschicken konnten. Janasz weinte nicht mehr, übergoss sich stattdessen inzwischen mit Selbstvorwürfen, es wäre alles seine Schuld.

“Inwiefern?”, fragte Sindra sachlich.

Das war so ein Moment der Anspannung, in dem vielen sonst sehr gelassenen Personen der Geduldsfaden riss und sie das erstbeste Crewmitglied fertig machten, das gerade nervte.

“Ich hatte ein ungutes Gefühl, bevor wir dieses Mal losfuhren.”, begründete Janasz.

“Das ist normal.”, sagte Sindra. “Wir haben an einem Ort angegriffen, an dem wir sonst nicht angreifen, mit einer anderen Crew und ein für uns ungewohntes Schiff.” Sie lächelte sogar ein bisschen, als sie das sagte. “Gibt es etwas, was du weißt, was wir wissen sollten?”

Janasz zögerte und schüttelte dann den Kopf. “Nein.”

“Dann ist es nicht deine Schuld.”, beruhigte die Kapitänin. Sie seufzte und wandte sich an die Crew: “Das Forschungsschiff wird inzwischen im Hafen von Mizugrad eingelaufen sein. Zumindest ist das das sicherste und wahrscheinlichste Ziel.”, sagte sie laut. “An Land haben wir keine Macht. Ich habe gerade keinen Plan und glaube, dies ist eine Situation, die wir mit der ganzen Crew der Maare bereden sollten.”

“Uns kommt entgegen, dass Herbst mit Herbststürmen kommt und das Landsvolk sich ohnehin weniger zutraut, den Ozean zu überqueren.”, erinnerte Smjer. “Wir können uns ungefährlicher alle gemeinsam treffen und werden nicht auf viele Forschungsschiffe acht geben müssen.”

Dieses war ja nur so überstürzt losgefahren, weil Information an Land geflossen waren, dass die süd-ost-maerdhische See derzeit unbewacht sein könnte.

Sindra nickte. “Da es aktuell nichts gibt, was wir tun können, schlage ich vor, dass wir versuchen, uns auszuschlafen.”, sagte sie.

“Als ob ich schlafen könnte.”, grummelte Ushenka, die inzwischen wieder an Deck war.

Die Kapitänin ging nicht darauf ein. Sie selbst trank noch einen Tee an Deck, um Abstandgewinnen zu ermöglichen, wie sie sagte. Smjer und Rash setzten sich zu ihr. Beides Leute, mit denen er gut schweigen konnte, und das taten sie im Wesentlichen auch.


Smjer hatte ohnehin unruhig geschlafen, sodass er sich zunächst nicht sicher war, ob ihn wirklich Sindras Brüllen aus dem Schlaf gerissen hatte, oder ein Traum.

“Alle zurück auf ihre Posten!”, brüllte Rash, den Befehl ins Unterdeck weitergebend.

Es war also kein Traum. Das war kurzer Schlaf gewesen. Als Smjer an Deck gelangte, waren die Segel bereits voll gesetzt.

“Kurs Raum!”, befahl Sindra.

Das war ein Befehl, der nicht besagte, in welche Richtung sie segeln würden, sondern wie sie sich zum Wind ausrichteten, nämlich so, dass der Wind von schräg hinten kam. Es war der schnellste Kurs. Sindra wollte Fahrt aufnehmen, um eine Bedrohnung abzuhängen, und sie wollte dazu das Tauchdeck leerfahren. Dafür war eine gewisse Mindestgeschwindigkeit nötig.

“Es wird nicht reichen, bei der Flaute.”, brummte Smjer.

Sindra nickte. “Kaum.”, sagte sie leise. “Ideen?”

Smjer blickte sich um. Wenn Sindra darauf setzte, das Tauchdeck leerzulenzen, dann mussten etwaige verfolgende Schiffe für Landschiffsbau ungewöhnlich schnell sein. Und ihm stockte einen Augenblick der Atem, als er das Schiff sah: Es war die Schattenscholle. Kein Schiff aus dem Landschiffsbau, sondern das verschollene Schiff der Flotte.

Dieses Landsvolk wusste nicht, wie Segel auf so einem Schiff richtig gestellt würden. Bei viel Wind hätten sie es wahrscheinlich mit geschlossenem und Luft befülltem Tauchdeck leicht ausversehen gekentert. Aber es war wenig Wind. Zu wenig Wind, um ihr eigenes leerzusegeln. Und auf diese Art war die Schattenmuräne langsamer, hatte zu viel Wasserwiderstand. Auf dem Deck standen mit Messern und anderen Schneid- und Spießwaffen gerüstete Zwerge in Bereitschaft, soweit Smjer das erkennen konnte, aber noch trennte sie eine brauchbar große Distanz.

“Übergib mir das Kommando.”, sagte Smjer sachlich.

“Smjer übernimmt das Kommando!”, brüllte Sindra ohne zu zögern über das Deck. “Seine Befehle sind meine Befehle!”

Er hörte Rashs Echo im Unterdeck. Ein kurzes Gefühl der Bewunderung durchströmte ihn. Sie hatten es einmal abgesprochen, wann Smjer Sindra das Kommando abnehmen würde. Sie hatte auch damals nicht gezögert, es zu akzeptieren, aber sich alles genau erklären lassen. So genau, wie er bereit gewesen war, darüber zu reden. Nun hatte er eher damit gerechnet, aber sie hatte auch jetzt nicht mit der Wimper gezuckt.

“Rash, nimm die Ziege unter Deck!”, befahl Smjer.

Rash wäre die einzige Person, die in der Lage sein würde, Aga beizubringen, dass das nun eine notwendige und unumgängliche Sache wäre. Alle anderen Crewmitglieder außer Aga würden seinen Befehlen rasch Folge leisten können, daher war dies der zeitkritischste und erste, den er erteilte. Und Rash wäre gleichzeitig in der Lage, Befehle weiterzugeben.

Während Rash sich um die Ziege kümmerte, so liebevoll, dass es Smjer berührte, zählte er Personen. “Wir tauchen ab.”, informierte er die Crew. “Und wir sind mindestens eine Person zu viel. Es wird sehr eng. Kanta?”

Kanta trat vor, schloss die Augen, öffnete sie wieder und bebte vor Angst.

“Ich male mir für dich die besten Chancen aus, dass du von den uns Folgenden aufgelesen wirst und dann vertreten kannst, dass du nicht zu uns gehörst.”, informierte er.

Kanta war relativ groß, aber vielleicht nicht groß genug. Vielleicht müsste er noch eine Person fragen. Es war eine furchtbare Situation. Aber er war geschult zu tun, was musste.

“Ich gehöre zu euch.”, sagte Kanta fast tonlos.

Smjer ging nicht darauf ein. “Du weißt, wie Forschung funktioniert und kannst glaubhaft behaupten, dass du von uns bei einem Überfall einer anderen Forschungscrew gefangen genommen worden wärest.”, fuhr er fort. “Wir können dich in Marahs Bootsschale aussetzen und du hast die besten Überlebenschancen von allen Fußpersonen an Bord damit. Du kannst außerdem gut lügen.”

Kanta war eine mutige Person. Smjer konnte ihr fast dabei zusehen, wie in ihr seine Idee Form annahm. Aber dann zerbrach die frische Überzeugung wieder und wandelte sich in Entsetzen um: “Ich bin weniger wichtig als die Ziege?”

“Die Ziege hat nie einer Person etwas getan und wird es auch nicht.”, schrie Smjer.

Kanta zuckte zusammen. Überzeugt schien sie nicht. Und Smjer wünschte sich, er hätte doch nicht sie gefragt, weil er gerade Wut auf sie hatte und Wut sollte kein Antrieb sein, aus dem eine Person um so einen Einsatz für die Crew gebeten würde.

“Ich habe das Kommando nicht mehr. Darf ich einen Vorschlag unterbreiten?”, mischte sich Sindra ein.

Smjer rollte fast die Augen, aber stimmte schließlich zu. Sindra war nicht übereilt mit Entscheidungen, nie gewesen. Er kannte sie bloß noch nicht in einer Position, in der sie nicht Befehlsmacht hatte.

“Ich würde gern gehen.”, sagte sie. “Ich weiß, das klingt selbstaufopfernd, aber das ist es nicht: Ich kann die Jolle sogar auch segeln und steuern, das habe ich rudimentär gelernt. Und ich bin groß.”

Deshalb würde es mehr Platz geben. Der Platz würde reichen. Er hätte vor der Aufnahme der Schollencrew ohne Probleme für alle an Bord gereicht, aber für zwei Crews war die Schattenmuräne eigentlich nicht ausgelegt. Es ergab leider Sinn. Smjer nickte. “Aye.”


Obwohl er das Manöver nur während der Landcrew-freien Einweihungsfahrten geübt hatte, tat er es fast wie im Schlaf. Stand neben sich. Es verlief trotzdem sehr präzise und so, wie es sollte:

Der fußlastige Teil der Crew wurde ins Nixendeck gepfercht, wo sie eng aufeinander hockten. Die Segel wurden eingeholt und auf bestimmte Weise über das Deck gebunden. Dann löste er den Mechanismus aus, der das Bootsmaterial zum Leben erweckte. Es schloss sich und zog sich zusammen, wie eine Schnecke, die sich ins Haus verkroch, und vielleicht war das Bootsmaterial auch fern verwandt mit Schnecken. Die Dichte des Materials erhöhte sich, bis die Ladung schwer genug war, die Schattenmuräne trotz des darin eingeschlossenen Luftraums unter Wasser zu ziehen. Alle Nixen blieben außerhalb des Schiffsrumpfs und schoben die Schattenmuräne unter Wasser an. Davon. Wasserdampf hatten sie auch dabei aufsteigen lassen, sodass die Crew, die sich nun auf der Schattenscholle befand und ihnen folgte, nicht wusste, wohin sie verschwunden sein könnten und sich das alles, wie immer, am besten mit Magie erklären ließe.

Und mitten aus dem Dampf heraus segelte Sindra in der für sie viel zu kleinen, kippeligen Jolle und gab der Schattenscholle ein neues Ziel. Smjer sah den tief liegenden Rumpf der kleinen Jolle von unten. Wäre er nicht unter Wasser gewesen und hätte die Luft ohnehin angehalten, hätte er es spätestens jetzt gemacht, als er den letzten Zeichen seiner Kapitänin nachblickte, die ihn über vier Jahre hinweg mit vollstem Respekt befehligt, die schlimmsten Zeiten mit ihm durchgestanden und auf ihre Art Mut und Hoffnung verbreitet hatte.