Marah wurde von Ushenka großgezogen und hat die Flotte der Maare quasi mitgegründet. Sie ist verliebt in die Kapitänin.

Content Notes:

Tierleid, Shaming von Essgewohnheiten, Mord an mehreren Personen, Trauer, Hunger.


Stille

Marah

Heute Nacht sangen sie nicht. Die Flaute demotivierte Marah extrem. Schlecht gelaunt lehnte sie im Mastkorb neben Jentel am Mast, ihre Schulter an saine geschmiegt.

“Ich mag Amira.”, teilte as ihr mit.

Das versprach ja wieder, interessant zu werden. “Du magst ein Assassinan. Einen Menschen.”

“Und du hast furchtbar schlechte Laune.”, teilte Jentel ihr mit.

So wie as klang, hatte as eine Weile mit sich gerungen, ob as wirklich das Offensichtliche aussprechen sollte. Marah seufzte. “Ja, sehr. Hättest du lieber heute deine Ruhe vor mir?”

Jentel war eine Person, die keine Probleme gehabt hätte, Marah einfach ins Gesicht zu sagen, wenn dies der Fall wäre. Damit, dass as eine Weile nicht reagierte, überraschte as sie schon wieder. “Ich kann wirklich nicht leugnen, dass deine Gesellschaft heute eher unspaßig ist.”, gab as schließlich zu. “Aber morgen kommt Wind auf, wenn Kamira das Wetter, wie immer, einigermaßen richtig vorhersagt, und dann bist du wahrscheinlich wieder weg. Und dann ertrage ich dich heute lieber noch einmal so, als für längere Zeit gar nicht.”

Marah musste unweigerlich grinsen. Sie kannte wirklich keine andere Person, die ihr so etwas so direkt ins Gesicht gesagt hätte. Nun ja, Sindra war auch relativ direkt, aber Sindra war nie genervt. “Wind.”, sagte sie.

“Das heitert dich auf, was?”, fragte Jentel mit sarkastischem Unterton.

“Sei doch froh!”, spaßte Marah zurück.

Jentel blies ihr ins Gesicht. Marah wandte sich lachend und sich scherzhaft beschwerend ab. “Woher weißt du, dass ich nur auf Wind warte?”

“Ich weiß es nicht sicher.”, antwortete Jentel. “Aber Amira ist sicher nicht ohne Grund an Bord. Solche Veränderungen sind für dich oft Grund zu verschwinden. Vielleicht musst du Kleider holen, wie damals für Kanta. Oder Messernachschub.”

“Messernachschub, weil sie ein Assassinan ist?”, fragte Marah belustigt.

Jentel nickte. Vielleicht war das Grinsen ein selbstgefälliges darüber, dass as Marah tatsächlich aus ihrem Schlechte-Laune-Loch heraus hatte holen können. “Assassinan ist sie also. Dafür brauchte sie die Endung ‘-an’. Wir hatten über Neo-Endungen in Sprachen gesprochen.”

“Oh, mir war nicht bewusst, dass noch nicht alle wissen, dass sie Assassinan ist.”, fiel Marah auf. Ihr wurde ein bisschen heiß dabei. Sie plauderte selten Dinge aus, aber wenn es passierte, hatte sie jedes Mal ein schlechtes Gewissen.

“Ich kriege hier oben nicht alles mit. Vielleicht war das bekannt.”, versuchte Jentel sie zu beruhigen.

“Warum magst du sie?” Das war die spannende Frage von vorhin. Und vielleicht hatte sie, jetzt da ihre Laune angenehmer war, bessere Chancen auf Antworten.

Jentel grinste. “Sie ist sehr flexibel im Kopf.”, sagte as. “Wir haben uns über Geschlechter unterhalten. Sie ist da nicht so festgefahren. Sie mag Sprache verändern, damit sie besser zu Bedürfnissen passt und weniger weh tut. Sie ist sehr rücksichtsvoll.” Jentel machte eine kurze Betonungspause und grinste noch breiter. “Und sie hat Rash ganz schön den Kopf verdreht.”

“Warum interessiert dich das?”, fragte Marah skeptisch. Die Gedanken bis zu diesem letzten verstand sie. Aber Jentel war normalerweise keine Person, die sich für Romantikdinge interessierte.

“Ich gönne Rash, glücklich zu sein.”, sagte Jentel schlicht.

Das stimmte Marah plötzlich nachdenklich. “Ich eigentlich auch.” Sie erinnerte sich zurück daran, wie Rash mit der Ziege umgegangen war. Niemand konnte leugnen, dass Rash sich um Aga am meisten gekümmert hatte. Aber auf der anderen Seite aß Rash totes Tier. Jentel hatte ihr mal erklärt, dass Rash ein gesundheitliches Problem hatte, wenn Rash keines aß. Für Marah war das schwer vorstellbar. Sie hatte es akzeptieren wollen, aber es fiel ihr schwer, das zu tun. Vielleicht wäre es ihr weniger schwer gefallen, wenn Rash nicht auch Elb gewesen wäre. Elben schickten die meisten Forschungsschiffe. Gerade Elben waren außerdem in Sagen als Volk dargestellt, das auf das Töten von Lebewesen, um sie zu essen, weitgehend verzichtete. Erst durch den aufkeimenden kulturellen Austausch unter den Völkern hätte sich das verändert, hieß es.

Marah sagte nie etwas dazu, kämpfte weiter gegen ihr Unbehagen an. Vielleicht sollte sie irgendwann mal mit Rash darüber reden, um sich besser da hineinfühlen zu können. Und dann wiederum wollte sie Rash auch nicht in irgendwelche Ecken drängen, wenn es für Rash eben wirklich nicht anders ginge.

Sindra mochte Rash auch, fiel Marah ein. Ja, Marah gönnte Elben im Allgemeinen wenig, aber Rash gehörte zu den wenigen Ausnahmen, denen Marah Gutes wünschte, sogar wenn das, was sie dabei gönnte, glückliche Gefühle für einen Menschen waren. Sie nickte. “Danke, ich habe mal wieder ein wenig reflektiert.”, sagte sie. Und hatte das Gefühl, dass es da noch viel mehr zu reflektieren gab. Nicht mehr heute.

“Ich gönne dir auch, glücklich zu sein.”, sagte Jentel. “Bist du es?”

Marah nickte. “Schon, ja.” Und dann dachte sie an den Wind. “Es kommen gefährliche Zeiten auf uns zu. Befürchte ich.”

Jentel nickte ernst. As hätte einen Witz darüber machen können, dass ein Leben, das aus Überfällen auf Schiffe bestand, die etwas dagegen hatten, überfallen zu werden, ohnehin nicht dafür vorgesehen war, ungefährlich zu sein. Aber as ließ es bleiben. “Ein Assassinan an Bord, auch, wenn es niemanden bisher getötet hat, sendet da eine gewisse Botschaft. Ich dachte mir das schon.”

Von der Schattenscholle war nun seit einer Woche keine Nachricht mehr eingetroffen. Sie befürchteten, dass auf jener ähnliches passiert war wie bei ihnen. Im besten Fall. Vielleicht ging es der Crew gut und sie hatten lediglich Bedenken, dass der Schriftverkehr nicht mehr sicher wäre, und ihn deshalb vorübergehend eingestellt. Aber es konnte auch viel Schlimmeres bedeuten.

Sobald Wind wäre, da hatte Jentel recht, würde Marah versuchen, die Schattenscholle zu erreichen. Wobei sie natürlich nach zehn Tagen ohne Nachricht gefühlt überall sein könnte.

Marah hatte mit Smjer und Sindra in den vergangenen Tagen darüber gebrütet, an welchen Orten sie am ehesten sein könnte. Sie kannten ihre Routen und Ziele einigermaßen. Sie wussten auch über die Forschungsschiffe in der süd-ost-maerdhischen See Bescheid. Es war eine gefährliche Region, weil von der Küstenlinie Forschungsschiffe von gleich drei Völkern in verschieden regelmäßigen Abständen versuchten, die Schattenscholle zu passieren.

Das Mandulin-Volk war finanziell nicht gut aufgestellt und hatte immerhin erst einen Versuch gewagt. Aus dem gleichen Grund war es ein sehr kleines, nicht sonderlich hochseetaugliches Schiff gewesen, das besonders schwer auszurauben gewesen war, weil die Bilge kaum einen Meter gemessen hatte. Und weil sie im Mandulin-Volk kein Informantan hatten, das sie hätte vorher über Details der Crew und des Schiffs in Kenntnis setzen können. Sie hatten Informantanen in den benachbarten Ländern und damit gerechnet, dass die Pläne des Mandulin-Volks nicht an jenen vorbeigehen würden, weil das Mandulin-Volk nicht selten etwa vom benachbarten Zarenreich der Zwerge Unterstützung erbat und bekam, aber in diesem Fall hatte es interessanterweise darauf verzichtet. Die wenigen Informationen, die sie zu diesem Forschungsschiff erhalten hatten, waren dazu über mehrere Breitengrade nach Norden geradeso rechtzeitig im minzteraner Hafen bei Ushenka angekommen.

Eher aus dem Westen hatte es nun dreimal das Menschenvolk des Königreichs Namberg versucht. Das Königreich lag eigentlich im Gebiet der Schattenmuräne, kaum südlich der Bantine, aber das Königreich nutzte als Ausgangspunkt für weitere Seereisen wegen der Meeresströmungen einen Partnerhafen im westlichsten Zipfel des süd-ost-maerdhischen Zarenreichs der Zwerge. Die Zarin war nicht glücklich darüber, aber saß genügend unter Druck, es zu akzeptieren.

Während über lange Jahre Minzter mit der Anzahl an Versuchen vorne gelegen hatte, Grenlannd auf dem Wasserweg zu erreichen, – wie auch sonst –, kamen seit Kurzem die meisten Schiffe aus eben dem süd-ost-maerdhischen Zarenreich der Zwerge unter Zarin Katjenka. Die Schattencrew nannte es oft bloß das Zarenreich der Zwerge ohne den Zusatz süd-ost-maerdhisch, was eigentlich nicht korrekt war. Es gab noch andere zwergische Zarenreiche, aber diese lagen binnen, in Gebirgen, waren für die Schattencrew uninteressant. Die Besonderheit jener Schiffe aus dem Zarenreich war nicht nur, dass die Zwerge auf Geschwindigkeit und Menge setzten, um die Schattenscholle zu passieren, was immerhin ein geschickter Ansatz war, sondern auch, dass die Zwerge versuchten, im Auftrag der Zarin Katjenka mit der Flotte der Maare zu verhandeln. Die Maare hatten wenig Interesse zu verhandeln, aber nutzten die Gesprächsbereitschaft, um der Zarin ihre Motive zu übermitteln, während sie hofften, dass der Gruseleffekt darunter nicht litt.


Ein paar Stunden vor Morgengrauen verzog sich Marah ins Nixendeck, um zu schlafen. Jentel würde saine Nachtschicht noch zu Ende machen, irgendwann mit Janasz frühstücken und dann nachkommen. Aber als as dann kam, schlief Marah schon fest. Und als sie wieder aufwachte, wehte tatsächlich endlich wieder Wind.

Marah tauchte, um sich umzuziehen, zu ihrer Kleiderkiste ins Lenzdeck, das auch oft Tauchdeck genannt wurde, weil es meist unter Wasser stand. Es war so praktisch, Kleidung in Kisten mit Löchern unter Wasser auf einem Schiff zu lagern, das schaukelte, und sie dabei auswusch. Es mochte unpraktisch für Leute sein, die nicht gern nasse Kleidung trugen. Aber das Problem hatte Marah ja nicht.

Sie wechselte ihr Nachtkleid gegen Reisekleidung. Jene hatte allerlei Taschen, in denen ein Kompass steckte, ein kleines Fernglas, ein Marlspieker zum Knoten lösen oder zum Spleißen von Seilen – die Arbeit, knotenfrei Seile zu verbinden, hieß spleißen –, scharfe Messer und weiteres klassisches Bootswerkzeug. Sie hatte die Kiste kaum geschlossen, als sie eine vertraute Berührung auf ihrem Rücken wahrnahm. Endlich! Der Briefwels, der sich auf ihrem Körper niedergelassen hatte, drehte sich streichelnd um sie herum, als sie sich auf den Rücken drehte. Sie strich dem Tier vorsichtig über die Flanken. Es schloss dabei genießend die Augen. Marah inspizierte den Wels gründlich auf mögliche Verletzungen, bevor sie endlich die nah am Körper befestigten, dünnen Taschen öffnete und einen Brief herauszog. Dann würde sie also nicht sofort abfahren, sondern erst ein weiteres Mal mit Smjer und Sindra sprechen. Es war der Briefwels, der zwischen der Schattenmuräne und der Schattenscholle pendelte. Er war vielleicht ein Drittel so groß wie sie. Er war unverletzt, aber forderte noch eine längere Streicheleinheit ein.

“Kommst du mit?”, fragte Marah auf Sirenu. “Ich fahre heute wohl zur Schattenscholle.”

Für die Schattenscholle hatten sie ein eigenes Wort in der Sprache entwickelt. Wie gar nicht mal wenige Tiere verstanden Briefwelse sehr wohl verschiedene komplexe Sprachen mehr oder weniger gut, aber sprachen sie selbst nicht. Marah wusste nie genau, wie viel sie verstanden. Aber sie war sich relativ sicher, wenn der Briefwels mitkommen wollte, dass sie ihn später immer noch hier vorfinden würde und dass er dann freiwillig in ihr Segelboot schwimmen würde. Es wäre gut, wenn er mitkäme. Dann würde er vielleicht Hilfe holen, wenn ihr etwas passieren sollte.

Sie streichelte den Wels, bis sie Luft holen musste, und dann noch einmal, weil er aufgeregt um sie herumschwamm und vorsichtig an ihrer Haut nuckelte. Das war auch ein wunderschönes Gefühl. Als sie endlich genug hatten, zog Marah sich zu Ende an. Das Futtergitter musste sie dann auch wieder auffüllen, bevor es losginge.

Marah ging vor allem tagsüber nicht gern an Deck. Es trennten sie dort mehrere Rutschen vom Wasser. Dieses Schiff mochte so hybridfreundlich wie möglich gebaut sein, aber diese Entfernung von Umgebung, in der sich Marah natürlich fortbewegte, war ihr unangenehm. Abends zum Singen war das etwas anderes, aber nun ging es darum, Sindra und Smjer einzusammeln, um den Brief zu besprechen.

Sie trafen sich dazu im hintersten Ende des schmalen Hecks, wo sie nur schwer belauscht werden konnten. Die Windrichtung war dafür ungünstig und der Niedergang lag eher mittig. Viel Raum für Privatgespräche bot das Schiff nicht. Smjer lag halb auf einem seiner Rollbretter. Wie er es schaffte, dass die Tampen, mit denen diese am Schiff befestigt waren, nie beim Rollen im Weg waren, war Marah schleierhaft. Sindra saß einfach in einem Schneidersitz auf den Planken und nahm den Brief entgegen. Sie entfaltete das Papier und ihre Brauen hoben sich schneller, als Marah vermutet hätte, dass irgendjemand lesen könnte. Sie reichte den Brief an sie weiter und sie verstand: Es standen lediglich Koordinaten darauf, sowie eine schlechte Zeichnung von irgendetwas. Das eine waren Murmeln, vielleicht, und das andere ein Kochtopf. Sie spürte in den Muskeln ihrer Stirn, dass sie selbige ebenso runzelte, und reichte den Brief an Smjer weiter, der wiederum grinsen musste.

“Sie sind nicht so zeichentalentiert.”, meinte er trocken. “Ich schätze, das soll Knollenkohl darstellen.”

“Eine der vielen Möglichkeiten, die mir eingefallen sind.”, erwiderte Sindra. “Die Koordinaten sind hilfreich. Ich zeige euch das gleich auf der Karte. Der Ort fällt mit in das Gebiet, das wir uns überlegt haben, ist einigermaßen vor Ufer, aber nicht zu dicht.”

Dass Sindra das einfach so aus dem Kopf wusste, hätte Marah vielleicht nicht sehr überraschen sollen. Aber sie bewunderte es trotzdem. “Was bedeutet das? Dass sie uns keinen Text schreiben?”, fragte sie.

“Vermutlich, dass die Crewmitglieder, die eigentlich schreiben könnten, nicht abkömmlich sind.”, sagte Sindra sachlich.

“Nichts Gutes.”, fügte Smjer hinzu. “Darf ich einen Vorschlag machen?”

“Selbstverständlich.”, lud Sindra ein.

Es war jedes Mal so. Smjer fragte, als wäre nicht klar, dass er mit dem Vize-Kommando durchaus eines Tages vielleicht die Führung über das Schiff übernehmen würde, und Sindra versuchte, ihm zu vermitteln, dass sie ihn als gleichwertig auffasste. Marah hoffte, dass es nie dazu kommen würde, dass er das Kommando übernehmen würde. Sie mochte Smjer, aber es würde bedeuten, dass Sindra es eben nicht mehr tat, was dann verschieden schlimme Gründe haben konnte, aber Marah fiel keiner ein, der ihr gefallen hätte.

“Die Schattenforelle hat gerade Einweihungsfahrt gehabt. Eigentlich sind noch ein paar Törns vor dem Einsatz vorgesehen. Aber so wie ich das gerade sehe, braucht die Schattenscholle Hilfe und kann derzeit wahrscheinlich keine Überfälle fahren.”, leitete er ein. “Ich schlage vor, Marah fährt vor, aber wir planen ein, deren Revier zu übernehmen, und lassen die Schattenforelle verfrüht unseres übernehmen.”

Sindra nickte ohne zu zögern. “Wir sind uns einig.”

“Dann muss ich auf meiner Rückroute einberechnen, wo ihr dann sein werdet.”, murmelte Marah. Es war absolut möglich. Aber sie merkte, dass sie sehr traurig klang.

“Brauchst du Hilfe dabei?”, erkundigte Smjer sich. “Oder besorgt dich die Lage?”

“Nein, mich bedrückt etwas anderes. Es ist nicht so wichtig.”, widersprach Marah.

“Ushenka?”, riet Sindra richtig. Sie kannten sich so gut inzwischen.

Marah musste fast wieder schmunzeln: Smjer bemerkte ihre Stimmung und Sindra zog die richtigen Schlüsse. Sie nickte. “Wir waren bisher immer etwa eine Tagesreise zu ihr entfernt. Wenn wir das Revier der Schattenscholle übernehmen, dann werden es eher drei sein. Und weil ich ja nicht nur Hin- sondern auch Rückreisen rechnen muss, summiert sich das dann und ich wäre eine Woche weg, wenn ich Pakete von ihr abhole. Und sie dabei sehe.”

Sindra nickte. “Das wäre dann wohl so. Möchtest du dann auf der Schattenforelle anheuern?”

“Nie!”, sagte Marah energisch. “Ich gehöre zur Schattenmuräne. Zu euch. Zeiten ändern sich eben einfach, und das nicht immer in einer schönen Weise. Wir führen Krieg. Da passiert so etwas.”


Marahs Körper fühlte sich immer noch geliebt an, als sie in ihrer Jolle saß, Kurs südost, einen Briefwels zu ihrer Fluke, im Wasser, das in der leichten Bootsschale schwamm, und zwei Säcke gekochten Knollenkohl in den Bordstaschen. Sindra hatte sie zum Abschied sehr ausgiebig in den Arm genommen. Das spürte sie noch eine Weile nach.

Marahs Jolle war eine Einhandjolle für Nixen, eine schnelle, die Marah liebte, als wäre sie ein Teil von ihr. Es gab eine Schot, mit der sie über einen Flaschenzug das Segel fierte oder dichtholte, einen Rollsitz, mit dem sie ihr Gewicht dorthin fuhr, wo es für den Gewichtstrimm hinmusste, ein paar Gurte zum Einhaken der Fluke, wenn sie sich weiter rauslehnte, und eine Klapp-Pinnensteuerung mit Teleskoppinnenausleger. Der Wind strich von der Seite ins Segel, was dafür ausreichte, dass sich die Jolle etwas aus dem Wasser hob, nur mit den Foils Berührung mit den Wellen hatte und darüber hinwegraste, sich manchmal von Wellen schieben ließ. Im Gegensatz zur Schattenmuräne reagierte die Jolle sofort auf jede Bewegung, jede Veränderung ihrer Körperhaltung. Jede noch so winzige Böe musste sie mit ihrem Körpergewicht auffangen, sowie durch leichtes Anpassen der Segelstellung, für einen kurzen Moment.

Marah war in der Abenddämmerung losgesegelt und orientierte sich nun, als die Nacht hereinbrach, an den Sternen. Aber auch an den Strömungen, die sie spürte, halfen ihr bei der Orientierung, und sogar die Walgesänge. Manche Wale sprachen mit ihr. Das gehörte für viele Nixen dazu. Sie antwortete. Und sie sang während der Fahrt. Auch das gehörte für sie dazu. Sie hatte immer gesungen, wenn sie alleine war.

Sie segelte die ganze Nacht hindurch und bis in den Tag hinein, bis sie ein Schiff erblickte. Es war kein Forschungsschiff, von dem sie gewusst hätte, und kein Schiff ihrer Flotte. Sie passierte einen Handelsfahrweg. Es war nicht ungewöhnlich, dass hier irgendein Handelsschiff vorbeikam. Aber sie wollte trotzdem keinesfalls gesehen werden. Also kenterte sie ihre Jolle durch. Dazu wählte sie kurzzeitig einen Amwindkurs, einen Kurs, bei dem der Wind schräg von vorn kam, und bei dem die Jolle besonders krängte. Als sie so geneigt im Wasser lag, dass sie sie gerade so mit ausgestrecktem Körper als Gegengewicht am Umkippen hindern konnte, schmiss sie sich auf die andere Seite, sodass die Jolle ausreichend Schwung hatte, um sich auf den Kopf zu drehen. Sie ließ die Schot locker, als das Segel das Wasser berührte, damit es beim Durchkentern möglichst wenig Widerstand bot. Dann war alles still. Das Segel fungierte gleichzeitig als Treibanker und verhinderte, dass die Jolle zu sehr abdriften würde. Marah holte das Schwert ein, ein flaches Brett mit stromlinienförmig scharfen Kanten, das im aufgerichteten Zustand Abdrift verminderte. Sie würde es später wieder stecken, um es von außen zum Aufrichten als Hebel zu benutzen, aber gerade war das Schiff von außen unauffälliger, wenn es eingeholt war.

Sie beobachtete das Handelsschiff mit ihrem Fernglas durch eine der Lenzluken. Sie hatte zwei Lenzluken im Rumpf, durch die bei viel Fahrt das Wasser aus der Jolle gesogen wurde. Sie waren klein, aber ihr Fernglas war es auch und hatte außerdem eine Spiegeltechnik wie ein Periskop, sodass sie von unten um die Ecke sehen konnte.

Das Schiff bemerkte sie nicht. So verhielt es sich zumindest. Aber ein braungrüner, winziger Schiffsrumpf in der Größe eines kleinen Wals in großer Distanz fiel Landsleuten meistens nicht auf. Marah nutzte, dass sie ohnehin gekentert war, um die Gurte im Boot so umzuspannen, sodass sie sich zum Schlafen hinlegen konnte. Der Briefwels hängte sich dabei so an ihren Körper, dass seine Kiemen unter Wasser verblieben, aber ihre Hände seinen Rücken erreichten. So ein verkuschelter Wels. Marah mochte ihn gern.

Sie segelte ungern tagsüber, aber sie tat es doch. Andernfalls hätte sie wertvolle Zeit verloren. Sie musste dafür viel öfter auf den Kompass schauen. Sie fühlte die Sonne unangenehm auf ihrer Haut brennen. Immerhin frischte der Wind noch einmal auf, so sehr, dass das erste Reff im Segel gerade so noch nicht notwendig war. Ihre Jolle war nun so schnell, wie es eben ging. Mehr Wind würde auch nichts mehr bringen. Sie schnitt die Wellenkämme ab, die sich in feinsten Tröpfchen um sie herumverteilten. Marah liebte, wie es aussah. Sie liebte, wie es sich anfühlte und roch.

Aber als sie spät in der Nacht recht sicher war, dass sie die Koordinaten erreicht hatte, war da nichts und niemand. Wenn die Personen, die die Koordinaten aufgeschrieben hatten, eigentlich nicht schreiben konnten, war natürlich möglich, dass sie auch nicht brauchbar mit Karten umgehen konnten. Aber eigentlich waren das zwei verschiedene Dinge. Marken anpeilen – und immerhin war dies ein Ort, wo eine Insel und eine weit entfernte Landmarke in Sicht waren –, in einer Karte Linien einzeichnen, Zahlen am Rand der Karte abmalen und irgendwo eintragen, war etwas, was jedes Crewmitglied zumindest oberflächlich lernte. Ein großes Schiff wie die Schattenscholle, sollte eigentlich nicht zu übersehen sein, wenn sie die Gegend großräumig abfuhr, was Marah tat. Immer wieder. Bis der Morgen graute.

Sie fragte sich, was sie nun tun sollte. Sie hatte eigentlich mit Sindra und Smjer abgesprochen, dass sie umkehren würde, wenn sie bis zum Morgengrauen nichts fand. Sie hatten viele Vorsichtsmaßnahmen besprochen. Sie hatten mit einkalkuliert, dass es ein Hinterhalt sein könnte, obwohl das mit einer solchen Nachricht eher unwahrscheinlich wäre. Trotzdem blieb Marah noch eine Weile in der Gegend. Sie hatte ihre Gründe, eine vage Hoffnung, nicht besonders groß, aber sie konnte sie nicht verdrängen.

Sie rollte ihr Segel vorübergehend ein, um sich eine Pause zu genehmigen und gönnte sich und dem Wels etwas aus ihrem eigenen Vorrat zu essen. Er nuckelte an ihrer Fluke und genoss ihre Zuwendung. Aber auch der Wels verstand, dass etwas nicht stimmte. Schließlich, zu Marahs Erleichterung, flutschte er über Bord und schwamm in eine Richtung davon. Briefwelse hatten einen seltsamen Wahrnehmungs- und Orientierungssinn. Marah hoffte, dass sie mit der Vermutung richtig lag, dass er von der vermissten Crew etwas mitbekommen hatte. Sie schmiss ihren angebissenen Knollenkohl zurück in den Segelsack, beeilte sich, das Segel mehr schlecht als recht wieder zu hissen und hakte die Öse des Falls – des Seils, an dem sie das Segel hochgezogen hatte – weniger straff gespannt ein als sonst. Dadurch war das Segel bauchiger und weniger gut getrimmt, aber das war ihr gerade nicht so wichtig. Sie nahm schon Fahrt in die entsprechende Richtung auf, während sie ihr Fernglas zückte und den Horizont beobachtete. So weit musste sie gar nicht gucken. Es war nicht die Schattenscholle. Sondern das Tauchboot, das an die Wasseroberfläche geschoben worden war.

Marah wurde mit Jubeln willkommen geheißen, als sie neben dem Tauchboot beidrehte. Beidrehen nannte sich ein Manöver, bei dem ein Segelboot einigermaßen an Ort und Stelle trieb, aber die Segel nicht flatterten. Was mit zwei Segeln besser ging als mit einem, aber mit bloß einem auch nicht unmöglich war.

Ein Tauchboot war nicht für Überwasserfahrten gedacht. Die Crew, oder was davon übrig war, hatte Angst, und wollte an Land gelangen. Aber sie hatten keine Vorräte mehr. Auch an Land würden sie nicht so leicht welche bekommen. Mit dem langsameren Tauchboot wären es vielleicht noch ein oder zwei Tagesreisen gewesen. Aber sie wussten, dass die Gegend, wo sie anlegen wollten, karge Wüstenlandschaft wäre.

Myrken war größtenteils für ihre Navigation mit dem Tauchboot verantwortlich gewesen und sey war nicht wenig stolz darauf, dass sie hier ungefähr jetzt angekommen waren. Sey hatte abgeschätzt, dass sie eine Chance haben würden, etwa diese Distanz der Küste zu erreichen, sobald Marah eintreffen würde, und hatte gehofft, dass Marah solange in der Gegend bleiben würde, dass sie sich tatsächlich abpassen würden. Die Erleichterung war der Crew sehr anzumerken, aber auch die Trauer und die Angst, die sie noch nicht losgelassen hatte.

“Knollenkohl.”, sagte Marah und deutete auf einen der Säcke, die sie an Bord hatte. “Warum ausgerechnet Knollenkohl?” Das war nicht unbedingt die Speise, die es an Bord der Schattenscholle viel gegeben hätte.

“Den konnte ich am besten zeichnen.”, sagte Yanil.

Marah musste ob der trockenen, kurzen Antwort ein wenig Lächeln. Sie mochte den Ork. Yanil war zusammen mit seinem Geschwister vor allem aus politischer Überzeugung zur Crew gestoßen, dass sie Richtiges und Notwendiges taten. Er hatte besonderes, feinmotorisches Geschick und hatte viele wichtige Kenntnisse über Gifte und weniger offensive Angriffstechniken mitgebracht.

“Das ist nicht der einzige Grund.” Jannam neigte dazu, eigentlich nebensächliche Dinge richtig stellen zu müssen. Aber gerade sprach nichts dagegen und immerhin hatte Marah gefragt. “Wir brauchten Nahrung, die wir nicht kochen müssen. Wir dachten, dass ihr vielleicht nicht erraten könnt, dass wir keine Kochmöglichkeit haben. Also haben wir etwas ausgesucht, das Yanil gut zeichnen kann, und das sich gleichzeitig im gekochten Zustand gut hält.”

Marah nickte. Das ergab Sinn. “Ihr hungert also. Was ist mit der Schattenscholle passiert? Wo ist der Rest der Crew?” Marah ahnte Schlimmes. Und leider behielt sie recht damit.

“Vermutlich tot. Von Lyria und Nischke wissen wir sicher, dass sie tot sind, bei den anderen beiden ist es aber auch sehr wahrscheinlich.”, sagte Yanil. Nischke hatte das Kommando über die Schattenscholle gehabt, Lyria das Fize-Kommando. “Wir wissen nicht wie, aber wir hatten plötzlich ein Assassinan an Bord. Lyria hat es geschafft, in den Niedergang zu gelangen, während der Teil unserer Crew, der zu dem Zeitpunkt an Deck war, wahrscheinlich ermordet wurde. Sie hat die Tür zugehalten, solange wir ins Tauchboot geflohen sind, um die Schattenscholle heimlich zu verlassen. Wir wollten auf Lyria warten, aber sie hat es nicht vom Niedergang ins Tauchboot geschafft. Myrken hat aus der Dunkelheit des Unterdecks gesehen, wie sie fiel. Wir haben alle Lenzluken geschlossen, in der Hoffnung, dass ihre Funktion dann nicht verstanden wird, und haben die Schattenscholle zurückgelassen. Nun sind wir nur noch zu sechst.”

Vier Tote, sechs Überlebende, unter letzteren drei Landsleute, drei Nixen, zählte Marah. “Oh Lyria.”, murmelte sie traurig. Und all die anderen. Sie hatte Lyria gemocht. Vielleicht geliebt. Etwas in ihr wollte zerreißen, aber sie ließ es noch nicht zu, kämpfte dagegen an.

“Es gibt viel zu trauern.”, sagte Myrken. Sey schwamm neben dem Tauchboot und war immer noch etwas atemlos vom Schieben und Tauchen. Marah stellte es sich unglaublich anstrengend vor, ein Tauchboot zweckzuentfremden, um es mehrere Tage überwiegend unter Wasser zu halten, und besonders, es eben gelegentlich für Luftaustausch hinaufzuschieben. Die drei Nixen wechselten sich vermutlich ab. “Aber wir dürfen auch Ziele und weitere Gefahren nicht aus den Augen verlieren. Die wichtigen Fragen sind: Wo kam das Assassinan her? Wo will as hin? Wir haben as einen halben Tag nach dem Überfall mit unserer Beijolle wegsegeln sehen. Du weißt, diese weniger kippelige, aber auch weniger schnelle Badewanne, die wir hatten. Wir haben dann versucht, die Schattenscholle wiederzufinden, aber es war aussichtslos. Wir haben sie vollbesegelt verlassen müssen. Wer weiß, wo sie nun treibt.”

Das war unheimlich. “Wir haben ein Assassinan an Bord.”, berichtete Marah. “Allerdings eines, das zu uns übergelaufen ist.”

“Unpraktisch nur, dass wir nicht morden und daher auf solche Dienste eher nicht angewiesen sind.”, murmelte Myrken bissig.

“Ich glaube, Amira möchte eigentlich nicht morden.” Marah berichtete, was in den vergangenen Tagen vorgefallen war.

“Ihr habt Glück gehabt. Freundliche Assassinanen sollen eine Seltenheit sein.”, kommentierte Myrken. Es klang fast so, als gönnte sey es ihnen nicht. Wahrscheinlich war das Unsinn und Myrken einfach gestresst. Oder es sprachen die verwundeten Gefühle und die Erschöpfung aus sem.

Sie hatten wohl Glück gehabt, das stimmte. Marah fühlte sich plötzlich ausgebrannt und ausgelaugt, wollte nur noch weg. Leute verarbeiteten Trauer verschieden. Mit Hunger und Hoffnungslosigkeit wahrscheinlich noch einmal anders. Aber Myrkens Zynismus griff sie in diesem Moment an, in dem sie Trauer fühlte, die Angst, was als nächstes käme, und eigentlich gerade erst angekommen war.

Marah reichte die Säcke Knollenkohl zu ihnen hinüber. “Ich könnte eine Person von euch mitnehmen.”

Myrken schüttelte den Kopf. “Wir haben darüber nachgedacht, aber nein.”, sagte sey und deutete in Richtung der gerade so sichtbaren Landmarke. “Wir fahren dorthin unter Land und hoffen darauf, dass ihr in der Lage seid, uns weiteren Proviant zu bringen und irgendwann auf die Schattenschiffe zu verteilen, die noch da sind.”

Marah nickte. “Wahrscheinlich wird ein neues eingesetzt.”

Die Nachricht schaffte es sogar, ein kurzes Lächeln in Myrkens Gesicht zu zaubern. “Ach Marah.”, sagte sey. “Du bist schon ziemlich großartig. Du hast meine Laune nicht verdient. Aber ich habe sie im Moment nicht unter Kontrolle.”

“Schon gut.”, sagte Marah. “Es ist gerade alles schlimm. Ich hole Hilfe.”


Sie weinte erst, als das Tauchboot schon lange außer Sicht war und der Abend wieder dämmerte. Die Nächte waren besser zum Weinen. Ein klarer Sternenhimmel erstreckte sich über sie. Den Briefwels hatte sie zurückgelassen. Myrken hatte sich darüber gefreut. Welse konnten sehr trostspendend sein. Als wüssten sie, worum es eigentlich wirklich ging.

Der Wind strich ihr über den Nacken, durch die Haare und in das Segel, leicht und kühl. Marah erinnerte sich an Lyrias Finger. Sie hatten keine innige, körperliche Beziehung gehabt, aber manchmal hatte Marah überlegt, ob sie Lyria hätte fragen sollen. Lyria hatte mit leichten, kühlen Fingern gern über Wangen gestrichen, oder unter Haaren im Nacken entlang. Es war einfach eine Geste gewesen, wie andere Leute sich vielleicht in den Arm nahmen, und natürlich erst, wenn es abgesprochen war.

Lyria war eine Frohnatur gewesen, lebensfroh wie vielleicht sonst niemand aus der Schattencrew. Sie hatte immer Positives in allem gesehen. Manchmal war sie Marah damit auf den Keks gegangen. Es strengte Marah durchaus an, wenn etwas nicht als Problem stehen gelassen werden konnte, sondern dann so ein Spruch folgte, dass es vielleicht irgendwofür auch sein Gutes hätte.

Aber auch das würde Marah vermissen, und darunter dieses riesige Spektrum an Eigenschaften und Interessen, von denen sie bisher nur eine Ahnung erlangen hatte können und die sie nun nie zu Ende kennen lernen würde.

Marah weinte, erst leise für sich, und dann sang sie in ihre Tränen und Trauer hinein. Lyria hatte einen wunderschönen, sehr hohen Sopran gehabt. Einen, der nicht so stach, der selbst in den höchsten Lagen noch weich klang.

Marahs Stimme war eher ein Alt bis Mezzosopran, obwohl sie eingesungen einen recht großen Tonumfang hatte. In Erinnerung an Lyria und mit der Kraft, die Tränen irgendwo aus dem Bauch sogen, sang sie nun so hoch, wie ihre Stimme es erlaubte, so brechend, wie das Zwerchfell es beim Weinen einforderte, legte ihr ganzes inneres Sehnen und Ziehen in die langen Töne. Sie hatte nun keinen Begleitwels mehr, der sie hätte trösten können, aber sie war auch nicht allein. Ein großer Riffelwal tauchte neben ihr auf und sang mit ihr mit, um sie zu trösten. Er war auf dem Hinweg schon einmal aufgetaucht. Da war es umgekehrt gewesen. Da hatte der Wal um irgendetwas getrauert und sie hatte mit ihm gesungen.