Der schwarze Halbmond
Myrie schloss die Augen, um sich zu vergegenwärtigen, was sie zuletzt an Umgebung gesehen hatte, aber hielt die Augen nicht lang genug geschlossen dafür. Sie merkte, wie Daina aufstand und um das Feuer herumging. Daina, die gerade noch gesagt hatte, dass sie Angst vor Höhen hatte. Myrie öffnete die Augen sofort wieder.
Daina legte sich neben ihr auf den Bauch, und kroch vorsichtig an den Abgrund. Myrie tat es ihr nach, um mit ihr herabzusehen. Sie versuchte etwas zu finden, was Sarinas Beschreibung entsprach. Es war nicht zentral unter ihnen, sondern hatte die breiteste Stelle an der Felskante, um die sie herumgegangen waren. Dort, wo die Biegung war, mündete der Fuß des Hangs nicht auf der selben Ebene wie darum herum, sondern ein sichelmondförmiger Abgrund reichte weiter in die Tiefe, der den Hang von der Ebene dahinter trennte. Es war schattig darin, sodass man den Boden nicht sehen konnte, wie Sarina gesagt hatte. Es könnte kaum tiefer sein, als die Umgebung, aber es könnte auch noch viel weiter hinab gehen. Die Umgebung, wie diese Felswand zum Beispiel, warf so tiefe Schatten hinein, dass es nicht auszumachen war.
“Eher ein Viertelmond, oder sogar noch schmalerer Mond”, kommentierte Myrie.
“Ich denke aber, es könnte gemeint sein.”, sagte Daina.
Ein träumerischer und begieriger Ausdruck trat in ihr Gesicht.
Myrie brauchte nicht zu fragen, um zu wissen, worum es grob ging. Sie erinnerte sich an Dainas Abendbesuch vor einer ganzen Weile noch sehr genau, als sie in einem Umkreis von Thale aus, in dem das Schulgelände lag, einen Ort suchte, der von oben wie ein schwarzer Halbmond aussähe. Aber warum Daina diesen suchte, wusste sie nun natürlich auch nicht genauer als damals bei ihrem Besuch.
“Myrie?”, sagte Daina aufgeregt.
“Was denn?”, fragte Myrie.
“Wäre es sehr gefährlich, dort hinunterzuklettern?”, fragte Daina.
“Kommt drauf an. Ich komme da sicher runter. Aber dich dort sicher hinunterzubekommen, würde einiges an Vorarbeit kosten.”, überlegte Myrie.
“Du würdest reichen.”, versicherte Daina.
“Aber ich werde da nicht runterklettern.”, gab Myrie zu verstehen.
“Warum denn nicht?”, fragte Daina enttäuscht, vielleicht sogar etwas sauer.
“Weil mein Ziel war, Merlin zu finden. Sollte für mich aus irgendwelchen Gründen eingeräumt werden, dass ich trotzdem an der Schule bleiben darf nach heute Nacht, dann möchte ich da kein noch so kleines, weiteres Risiko eingehen.”, erklärte sie.
Daina nickte. Sie war sehr enttäuscht, das war deutlich, aber sie hatte auch Verständnis. Sie verschränkte die Arme unter ihrem Kinn und sah nachdenklich in die Tiefe.
“Im Frühling wird ein Kurs angeboten, bei dem ich dann gegebenenfalls die Berechtigung bekommen könnte, das Schulgelände zu verlassen. Sofern ich dann noch an der Schule sein darf. Dann kann ich gern da hinabklettern.”, versuchte Myrie zu trösten.
“Dann könnte es schon zu spät sein.”, murmelte Daina. Da ihr Kinn auf ihren Armen lag, bewegte sich ihr ganzer Kopf beim Sprechen.
“Wofür eigentlich?”, fragte Myrie.
Daina antwortete nicht sofort. Ihren Blick weiter in die Tiefe richtend, dachte sie erst weiter nach. “Es geht um das Spiel.”, murmelte sie schließlich, als wäre es gar nicht Thema.
“Das Spiel.”, wiederholte Myrie sich fragend, ob da wirklich kein Zusatz nötig wäre, dafür dass Leute verstanden, worum es ging, etwa so etwas wie ein Name des Spiels.
“Genau.”, sagte Daina.
“Hat es einen Namen?”, fragte Myrie.
Daina sah sie irritiert von der Seite an. “Du kennst das Spiel wirklich nicht.”, stellte sie fest.
“Also,”, überlegte Myrie, “wenn mir das Spiel was sagen sollte, ohne dass ein Name dazu genannt wird, wahrscheinlich nicht.”
Daina schüttelte den Kopf. “Es heißt einfach das Spiel.”, erklärte sie.
Sie richtete ihren Blick wieder sehnsüchtig in die Tiefe, vor der sie zeitgleich angeblich Angst hatte, aber davon sah Myrie gerade nichts. Sie bewunderte Daina im Nachhinein überhaupt, dass sie es mit dieser Angst auf sich genommen hatte, mitzukommen.
“Nun ja, es gibt Teilnahmeurkunden.”, sagte Daina. “Wer eine findet, kann sich eine Gruppe zusammenstellen und mit dieser teilnehmen. Dort unten liegt vielleicht so eine Urkunde.”
“Was, wenn mehrere eine Urkunde gemeinsam finden?”, fragte Myrie.
“Dann sind alle, die sie gefunden haben, automatisch Teil der Gruppe, es sei denn, es sind mehr als zwölf. Dann wird sich geeinigt oder gelost.”, erklärte Daina.
Sie kannte das Spiel offenbar so gut, dass sie nicht so genau wusste, wie man anfing, darüber zu erzählen, damit eine Person es verstehen würde, die es nicht kannte.
“Und du würdest gern teilnehmen, schließe ich.”, folgerte Myrie.
Daina sah sie wieder mit einem Ausdruck der Begierde im Gesicht an und nickte energisch. Dann fiel ihr wohl wieder ein, dass Myrie abgelehnt hatte, wurde wieder traurig und sah hinab. “Folgendes:”, sagte sie. “Ich weiß, Hermen ist nicht zu trauen, aber ich erzähle es dennoch: Er würde auch gern am Spiel teilnehmen. Er sprach mich vor wenigen Tagen an, dass er eine Möglichkeit wisse, wie er dafür sorgen könnte, dass du an der Schule bleiben könntest. Und er meinte, er würde sie mir verraten, wenn ich eine Urkunde fände und ich ihn dann in meiner Gruppe mitmachen ließe.”
Myrie runzelte die Stirn. “Sagen wir, Hermen spräche die Wahrheit und ich würde da hinabklettern und wirklich eine Urkunde finden. Dann würdest du aber einer Erpressung nachgeben, wenn du dich darauf einließest.”, sagte sie.
“Das würde ich in dem Fall tun.”, versicherte Daina.
Myrie glaubte zu bemerken, dass es keine leichte Entscheidung für sie gewesen war.
“Ich wäre schon unglücklich, wenn du gehen müsstest.”, ergänzte Daina.
Es berührte Myrie auf gleichzeitig angenehme und unangenehme Weise. Unangenehm, weil sie diese Gefühle der Zuneigung als ungewohnt empfand und es sie unsicher machte.
“Lass mich mit dir analysieren.”, bat Daina. “Wenn du da hinuntersteigst, erhöht sich das Risiko, dass die Lehrkräfte deine Handlungen nicht für allein zur Rettung notwendig halten, und sie deinen Fall mit weniger Verständnis bearbeiten. Aber dein Rauswurf ist nach heute Nacht auch so schon sehr wahrscheinlich, zumindest, wenn wir den aktuellen Stand der Verhandlungen ansehen und sehen, dass da nun noch etwas hinzukommt.”
Myrie nickte.
“Wenn du dort hinabsteigst, ist dir dein Rauswurf vielleicht noch sicherer, wenn das überhaupt noch geht. Aber wenn Hermen recht hat und Wort halten sollte, und dort eine Urkunde liegt, dann wärst du weiterhin dabei.”, beendete Daina die Analyse.
Sie blickten sich ernst an. Myrie erinnerte sich an ihren ersten Eindruck, den sie von Dainas Gesicht gewonnen hatte. Sie hatte es einfach als lebendig und selbstbewusst empfunden. Aber nun hatte es für Myrie viel mehr Aussage. Sie las ab, dass Daina sie nicht unter Druck setzen wollte. Dass sie sich zwar wünschte, dass Myrie hinabsteigen würde, aber dass sie so etwas nie noch einmal sagen würde, weil sie wollte, dass Myrie ihre eigene Entscheidung fällte. Zumindest glaubte Myrie, dass sie das ablesen konnte, oder zumindest mit dem Wissen zusammen schließen konnte, dass sie über Daina angesammelt hatte.
“Eine Menge wenn und aber in der Argumentation. Beides nicht besonders aussichtsreich.”, ergänzte Daina.
Myrie nickte wieder. Dann blickte sie wieder in die Tiefe. “Es sollte eigentlich ziemlich schnell gehen.”, überlegte sie kurz entschlossen, stützte sich auf ihre Hände und stand auf.
Daina strahlte sie an und beobachtete sie, wie sie sich ihr Seil griff, es von Knoten, Restschlingen und von Olja befreite, die immer noch in der Schlaufe hing, und es für ein Abseilen präparierte.
Sie nutzte einen der Bäume, die hier oben standen, als Ankerpunkt, an dem sie das Seil mit einer Schlinge darum festknotete. Sie fädelte das Seil durch ihre Klemme an ihrer Hose und verstaute das übrige Seil griffbereit an ihrem Körper. Dann hopste sie, eine Hand am Seil führend, dass durch die Klemme glitt, vom Abhang und ließ sich zügig und sich fast senkrecht zum Seil vom Hang abstoßend hinab.
Bis in die Tiefe, aus der sie gekommen war, verlief ihr Abseilen vollkommen ohne Überraschungen. Dann ließ sie sich in den sichelmondförmigen Abgrund hinab. Die Wände darin waren uneben und bröckelig, hatten vorstehende Felsvorsprünge. Auch damit hatte Myrie gerechnet. Es gab meistens nicht einfach so Krater im Berg. Sie waren durch Erdrutsche entstanden, oder teils zugeschüttet, oder aber sie entstanden unter Überhängen, wo oft Lawinen herabgefegt waren, die sich davor, aber eben nicht direkt unter den Überhängen aufgetürmt hatten, und nach und nach fest geworden waren. Myrie wusste die Ursache hier nicht genau, aber in jedem Fall waren solche Löcher im Boden meistens nicht das angenehmste Kletterterrain. Sie war froh, dass ihr Seil weit außerhalb dieses Lochs an einem festen Baum verankert war.
Sie ließ sich tiefer und tiefer in das Loch hinab, das nun längst nicht mehr die Form eines Sichelmondes hatte, sondern eher ein unförmiges, schmales Oval bildete, durch das sie zwar bequem hindurch passte, aber sie konnte auch zwei gegenüberliegende Wände des Lochs gleichzeitig mit ausgestreckten Armen berühren. Mit der Tiefe wurde es feuchter und dunkler, aber wenigstens wurden die Wände fester. Schnee lag hier keiner mehr. Und bald war Myrie gar nicht mehr so froh, dass sie ihr Seil so hoch oben angebunden hatte. Auf Höhe des Hangfußes wäre es besser gewesen. Sie ließ sich langsam die letzten Meter hinab, die ihr Seil lang war, und hatte den Boden noch nicht erreicht. Sie sah nach unten, aber konnte nichts erkennen. Sie konnte auch insgesamt fast nichts mehr sehen, aber sie hatte auch schon oft genug vorsichtig unter schlechten Sichtbedingungen geklettert.
Myrie verharrte in ihrer Position und fragte sich, wie weit es noch sein konnte. Sie hatte den Eindruck, der Boden wäre nicht mehr sehr tief. Wenn sie wüsste, dass sie sich einfach ohne Schaden fallen lassen könnte, dann würde sie sich für den letzten Teil der Strecke nicht mehr sichern müssen. Aber das wusste sie nicht. Sie ahnte es bloß. Aber ahnen war ihr immer zu wenig gewesen. Sie seufzte und wollte sich gerade entscheiden, ohne Ergebnis wieder hinaufzuklettern und ihr Seil mitzunehmen, als ihr noch eine andere Idee kam. Sie suchte die erdigen Wände nach etwas Losem ab und fand ein paar Steine, die in den lehmigeren Stellen zwischen den Felsen steckten. Sie löste einen und ließ ihn fallen. Er kam schnell auf und das Geräusch war nah. Er konnte aber auch einfach auf einen Vorsprung gefallen sein, während der tatsächliche Boden viel tiefer wäre, überlegte Myrie. Sie wiederholte ihr Experiment mit allen Steinen, die sie in der Umgebung fand, und lotete so ihre Umgebung aus. Zwei der größeren Steine schmiss sie mit Wucht auf den Boden, um die Stabilität des Bodens einzuschätzen. Dann, als sie sich sicher war, was sie vor sich hatte, machte sie sich von ihrem Sicherungsseil los und tastete sich an der Wand entlang nach unten. Sie schätzte es als das Riskanteste ein, das sie je gemacht hatte, aber eben nicht riskant genug, es deshalb nicht zu tun. Es war aufregend und obwohl sie sich sehr sicher war, die Umgebung gut einschätzen zu können, war sie nie zuvor so vorsichtig gewesen. Als sie nach kurzer Zeit schon, schneller als sie vermutet hatte, auf dem Grund des Lochs ankam, zitterten ihr die Gliedmaßen vor Anspannung.
“Geht es dir gut, Myrie?”, fragte Merlin unvermittelt in ihrem Ohr.
Myrie erschreckte sich und wäre fast gestolpert. Sie hielt sich an der Wand fest. Sie fragte sich, warum sie sich so erschreckt hatte. Merlin rief ja des öfteren an. Aber der Unterschied war, dass ihr Schweißband an Merlins Anzug steckte und sie also kein warnendes Wärmesignal zuvor gespürt hatte.
“Myrie?”, hakte Merlin nach, Angst in der Stimme.
“Mir geht es gut. Ich habe mich nur erschreckt.”, gab sie zurück.
“Puh.”, sagte Merlin.
Myrie hörte, wie er die Information an die anderen weiter gab.
Sie hockte sich hin, um den Boden abzutasten. Es brauchte nicht lang, da fand sie in einer Ecke unter Wurzelgestrüpp, das über ihre Hand streifte wie Insekten, – Myrie fragte sich, ob es in diesem Loch vielleicht doch auch im Winter welche gab –, einen Gegenstand, der nicht natürlichen Ursprungs erschien: Ein Kästchen oder eine kleine Kiste. Sie war klein genug um in einer ihrer Taschen Platz zu finden.
“Merlin?”, fragte Myrie, in der Hoffnung, dass er immer noch in der Leitung war.
Er war es. “Ja?”, reagierte er.
“Ich habe ein Kästchen gefunden. Magst du Daina fragen, ob ich nach noch mehr suchen sollte?”, bat sie.
Er gab die Frage weiter und kurz darauf gab er Myrie Dainas Antwort durch.
“Sie sagt, wenn du mögest, könntest du dich einmal weiter umschauen, aber wenn sonst nichts Offensichtliches da ist, sollte das Kästchen genügen.”, sagte er.
“Umschauen ist nicht so ganz einfach in der Dunkelheit. Aber ich taste einmal alles grob ab.”, versprach sie.
Und das tat sie auch, so rasch sie konnte und mit ihren Füßen, während sie gleichzeitig vorsichtig war. Denn sie wusste ja nicht, ob nicht vielleicht doch an einer Stelle das Loch weiter in die Tiefe reichen würde.
Sie fand nichts. Weder etwas weiteres, was etwas anderes, als nasser, feuchter Boden oder Steine war, noch ein weiteres Loch. Es erleichterte sie zu wissen, dass es nicht weiter hinabging und der Boden stabil war, als sie sich wieder auf die Suche nach ihrem Seilende begab. Da sie sich den Weg des Abstiegs gut gemerkt hatte, hatte sie keine Probleme bei der Suche, und als sie wieder befestigt war, fühlte sie sich sicher.
Der Aufstieg ging langsamer, als der Abstieg, was nur natürlich war. Abseilen ging immer schneller als Klettern.
Myrie beeilte sich und wurde noch einmal schneller, als sie das Loch hinter sich gelassen hatte, wieder sehen konnte und die Wand wieder weniger senkrecht und weniger bröckelig war. Sie beeilte sich vor allem deshalb, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, eine Drohne könnte wirklich allmählich wieder an diesem Ort vorbeifliegen, und sie wollte am liebsten vorher oben sein.
Selten hatte sie mit einem Gefühl richtig gelegen, wie nun, und sie hatte Glück. Sie hatte ihr Seil gerade vom Baum gelöst, als eine Drohne bei ihnen vorbeisirrte und inne hielt. Gebannt sahen sie sie an, etwas ratlos, was sie nun tun sollten.
“Sie schwebt da länger als die letzte, die hier war.”, bemerkte Merlin in die Stille hinein. “Sie hat wohl keine Möglichkeit mehr zu ignorieren, dass jemand hier ist.”
“Du bist auch inzwischen schön warm. Und steckst nicht mehr in einem Schlafsack in einer Nische.”, begründete Daina.
Merlin nickte bestätigend.
“Myrie?”, erklang Henne Lots Stimme in ihrem Ohr. Er betonte dabei alle drei Silben ihres Namens mit leichter Strenge.
Myrie dachte darüber nach, was sie antworten sollte, aber ihr fiel nichts ein, was sie sagen konnte.
“Ich sehe euch gerade.”, sagte Henne Lot. “Hörst du mich?”
Myrie nickte. “Ja.”, brachte sie hervor.
“Was meinst du mit ‘ja’?”, fragte Sarina.
“Henne Lot telefoniert gerade mit mir.”, erklärte Myrie. Ihr Kopf wuselte, sie war sehr durcheinander.
“Ich muss sagen, es überrascht mich nicht, dich auf dem Ehrenberg zu finden.”, sagte Henne Lot. “Ich bin mäßig überrascht, auch Sarina und Daina dort vorzufinden, aber was mich vor allem überrascht, ist, dass du uns nicht gemeldet hast, dass du Merlin gefunden hast und es ihm gut geht.”
“Oh.”, sagte Myrie und brach in Schweiß aus. Henne Lot hatte vollkommen recht, das hätte sie unbedingt tun sollen. “Daran habe ich nicht gedacht.”, gab sie zu und schämte sich sehr.
Die Drohne schwenkte ab und flog die Gegend ab. Manchmal verschwand sie hinter einer Felswand und kam dann wieder hervor.
Myrie zog die Beine an und schloss die Arme darum.
“Ich organisiere nun, wie ihr wieder zur Schule gelangen werdet.”, informierte sie Henne Lot sachlich.
“Merlin ist ziemlich mitgenommen. Die anderen würde ich sicher dahin geleitet bekommen.”, murmelte Myrie mit wenig Hoffnung, dass es von Nutzen wäre.
“Ich habe mir eure Umgebung angesehen, und nein, ihr werdet abgeholt.”, bestimmte Henne Lot. Er klang das erste Mal so streng, dass es keinen Einwand oder Widerspruch zuließ.
In ihrem Kopf formte sich natürlich eine Argumentation, denn sie hatte den Eindruck, dass ihre Fähigkeiten hier falsch eingeschätzt wurden, aber sie sagte nichts.
“Abgesehen von Schwäche geht es Merlin aber gut?”, erkundigte sich Henne Lot.
“Geht es dir abgesehen von Schwäche gut?”, gab Myrie die Frage an Merlin weiter. Dieser nickte, also antwortete sie: “Ja.”
“Das ist gut. Dann werden wir mit einem Geländewagen unterhalb von eurem Plateau eintreffen und euch eine sichere Abstiegsmöglichkeit dorthin gewährleisten.”, erklärte Henne Lot.
Inzwischen tauchte eine zweite Drohne auf, die genauso aussah wie die erste, aber Myrie hörte das auf und ab des Sirrens der ersten noch unter ihnen über dem flacheren Hang, über den sie gekommen waren. Die zweite Drohne sirrte einfach stationär bei ihnen und Myrie vermutete, dass sie den Zweck einer Überwachung hatte, um eine bessere Kommunikation zu ermöglichen, oder um Henne Lot zu verraten, was vor sich ging.
Myrie gab an die anderen weiter, was Henne Lot ihr mitgeteilt hatte.
“Könntest du mal Merlin wenigstens, aber vielleicht auch die anderen fragen, ob sie mich auch direkt hören mögen? Das würde es einfacher machen.”, bat Henne Lot.
Myrie gab auch die Frage weiter. Merlin und Sarina hatten beide Hinterohrhörer und waren sofort einverstanden, aber auch Daina willigte ein und Myrie wunderte sich, wie sie in der Lage war, Henne Lot zu hören. Sie konnte nichts an oder hinter Dainas Ohren erkennen, das wie ein entsprechendes Gerät ausgesehen hätte. Aber sie hatte gerade den Kopf zu voll mit den akuten Dingen, um jetzt danach zu fragen.
Henne Lot fragte zum Test, ob alle ihn hören konnten, und alle bestätigten. Dann verharrten sie einige Augenblicke still, bevor ein lauteres Sirren sich ihrer Position näherte. Eine große Drohne, ein Oktokopter, flog leicht in Flugrichtung geneigt zügig auf sie zu und bremste vor ihnen. Er fand direkt an der Kante ihres Felsplateaus eine stabile Flugposition. Zwei etwa kopfgroße Maschinen fuhren auf jeder Seite des Fluggeräts herunter, die mit Kohlefaserseilen auf Rollen mit ihm in Verbindung blieben. Die Rollen blieben auf dem Flugobjekt und rollten Seil ab, während die Maschinen über den Boden rollten. Sie fuhren etwa zwei Meter von der Kante weg und hielten neben Myrie am Feuer. Es machte ein unangenehmes, lautes Geräusch, als die Maschinen feste Ankerhaken in den Boden verschraubten, an denen die Seile befestigt waren. Dann rollten die beiden Maschinen an den Seilen entlang Richtung Oktokopter, verschraubten zwei weitere Gegenstände im Boden, die nicht den Eindruck von Haken machten, und rollten dann, weiter an den Seilen entlang, wieder auf den Oktokopter, der darauf in die Tiefe schwirrte. Myrie legte sich wieder auf den Bauch um gespannt über den Rand ihres Plateaus nach unten zu schauen und das Geschehen zu verfolgen. Daina und Sarina gesellten sich rechts und links von ihr dazu.
Während der Oktokopter die Strecke nach unten zurücklegte, rollten sich die Kohlefaserseile ab, sodass sie lose hinter ihm herschwenkten, ohne sich verheddern oder dem Fluggerät in den Weg fliegen zu können. Der Oktokopter flog über das sichelmondförmige Loch im Boden hinweg und landete dahinter. Die beiden Bohrmaschinen verankerten die Seile auch dort, befestigten sie aber erst, als sie durch die Seilwinden straff gespannt worden waren. Der Oktokopter hielt sich zum Spannen an den frisch befestigten Ankerpunkten im Boden fest und es knirschte, als sich die Seile auf Zug spannten.
Dann, – es geschah so schnell, dass Myrie es nicht richtig wahrnehmen konnte –, klappten sich alle Flügel des Oktokopters und noch so einiges an Gestänge um und ein, und statt des Fluggeräts sahen sie eine Art Schlitten auf den Kohlefaserseilen, der mit diesen fest verbunden war. Er glitt auf den Seilen zu ihnen nach oben und nun wurde klar, was die beiden weiteren Gegenstände an der Kante für eine Funktion hatten. Sie dienten dazu, die Seile auf ihrer Höhe auf Abstand zum Boden zu halten, sodass der Schlitten die Seile nicht vollständig loslassen musste, um neben ihnen auf dem Plateau Platz zu finden. Ähnlich wie die Bewegungen der Beinchen eines Tausendfüßlers, klappten sich Teile der Befestigung des Gefährts an den Seilen zur Seite, als er die Abstandhalter passierte.
“Myrie, magst du zuerst einsteigen?”, bat Henne Lot.
Das Gefährt hatte einen Rollsitz etwa in der Mitte, eine pobackenförmige, flache Schale auf Rollen, eine Halterung, die anscheinend für Schultern gedacht war, ebenso auf Rollen, einen verschiebbaren Helm für den Kopf und ein Brett mit Gurten für die Füße. Myrie setzte sich vorsichtig auf den Rollsitz, und das Brett für die Befestigung der Füße rollte automatisch auf sie zu, sodass sie ihre Füße darauf setzen konnte. Es schnürte sie ebenfalls automatisch fest. Sie hielt sich an den Seitenstangen fest, um sich vorsichtig auf den Schultersitz niederzulassen, der sich ebenso für sie passend justierte. Als sie lag, fuhr der Helm sachte von oben auf ihren Kopf. Dann schnallten sie flexible Arme mit Gurten fest. Es war überraschend gemütlich. Sie fasste sich mit den Armen überkreuz an ihre Hüften, damit sie nirgends im Weg wären und der Wagen setzte sich in Bewegung. In ihrem Magen zog es, als sie plötzlich mit viel Schwung nach unten rauschte, aber die Fahrt war nur von kurzer Dauer.
Als nächstes war Merlin an der Reihe, dem Sarina und Daina oben beim Einsteigen halfen und Myrie packte ihn unten wieder aus.
Sarina und Daina durften sich ihre Reihenfolge aussuchen und entschieden sich dafür, Daina als erste zu schicken, damit sie nicht als letzte Person oben allein wäre. Sie zitterte und war wackelig auf den Beinen, als sie unten wieder aus dem Wagen kletterte, aber natürlich nicht so wackelig, wie Merlin, der sich auf Myrie stützte. Während der Wagen ein viertes Mal nach oben fuhr, hörten sie das Geräusch des herannahenden Geländewagens. Es ruckelte und ratterte und klang keineswegs so gleichmäßig, wie das Sirren der Drohnen.
“Was wird aus Olja?”, fragte Merlin leise und sorgenvoll.
“Der Hai?”, fragte Henne Lot.
“Ja.”, antwortete Merlin.
“Wenn der Oktokopter aufgeräumt hat, wird er ihn einsammeln. Wenn er es nicht schafft, dann kommt später noch einmal eine Drohne zum Löschen eures Feuers. Die sollte den Hai hinterher auf jeden Fall mitnehmen können.”, beruhigte ihn Henne Lot.
Sarina war längst bei ihnen unten angelangt, der Schlitten wieder ein Oktokopter und die Stahlseile halb abgebaut, als der Geländewagen endlich in Sicht kam.
“Magst du mir das Kästchen geben?”, bat Daina Myrie leise.
Myrie kramte in ihrer Tasche und holte es hervor. Es war dunkel in der Tiefe gewesen und so sah sie es nun zum ersten Mal. Es war aus stabilem, dunklem Material, vermutlich kohlefaserbasiert und in weißen Buchstaben stand ‘Das Spiel’ darauf. Darunter stand eine Warnung, die Myrie aber nicht las, weil der Wagen sich näherte und Daina ihr die ausgestreckte Hand hinhielt. Myrie überreichte ihr das Kästchen und Daina steckte es in ihre Manteltasche. Myrie konnte später danach fragen.
Der Wagen hielt und Amon Krknschnock stieg aus. Er verlor nicht viel Zeit für eine Begrüßung, untersuchte lediglich kurz, ob es ihnen gut ginge, indem er ein Messinstrument an verschiedenen Stellen an ihre Haut legte.
“Du wurdest professionell aufgewärmt?”, erkundigte er sich bei Merlin, während er an ihm Messungen durchführte.
“Von meiner KI und meiner Wärmebatterie.”, erwiderte Myrie an Merlins statt.
Amon Krknschnock wandte sich zu ihr und nickte. “Hat er Medikamente oder ähnliches von dir oder euch bekommen?”, fragte er.
“Etwa einen Liter süße, lauwarme Flüssigkeit. Traubenzucker in geschmolzenem Schneewasser aufgelöst.”, sagte Myrie sachlich.
“Gut.”, sagte Amon Krknschnock stirnrunzelnd. “Ein Anfang.”
Sie stiegen in den Geländewagen und fuhren los. Die Sitze waren drehbar gelagert, sodass sie sich in einen Kreis setzen konnten.
Der Wagen nahm eine andere Route, als sie hergekommen waren und kurvte zwischen zwei kleinen Wäldchen hindurch. Die Sitze waren stark gefedert und steuerten gegen das Ruckeln und Rumpeln an, was nötig war, da das Gelände sehr uneben war. An zwei Stellen bewegten sich die Reifen wie Beine aus ihren Achsen, um größere Stufen herabzusteigen.
Die ganze Fahrt über sprachen sie kaum ein Wort, sahen einfach nach draußen. Amon Krknschnock summte vor sich hin, nicht so fröhlich wie sonst allerdings. Sie waren alle sehr angespannt, doch irgendwie schaffte es Merlin trotzdem einzuschlafen. Sein Kopf sank auf Myries Schulter und holperte sachte darauf herum.
Der Wagen fand irgendwann die Wanderwege, rollte dann bald durchs Haupttor und brachte sie bis zum Haupteingang. Sie wurden sofort für medizinische Untersuchungen in die Krankenstation der Schule gebracht. Merlin behielten sie dort, Sarina, Daina und Myrie wurden schon bald entlassen.
Myrie hätte erwartet, dass wie immer keine Zeit verschwendet würde, bis ein Kriesengespräch stattfinden würde, aber dieses Mal war es anders. Stattdessen wurde ihnen empfohlen, ausgiebig zu duschen um sich wieder voll aufzuwärmen. Myrie ließ sich nicht zweimal bitten und kehrte mit Sarina zusammen wieder in den Gemeinschaftsduschraum ein. Daina kam wenig später dazu, nachdem sie ihren Mantel in ihrem Zimmer untergebracht hatte. Sie blieb im Eingang stehen und kam nicht direkt hinein, ihren Blick auf Myrie gerichtet. Myrie folgte der Bewegung ihrer Augen, die an ihr hinunter und hinauf sahen.
“So etwa ist das, angestarrt zu werden.”, erklärte Sarina Myrie.
“Macht es dir was aus?”, fragte Daina und klang beinahe schüchtern dabei.
Myrie schüttelte den Kopf.
Daina kam nun endlich ganz herein, und stellte sich auch unter eine der Duschen, wandte ihren Blick dafür aber kaum von Myrie ab.
“Du bist wirklich schön.”, sagte sie gerade laut genug, dass man sie über das Plätschern des Wassers hinweg hörte.
“Das hört Myrie sicher nicht oft.”, kommentierte Sarina mit einem bitteren Unterton in der Stimme, den Myrie nicht einordnen konnte.
Sie sah sich zu ihm um. Sein nasses Haar haftete an seinem Körper und er fuhr mit den Fingern hindurch, sodass es sich wie schwarze Wasserfälle durch sie hindurch legte, und auf seinen Rücken floss. Bei dieser Bewegung spannten sich einige Muskeln leicht in seinen Armen ab. Es war ein schöner Anblick, fand Myrie, aber es überraschte sie nicht. Sie fand Sarina immer noch schön, wie schon ganz zu Anfang.
“Was meinst du damit?”, fragte Myrie während sie seinen schmalen, zarten Brustkorb musterte.
Sarina sah sie irritiert an und zog Myries Aufmerksamkeit so wieder auf sein Gesicht. “Womit?”, fragte er.
“Du sagtest, ich hörte das nicht oft, aber es klang so, hmm, unglücklich, glaube ich.”, sagte Myrie.
“Ich schätze halt, dass du normalerweise als sehr hässlich wahrgenommen wirst. Hässlich, wie ein Ork, aber eben nichtmal ein Ork.”, sagte Sarina sachlich.
“Das stimmt, aber warum macht es dich unglücklich?”, fragte Myrie.
“Orks sind nicht hässlich.”, mischte sich Daina ein.
“Du hast da ein unübliches Empfinden von Schönheit.”, erwiderte Sarina ihr zugewandt.
Daina sagte nichts darauf, aber funkelte Sarina wütend an. Dieser hielt dem Blick einen Moment stand, bevor er sich wieder Myrie zuwandte.
“Ich dachte, du hattest es dadurch vielleicht schwer in deiner Kindheit. Ich hatte es vielleicht nicht deshalb schwer, weil man mich hässlich gefunden hätte, aber ich musste halt daran denken, wie es ist, nicht für gut befunden zu werden.”, sagte er nachdenklich.
Daina hörte auf, ihn anzufunkeln, und sah zu Boden.
“Es tut mir leid wegen meiner Kommentare zu Mondzeugen. Ich habe zwar was gegen Mondzeugen, aber das hätte ich auch wann anders und netter äußern können.”, sagte sie.
“Das akzeptiere ich.”, sagte Sarina und lächelte zu ihr herüber.
Myrie durchlief ein Schauer und sie musste gähnen. Sie hoffte, dass sie gleich noch einmal schlafen durfte, bevor irgendeine Form von Gespräch folgte. Es war Nestag, der letzte Tag der Woche und somit unterrichtsfrei.
Also verabschiedete sie sich von den anderen beiden, trocknete sich ab und kroch in ihr Bett. Weil ihr kalt war, was selten passierte, kroch sie in ihren Schlafsack und legte darüber die Decke, und schaltete auch noch das erste Mal die Beheizung der Matratze ein. Hermen stellte eine Menge Fragen, aber sie ignorierte die meisten. Sie teilte ihm lediglich mit, dass Merlin und Sarina in Sicherheit waren, dass Sarina bald käme und Merlin wahrscheinlich eine Weile auf der Krankenstation bleiben würde.
Es war Spätnachmittag, als Myrie aufwachte. Ihre Glieder fühlten sich steif an und ihre Hüften schmerzten. Sie wollte nicht aufstehen und so blieb sie einfach mit geschlossenen Augen liegen und spürte in ihren Körper. Schließlich begann sie vorsichtig ihn zu verdrehen um ihre Verspannungen zu lösen.
“Bist du wach?”, fragte Merlin sie.
Merlin war wieder da! Sie drehte sich im Bett, sodass sie wieder auf dem Bauch lag und auf seines hinunter sah. Er saß dort in warmer, gemütlicher Kleidung auf dem Bett, dicke Wollsocken an den Füßen, lehnte an Olja und las ein Buch. Es war ein Papierbuch voller Noten. Er blickte fröhlich zu ihr hinauf.
“Ich lebe anscheinend.”, sagte er. “Und du auch!”
Myrie antwortete nicht und lächelte einfach.
“Dein Vater ist hier. Er wollte dich nicht wecken und wartet im Gemeinschaftsraum hinter der Eingangshalle.”, informierte er sie.
Myrie ließ sich vom Bett hinab, steifer als sonst und zog sich an, bevor sie die Tür öffnete.
“Vielleicht willst du lieber mit deinem Vater allein sein, aber falls nicht, darf ich mitkommen?”, fragte Merlin zaghaft.
Myrie nickte und gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er ihr folgen dürfe.
“Sprechen ist gerade nicht, schätze ich?”, fragte Merlin.
“Ginge, aber strengt an.”, sagte Myrie.
Da sie gar nicht so genau wusste, von welchem Gemeinschaftsraum Merlin sprach, übernahm er ab dem Haupteingang die Führung. Es handelte sich um einen Raum, etwa so groß wie die Werkstatt ihres Papas, mit Fenstern zu einem zugeschneitem Hof, flauschigem Teppichboden, Sofas, Sesseln und auf dem Boden verstreuten Kissen. In einer Ecke saß ein älterer, weißhaariger Lobbud mit zwei Lernenden beisammen und spielte ein Gesellschaftsspiel, auf der anderen Seite saß ihr Papa in einem Ohrensessel. Er stand auf, als sie hereinkam, nahm sie in den Arm, und bald darauf kuschelten sie sich zu zweit in den Ohrensessel. Er lud Merlin mit einer Geste dazu ein, ihnen gegenüber Platz zu nehmen, während er auf Myries Rücken mit der anderen Hand über verspannte Stellen rieb, bis sie weicher wurden.
“Oh Myrie.”, seufzte er leise und warm und Myrie fühlte sich sehr geliebt.
Sie verbarg ihr Gesicht in der Brust ihres Papas und ruhte aus.
Sie bekam nur am Rande mit, wie sich Merlin und ihr Papa unterhielten. Ihr Papa stellte Fragen über das, was vorgefallen war, und Merlin erzählte davon. Sie wusste was passiert war, also konzentrierte sie sich nicht darauf, sondern einfach nur darauf, hier zu sein, bei ihrem Papa, der für sie gekommen war.
Dann aber sagte ihr Papa etwas, was sie doch aufschrecken ließ. “Sie verlegen die Verhandlungen auf heute Abend.”, sagte er.
Sie richtete sich in einem Moment von Panik auf. Dann aber wich eine seltsam dumpfe Art von Erleichterung dem Schock dieser Botschaft. So würde sie es früher hinter sich haben und müsste nicht mehr so lange in Ungewissheit leben.
“Bist du deshalb schon hier?”, fragte sie.
“Nein, es war umgekehrt. Ich hatte überlegt, du brauchst mich vielleicht und deshalb bin ich gekommen. Und weil ich nunmal schon da bin, wurde die Verhandlung vorverlegt.”, erwiderte er.
“Ich hab’ dich lieb.”, sagte Myrie, lächelte und umarmte ihn.
“Möchtest du denn hier weiter zur Schule gehen?”, fragte ihr Papa.
“Ja. Gern, wenn das möglich ist.”, sagte sie.
Merlin regte sich in seinem Sessel und als Myrie zu ihm hinübersah, sah sie, wie er die Beine anzog, sie mit auf den Sessel platzierte und sich freute.
Die Verhandlung fand in einem Teil der Schule statt, den Myrie noch nicht besucht hatte, obwohl sie schon viel umhergewandert war. Aber sie hatte sich beim Erforschen des Gebäudekomplexes auch Zeit gelassen. Wenn sie einfach nur das Ziel gehabt hätte, durch jeden Gang einmal zu gehen, hätte sie es sicher geschafft.
Für die Verhandlung musste sie mit ihrem Papa in einen für größere Verhandlungen gedachten Raum in einem neueren Anbau weit entfernt vom Haupteingang gehen und sie hatte noch nie so lang gebraucht, um in dieser Schule ein örtliches Ziel zu erreichen. Merlin, Daina und Sarina begleiteten sie und das nicht nur, weil sie zu einem Teil in die Sache verstrickt waren. Ihnen wurde frei gestellt, nur am entsprechenden Teil der Verhandlung teilzunehmen, in dem sie gebraucht würden, aber sie entschieden sich dafür, die ganze Zeit dabei zu sein.
Der Raum war hoch, sodass auch Lyria Rune hineinpasste, die ebenso anwesend war. Sie setzten sich um einen ovalen Tisch. Myrie kannte nur etwa die Hälfte aller anwesenden Lehrkräfte, und diese waren größtenteils die üblichen, die immer da waren: Henne Lot, Ara Seefisch, Amon Krknschnock und eben Lyria Rune. Zusätzlich kannte sie Lalje Brock aus Modellierung und Antastra Hobbs, die Sport unterrichtete.
Unter den Fremden erkannte sie den streng wirkenden Elb wieder, der sie in der Schule erwartet hatte, als Sarina und sie vor wenigen Tagen erwischt worden waren. Die Übrigen hatte sie noch nie gesehen oder zumindest noch nie bewusst wahrgenommen.
Zunächst wurden all ihre Regelverstöße in allen Einzelheiten noch einmal sachlich dargelegt. Es war seltsam, denn durch diesen berichtenden Tonfall, in dem die Lehrkräfte es zusammentrugen und sich nach weiteren Genauigkeiten erkundigten, ergab sich eine eher wenig bedrohlich wirkende Atmosphäre. Myrie war trotzdem vorsichtig mit dem, was sie sagte. Sie wollte keinesfalls, dass ihr etwas herausrutschte, was Daina belasten konnte, die ihr Vorhaben ja nicht nur gewusst, sondern auch unterstützt hatte.
Weder Merlin noch Daina bekannten sich dazu, dass sie davon gewusst hatten, dass Sarina und Myrie außerhalb geschlafen hatten, aber sie wurden auch nicht gefragt. Myrie hatte den Eindruck, dass wenigstens Ara Seefisch und Henne Lot es sogar ahnten, aber ebenfalls kein Interesse hatten, es zur Sprache zu bringen.
Dann entstand eine Diskussion unter den Lehrkräften, die die Situation genauer analysierte, an der Myrie sich anfangs beteiligte, die aber bald zu anstrengend für sie wurde. Ihr mangelte es an Konzentration dafür. Allerdings wurde in dieser Diskussion klar, warum Lalje Brock und Antastra Hobbs anwesend waren. Sie bezeugten, dass Myrie eine beeindruckende Kondition hatte, dass sie sicher Klettern konnte und eine überzeugende Körperbeherrschung aufwies. Antastra Hobbs bestätigte außerdem, dass sie nicht zu riskanten, ihren Körper überlastenden Bewegungen neigte. Lalje Brock gab zu, dass sie darüber nichts sagen konnte, weil sie nicht immer den Fokus auf einzelne Gruppen nahm.
An dieser Stelle meldete sich Daina. “Ich habe selten mit einer Person zusammen gearbeitet, die sich genauer vor einem Vorhaben Gedanken über die Gefahren und Folgen von Aktionen gemacht hat.”, gab sie kund.
Amon Krknschnock nickte, und versicherte, dass das in sein Bild von Myrie passte.
Schließlich wurde ihr Papa ausführlich befragt, was er zu Myries Verhalten in Byrglingen sagen konnte. Zu Myries Überraschung tat er sich damit ziemlich schwer. Er beantwortete jede Frage wahrheitsgemäß. Er berichtete, dass Myrie schon von klein auf nicht davon abzuhalten gewesen war, Ausflüge zu unternehmen. Dass er aber sicher mehr dagegen unternommen hätte, wenn er sich Sorgen gemacht hätte. Er hatte sich anfangs sehr ausführlich mit ihr über ihre KI und über die Ausflüge unterhalten und war zu dem Schluss gekommen, dass Myrie verantwortungsbewusst war, sich mit Hilfe der KI richtig und sicher zu verhalten.
Seine Ansichten und Erziehungsideale sorgten bei einigen der Lehrkräfte für verständnisloses aber zurückhaltendes Kopfschütteln, ausschließlich unter den Lehrkräften, die Myrie nicht kannte, aber Amon Krknschnock wirkte sehr einverstanden mit der Einstellung ihres Papas. Er lächelte und nickte bestätigend.
Dann folgte der eigentlich kritische Teil der Verhandlung, in der aufgelistet wurde, was es für Grundsätze in den Schulregeln und für gravierende Problematiken in Myries Verhalten diesbezüglich gab.
Besonders kritisch wurde der Punkt angemerkt, dass es keine Vertrauensbasis zwischen Myrie und dem Personal der Schule gab.
Überraschend setzte sich Ara Seefisch für Myrie ein, von der sie geglaubt hatte, dass sie abgeneigt wäre, dass Myrie an der Schule bliebe. “Ich habe auch den Eindruck, dass eine Vertrauensebene mit Myrie Zange zu finden eine große Hürde darstellt,”, sagte sie, “aber vielleicht sollten wir in einem langen und ausgiebigen Gespräch mit Myrie die Ursache des Vertrauensproblems zu finden versuchen und schauen, ob wir es lösen können, bevor wir entscheiden, anstatt immer die Ursache für das jeweilige Verlassen des Geländes zu suchen.”
Ihr Vorschlag fand Zustimmung, aber einige der Lehrkräfte hatten wenig Hoffnung, dass es vielversprechend klänge. Dennoch stimmten sie zu, dass es richtig wäre, es zu versuchen.
Dann aber wurden die jüngsten Ereignisse angesprochen. Zunächst berichtete Myrie über ihre Strategie, die Spuren zu finden. Darüber, dass Merlin sie verborgen hatte und die KI, die die Drohnen lenkte, vielleicht nicht dafür ausgelegt war, auch versteckte Spuren zu finden. Die Vermutung sorgte für Stirnrunzeln.
“Das ist tatsächlich eine ungewöhnliche Begebenheit, die ich nicht so recht verstehe.”, murmelte Henne Lot. “Wenn Myrie in der Lage war, Merlin aufzuspüren, dann sollte der Drohnenschwarm das eigentlich auch gewesen sein.”
Viele Lehrkräfte reagierten mit zögerlichem Nicken und sahen in seine Richtung, vielleicht in der Hoffnung, dass er noch etwas ergänzen würde. Er aber blickte Merlin an. Merlin holte tief Luft und äußerte sich schließlich dazu:
“Ich hatte mich vorher im Internet schlau gemacht, was passieren würde, und mir erklären lassen, wie so ein Drohnenschwarm funktioniert und wie ich ihn austricksen könnte. Ich habe all meine Sachen mit ungewöhnlichem Schulwaschmittel gewaschen. Meine Musikanlagen, die besser nicht gewaschen werden sollten, habe ich im Musikraum untergebracht. Auf diese Weise funktioniert der Geruchssinn der Drohnen nicht mehr so gut.”, erklärte er.
“Die kalte Temperatur begünstigt das wahrscheinlich auch noch.”, überlegte eine Lehrkraft, die Myrie nicht kannte.
“Als ich nicht mehr konnte, habe ich mich in eine Nische in meinen Schlafsack gelegt, und davor Schnee verteilt. Es kam dann tatsächlich irgendwann eine Drohne vorbei, die ich vorher gehört habe. Ich habe mir dann ein bisschen Schnee ins Gesicht gerieben, solange, bis sie wieder weg war.”, fuhr Merlin fort. “Ich denke, mit dem System ist an sich alles in Ordnung.”
Dennoch wurde eine Techniklehrkraft beauftragt, die KI dahingehend besser zu trainieren.
Myrie war vielleicht ein bisschen erstaunt darüber, dass Merlin nicht im geringsten für dieses Verhalten kritisiert wurde, und auch dass Daina nicht darauf reagierte, die auf dem Ehrenberg so wütend über ähnliches Verhalten gewesen war. Sie hoffte, dass das Verständnis der Lehrkräfte für ihre Entscheidung, Merlin zu suchen, durch diese Aufklärung wachsen würde, was auch vorübergehend der Fall war. Als Daina, Sarina und Myrie aber berichteten, wie sie auf das schlecht erreichbare Plateau hinaufgelangt waren, wo sie Merlin gefunden hatten, fand sich eine klare Mehrheit, die der Meinung war, dass Myries Verhalten die anderen zwei und sie selbst gefährdet hätte. Amon Krknschnock erkundigte sich danach, wie Myrie sie genau gesichert hätte und fragte sie, ob sie sich diese Art der Sicherung selbst ausgedacht hätte, oder ob sie sie ebenfalls von der KI oder über andere Medien erlernt habe, und Myrie musste zugeben, dass sie an die Problematik nur mit vielen aus ihrer Sicht logischen Überlegungen gegangen war.
“Aus Medien würde man ja auch eher lernen, wie es ginge, wenn man vorher auf so einen Fall vorbereitet wäre.”, erklärte sie müde und ermattet, wie sie war. “Mit Vorbereitung wäre es unproblematisch gewesen, mehr als ein Seil und mehr Klemmen mitzunehmen. Der übliche Fall ist dabei auch eher, dass die anderen Beteiligten selbstständig den Hang heraufklettern könnten. Ohne unterstützendes Seil meine ich.”
Während eine weitere Analyserunde einsetzte, in der das Verständnis für Myrie allmählich wegebbte, verließ Daina den Raum. Myrie wunderte sich, hatte aber auch Verständnis dafür. Es wurde lauter im Raum und eine Art bremsender Nebel in Myries Gedankenwelt war die Folge. Es beschränkte nicht nur ihre Möglichkeiten klar zu denken, sondern es fühlte sich zugleich alles schrecklich und nach viel zu viel an. Sie schloss die Augen und begann leise zu summen. Da stand ihr Papa auf und schrie irgendetwas und es war augenblicklich still. Myrie hörte auf zu summen, neigte den Oberkörper hin und her und versuchte sich auf ihren Atem zu fokussieren, bevor sie die Augen wieder öffnete.
“Wir sollten ruhiger reden. Es tut mir leid.”, sagte Henne Lot als erste Person wieder.
Zustimmendes Nicken einiger anderer Lehrkräfte bekundete eine entsprechende Entschuldigung auch von anderen.
“Vielleicht darf ich in die Diskussion noch einwerfen, dass ich noch lebe?”, sagte Merlin die Stille nutzend.
“Das ist ein großes Glück.”, räumte Amon Krknschnock ein. “Trotzdem ist die Entscheidung mit unerfahrener Begleitung eine eingeschneite, glatte Felskonstellation hinaufzuklettern, sehr fragwürdig, wenn in dem Augenblick eine Person von euch sich hätte bei uns melden können. Das Risiko, dass Daina oder Sarina sich dabei hätten verletzen können, war viel zu hoch. Das hätte vollständig vermieden werden können.”
Es war nicht hoch, wollte Myrie einbringen. Sie hätte niemals jemanden gefährdet. Sie hatte gewusst, was sie tat. Aber das hatte sie schon argumentiert, so gut sie konnte. Das musste nicht wiederholt werden.
Sie sah aus dem Fenster, vor dem erneut feine Flocken durch die Luft flogen.
Die Diskussion von eben wurde fortgeführt, doch dieses Mal war sie leiser und strukturierter. Trotzdem war es Myrie zu viel und sie wollte am liebsten wie Daina einfach gehen. Stattdessen sah sie weiter den Flocken zu, die vom leichten Wind umhergewirbelt wurden. Manchmal sah es so aus, als würde es von unten nach oben schneien und Myrie musste innerlich schmunzeln. Äußerlich war ihr Gesicht unbewegt.
Die Tür öffnete sich und Daina kam zurück, gefolgt von Hermen. Das Gespräch unter den Lehrkräften erstarb und sie beäugten Hermen kritisch.
“Das ist eigentlich eine geschlossene Veranstaltung, Hermen. Hast du etwas beizutragen, das uns weiterhelfen könnte?”, fragte Henne Lot freundlich.
“Ich denke schon.”, antwortete Hermen. “Daina meinte, wäre heute Nacht nicht passiert, sähe es für Myrie gar nicht so schlecht aus, dass sie an der Schule bleiben könnte?”
“Das ist in der Tat der aktuelle Stand. Wenn wir das Problem finden und lösen können, dass unsere Vertrauensbasis zu ihr beeinträchtigt, sähe ich da keine Probleme. Aber es hat ja heute Nacht gegeben.”, sagte Ara Seefisch, bevor Henne Lot sie davon abhalten konnte.
“Das ist eigentlich vertraulich.”, gab er zu verstehen.
“Dann, denke ich,”, verkündete Hermen, nicht auf Henne Lot eingehend, “bleibt Myrie an der Schule.”
“Und warum sollte das so sein?”, fragte der Elb, der sie damals abgeholt hatte, der auch in dieser Verhandlung den Eindruck vermittelte, eine leitende Position inne zu haben. Keine gesprächsleitende, die hatte Henne Lot, sondern eine verhandlungsleitende.
“Myrie hat bei ihrem Ausflug auf den Ehrenberg heute eine Teilnahmeurkunde zum Spiel gefunden. Wenn ich richtig recherchiert habe, dann gibt es für diesen Fall die Ausnahmeregelung, dass Lernende dieser Schule, die teilnehmen, automatisch von den strikteren Schulregeln ausgenommen werden und zwar auch schon für den Ausflug, der für das Erlangen einer solchen Urkunde notwendig ist.”, er sprach selbstbewusst und laut, mit durchgestrecktem, geraden Rücken, als wäre die Vorstellung, ihm könne jemand widersprechen, absurd. Daina blickte ihn an und hielt sich überrascht eine Hand vor den Mund.
Myrie schloss, dass sie mit Hermen den Deal geschlossen hatte, dass er teilnehmen würde, wenn er in die Verhandlung eingriffe und sie für Myrie entschied, dass sie aber nicht gewusst hatte, was sein Argument sein würde.
Die Lehrkräfte tauschten Blicke untereinander aus.
“Hast du so eine Urkunde gefunden, Myrie?”, fragte der Elb mit der Führungsausstrahlung.
“Ich denke, ja.”, antwortete Myrie.
“Was heißt, du denkst das?”, fragte er ungeduldig.
Myrie zuckte zusammen und schlang die Arme fester um ihre Knie. Sie hatte schon vor langem die Füße mit auf den Stuhl gehoben. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das getan hatte. Der Elb holte Luft um mehr zu sagen oder zu fragen, doch Henne Lot hob einmal mehr beschwichtigend die Hand. “Gib ihr Zeit, Alastan.”, bat er ruhig und die Lehrkraft schwieg.
“Ich habe das Kästchen noch nicht geöffnet, aber es stand ‘Das Spiel’ drauf.”, erklärte Myrie.
Daina holte das Kästchen hervor und legte es vor Myrie. Sie hätte gern nun endlich die Warnung gelesen, aber sie war zu unkonzentriert um Buchstaben in ihrem Kopf in Worte umzuwandeln. Stattdessen fand sie den Verschluss des Kästchens, öffnete es und reichte es herum. Ein dickes Stück Papier hatte darin gelegen, nicht größer als das Kästchen, mit einem chaotischen Muster aus kleinen weißen und schwarzen Quadraten darauf, die den beschriebenen Teil in der Mitte einrahmten. Die Lehrkräfte begutachteten die Urkunde kritisch, einige hielten Kameras darauf und prüften anscheinend die Echtheit des Dokuments, nickten. Der Elb in der leitenden Rolle, den Henne Lot Alastan genannt hatte, behielt es besonders lang bei sich, bevor er es weitergab, und las anschließend noch länger in einem Bildschirm auf seinem Tisch in Schriftstücken nach. Dann verfolgte er das Kästchen mit den Augen, bis es wieder bei Myrie angekommen war, bevor er wieder sprach.
“Gut. Damit erledigt sich in der Tat der letzte Teil der Diskussion und wir verhandeln nur noch über den vorherigen Part. Ich mag anmerken, dass wir nun mit dem Hintergrundwissen von heute Nacht vielleicht voreingenommen sind und würde daher vorschlagen, dass wir Aras letzten Einwand aufnehmen, der schon sehr zu Gunsten Myrie Zanges ausgefallen ist, aber dennoch auf Anklang gestoßen war.”, sprach er mit klarer, fester Stimme und sah jedem Einzelnen einmal ins Gesicht. “Trifft das auf Konsens? Ist jemand nicht dafür?”, fragte er.
Myrie fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, dass über ihr Schicksal nicht nur beraten, sondern jetzt auch abgestimmt wurde. Dennoch blickte sie in die Runde und sah keine erhobenen Hände. Als der Elb zur Sicherheit die Gegenfrage stellt, wer dafür war, sah sie von allen Lehrkräften ein Handzeichen der Zustimmung. Nur bei einer der Lehrkräfte, – sie machte einen schon etwas älteren Eindruck –, kam die Reaktion eher zögerlich, aber sie hob schließlich auch klar erkennbar die Hand.
Auch Daina und Merlin hoben die Hand und natürlich ihr Papa mit einem Grinsen, aber Myrie vermutete, dass es keine Rolle für die Entscheidung spielte. Der Elb namens Alastan lächelte ebenfalls, als er die Meldungen der drei erblickte.
“Gut.”, sagte er schließlich. “Gut.”
Er wirkte müde, als habe diese Sitzung auch ihn sehr angestrengt. Myrie konnte sich das nur allzu gut vorstellen. Er war im Gegensatz zu ihr die ganze Zeit durch mit voller Aufmerksamkeit dabei gewesen.
“Ara? Willst du dich gleich im Anschluss wieder mit Myrie Zange auseinandersetzen? Auch wieder mit Henne Lot?”, fragte er.
“Nicht mehr heute. Der Tag war lang genug. Sieh dir das Kind doch an, da kann nichts mehr bei rumkommen.”, erwiderte sie.
Der Elb blickte Myrie an und blinzelte einige Male müde. Dann schüttelte er den Kopf. “Natürlich, du hast recht.”, sagte er.
“Morgen Nachmittag? Auch gern mit Ihnen, Zange?”, schlug sie stattdessen vor.
Myrie hatte noch nie vor heute erlebt, wie ihr Papa Zange genannt worden war und es fühlte sich sehr ungewohnt an. “Ich kann gern bis morgen Abend bleiben, aber ich habe auch andere Kinder, die ich nicht zu lange allein lassen möchte. Spätestens am Nientag früh würde ich gern wieder aufbrechen.”, sagte ihr Papa.
“Natürlich.”, sagte Ara Seefisch. “Aber wenn morgen Abend noch in Ordnung ist, würde ich mich freuen.”
Ihr Papa nickte zustimmend. Dann stand er auf. Er verharrte, bis auch Myrie aufgestanden war und ihm folgte. Sie gingen gemeinsam nach draußen, verließen das Schulgebäude durch die Rückseite und betraten die wellige, kalte Schneelandschaft. Myrie legte sich in den Schnee und ihr Papa legte sich dazu. Es erinnerte sie an die ähnliche Situation mit Olge, aber dieses Mal weinte sie nicht. Sie war einfach müde, einfach sehr müde.
Obwohl es sachte schneite, waren ein paar Sterne am Himmel zu sehen. Blass und still.
“Vielleicht solltest du eher ins Bett gehen zum Schlafen. Wenn du so müde bist, merkst du vielleicht nicht, wie sehr du auskühlst. Also mir ist zumindest allmählich kalt.”, sagte ihr Papa mit seiner stets etwas schmunzelnden, warmen Stimme.
Sie schreckte tatsächlich aus einem Dämmerzustand hoch, hatte vielleicht sogar kurz geschlafen.
Also stand sie auf, spazierte mit ihrem Papa um die Schule herum zum Haupttor. Sie wollte nicht noch einmal vorbei am Verhandlungsraum gehen, wo sie womöglich immer noch Lehrkräfte treffen würde, die vielleicht noch dort waren. Dann verabschiedete sie sich von ihm und ging in ihr Zimmer.
Das Zimmer war voller als sonst, dadurch, dass Daina wieder da war und auf Merlins Bett im Schneidersitz auf sie wartete.
“Da bist du ja endlich.”, rief sie, als Myrie hereinkam. “Wir müssen Dinge besprechen.”
“Ganz sicher nicht mehr heute.”, stellte Myrie klar.
Sie schwang sich auf ihr Bett und rollte sich sehr klein in die hinterste Ecke in ihre Decke ein. Das Licht im Zimmer störte sie, also wickelte sie ihren Kopf mit ein. So aber bekam sie keine Luft, aber das war gerade weniger schlimm.
Der ungünstige Zustand war nicht von langer Dauer. Merlin bat Daina zu gehen und morgen wieder zu kommen. Dann machte er das Licht aus, öffnete das Fenster und ging mit den anderen zwei Bewohnenden ihres Zimmers Zähne putzen. Als sie wiederkamen, war Myrie noch nicht eingeschlafen, und obwohl sie sehr müde war, war dies wieder eine der Nächte, in denen sie mehr in einen ungemütlichen Dämmerzustand wegdriftete, in dem sich Gedanken anstauten, die bearbeitet werden wollten, aber nicht konnten, und der viel zu weit entfernt von Schlaf war.