Merlin

Myries Papa, Ahna und sogar die Zwillinge begleiteten Myrie zum Bahnhof. Sie waren eine halbe Stunde zu früh, weil Myrie so aufgeregt war. Sie hopste die ganze Zeit auf und ab, um ihre Anspannung irgendwie in den Griff zu bekommen, aber vergeblich. Und schließlich glitt fast geräuschlos und langsam der Zug in den Tunnel. Myrie drückte so schnell sie konnte alle einmal, und rannte in den Zug, damit er nicht ohne sie abführe. Dabei wusste sie, dass er meistens eine Weile da blieb, um Bestellungen und Ressourcen abzuladen. Omantra hatte sie sogar zuvor beruhigt, dass der Zug nach ihr fragen würde, wenn sie sich nicht selbst meldete.

“Ich bin Myrie und ich möchte gern zum Ehrenberg-Internat fahren.”, sagte sie und fühlte sich dabei sehr merkwürdig. Dann fügte sie eilig noch ihren vollen Namen hinzu: “Myrie Zange.”

“Bitte wende dich nach links und gehe weiter, bis du Kapsel 8 erreichst. Kapsel 8, 9 und 10 haben das gewünschte Reiseziel Ehrenberg-Internat. Die Kapselnummer steht oberhalb des Türrahmens.”, hörte Myrie eine elektronische, hohe Stimme, die direkt in ihre Hinterohrhörer sprach, die also nur sie hörte. Wie praktisch, dachte sie. Sie tat wie ihr geheißen und ging durch den langen Zug. Die Kapseln waren verschieden lang. Die meisten waren keine Personenkapseln, sondern transportierten irgendwelche meist flüssigen Güter, wie vakuumverpackte Nachfüllung für die Kochdrucker. Myrie wusste, dass die Ladung in die Kochdruckerpatronen des Dorfes umgefüllt wurde, die langsam zur Neige gingen.

Aber einige, meist kleine Kapseln waren mit Personen besetzt. Viele lagen entspannt in ihren Sitzen und hatten ihre VR-Brille auf, manche machten hin und wieder Gesten mit den Händen. Vielleicht lasen sie etwas und scrollten den Text. Und die Regungslosen hörten vielleicht etwas. In einer Kapsel saßen drei runzlige, alte Orks und unterhielten sich. Sie starrten Myrie an, als sie vorbeiging.

“So etwas habe ich noch nie gesehen. Aber im Zug sieht man ja die vielfältigsten Kreaturen.”, murmelte der eine.

Myrie beeilte sich, weiter zu kommen.

“Hey, er hat es nicht so gemeint, Kleines!”, rief einer der anderen ihr nach.

Als sie schon fast in der nächsten Kapsel war, konnte sie wieder die Stimme des ersten hören, der vielleicht auch etwas Entschuldigendes rief, aber sie verstand nichts, weil sich das innere ihres Kopfes heiß anfühlte und für einige Momente nichts hineinließ. Sie erinnerte sich daran, was sie sich über die vergangenen Wochen versucht hatte, präsent zu machen: Dass sie manchmal Dinge als gemein wahrnahm, die nicht gemein waren. Wären das mögliche zukünftige Mitlernende gewesen, wäre Myrie wohl zurückgegangen, aber sie saßen nicht in Kapsel 8 oder einer der folgenden zwei, und hatten daher ein anderes Reiseziel. Vielleicht waren sie auch viel zu alt für eine Schule, aber das wollte Myrie nicht beurteilen. Man lernte nie aus, manche lernten erst spät und manche sahen auch einfach nur alt aus und waren es nicht.

Endlich kam Kapsel 8. In Kapsel 8 saß ein älterer Mensch, mit einer VR-Brille in den Sitz zurückgelehnt. Myrie huschte rasch weiter, bevor sie sich besinnen und sich zu ihm setzen konnte. Abteil 9 war leer und Myrie setzte sich.

Der Zug hatte längst sanft angefangen dahinzugleiten. Der Sitz war ungemein bequem und flauschig. Er hatte Lehnen, die sie wegklappen konnte, aber vorn auf den Lehnen befanden sich Deckel und Myrie konnte nicht widerstehen diese Deckel aufzuklappen. Darunter war ein kleiner Touchscreen, der die Geschwindigkeit des Zuges anzeigte, und Myrie staunte nicht schlecht. Ohne die Beschleunigung wirklich bemerkt zu haben, waren sie auf eine doch beachtliche Geschwindigkeit gekommen. Auf der anderen Seite war sie in ihrem ganzen Leben noch nie wirklich schnell unterwegs gewesen.

Mithilfe des Touchscreens ließ sich außerdem die Beleuchtung anpassen. Myrie drehte das sehr schummrige Licht ein bisschen höher, sodass sie vielleicht ein Gesicht erkennen konnte, sollte jemand dazu kommen. Doch es kam natürlich niemand. In Byrglingen war sie als einzige Person eingestiegen und der Zug hatte bisher kein zweites Mal gehalten. Bei drei Kapseln mit je sechs Sitzen, die dazu wahrscheinlich großzügig kalkuliert waren, waren in diesem Zug wohl auch nicht allzu viele erwartet, die zum Ehrenberg-Internat wollten und auf gut 6 Stunden Fahrt konnte sich das hinziehen, bis die nächste Person mit dem Reiseziel einstieg.

Myrie überlegte auch ihre VR-Brille aufzusetzen und sich vielleicht durch eine Strand- und Meervirtualität zu beruhigen, aber sie war auf eine so eigentümliche Art aufgeregt, dass es vermutlich gar nichts bringen würde. Alles war neu und ihr fehlte ein Überblick. Sie hatte außerdem Angst, dass sie verpassen könnte, dass der Zug hielt und jemand dazu kam, und sie dann unfreundlich wäre, weil sie sich nicht die ganze Zeit konzentrierte, aufmerksam und freundlich zu sein.

Sie nahm ihre nackten Füße auf den Sitz, spielte mit ihren Zehen, umarmte die Knie und legte das Kinn in die Ritze zwischen den Knien. Sie rieb mit den Händen ihre Schienbeine auf und ab und auf und ab und summte leise vor sich hin. Auf diese Weise verbrachte sie eine Stunde und der Zug hatte in zwei weiteren Dörfern gehalten.

Als er sich gerade wieder in Bewegung setzte, kam eine weitere Person in die Kapsel. Es war ein Mensch in ihrem Alter, schätzte Myrie. Er hatte orangeblondes, feines Haar mit großen Locken, die gerade die Länge hatten, dass sich das Haar im Schnitt einmal locken konnte. Es wirkte seidiger als das der meisten Zwerge in Byrglingen. Sein Gesicht hatte ein paar Sommersprossen, er mochte eineinhalb Köpfe größer sein als Myrie und er zog einen schweren Koffer auf Rollen hinter sich her. Myrie schätzte die Größe des Koffers und die Höhe der Gepäckablage ab und beschloss, dass es passen müsste. Sie stellte fest, dass sie, seit er die Kapsel betreten hatte, die ganze Zeit vor- und zurückgewippt war und hörte sofort damit auf.

“Fährst du auch ins Ehrenberg-Internat?”, fragte er neugierig.

“Gäbe es sonst einen Grund für mich hier zu sitzen?”, fragte Myrie nachdenklich. Es musste sicher irgendeinen anderen Grund geben, aber Myrie fiel keiner ein.

“Darf ich mich zu dir setzen?”, fragte der Mensch.

“Ich weiß nicht. Wer bestimmt, ob du das darfst?”, fragte Myrie verwirrt. Sie war außerdem doch noch mit der ersten Frage beschäftigt.

“Eigentlich nur dein Wille. Die Frage ist, fühlst du dich wohl, wenn ich mich zu dir setzte?”

“Nein.”, sagte Myrie. Das war einfach. Der Mensch nickte und zog sein Gepäck durchs Abteil um es zur anderen Seite zu verlassen.

“Moment!”, rief Myrie. In ihren Kopf purzelte alles durcheinander. Sie wollte doch gar nicht, dass er ging. Er blieb stehen und sah ihr geduldig ins Gesicht, bis sie sich gesammelt hatte und ihre Bedenken formuliert bekam:

“Also nach meinem Willen zu urteilen, dürftest du dich zu mir setzen, aber ich würde mich unwohl fühlen.”, sagte sie langsam.

“Also du möchtest gern, dass ich mich zu dir setze, obwohl dir das unangenehm wäre. In anderen Worten.”, sagte der Mensch.

Myrie nickte und lächelte. Ungewöhnlich, dachte Myrie, als sie plötzlich und zum ersten Mal, solange ihre Erinnerungen zurückreichten Sympathie für eine fremde Person empfand. Und gleichzeitig die übliche Angst doch gleich alles falsch zu machen.

“Soll ich dein Gepäck da hoch tun?”, fragte Myrie vorsichtig und stand auf.

Als sie stand, fragte sie sich, ob das so eine gute Idee war, weil sie nicht einmal auf den Zehenspitzen mit ausgestreckten Armen an die Gepäckablage kam. Sie stellte sich auf die Sitzflächen der Sitze und konnte nun mit dem Handballen die Ablage erreichen. Das sollte genügen. Sie sprang wieder hinunter, um das Gepäck des Menschen hinaufzuheben, sobald er sein okay gegeben hätte.

“Vielleicht kannst du mir helfen, das ist schon recht schwer.”, überlegte der Mensch.

Myrie fasste in den Koffergriff, um das Gewicht zu testen und stolperte beinahe mit dem Koffer nach hinten. Er war nicht unbedingt federleicht, aber so wie sich der Mensch abgemüht hatte und mit der Warnung hätte Myrie eher das dreifache Gewicht erwartet.

“Der ist leicht genug, das würde ich schaffen.”, versicherte sie. Der Mensch griff dennoch mit zu.

“Vorsicht, da ist zwar weich verpacktes, aber doch empfindliches Zeug drin.”, ächzte er sich streckend, während Myrie den Koffer in die Ablage wuchtete und er ihn eigentlich nur anfasste.

Aber Myrie war vorsichtig. Und das, obwohl sie sehr nervös war, aber der Koffer bekam ihre volle Konzentration und erst, als er sicher oben verstaut war, konnte sie wieder befreiter denken.

“Danke.”, sagte der Mensch, und fügte hinzu: “Ich bin übrigens Merlin. Ich gehe dieses Halbjahr das erste Mal auf das Ehrenberg-Internat und es ist meine erste Schule.”

“Ich auch. Also ich bin nicht Merlin. Aber der Rest. Aber nun nochmal zurück zu der Frage, ob es einen anderen Grund gäbe, in einer Kapsel ins Ehrenberg-Internat zu sein, als da auch hinzufahren.”, bohrte sie nach, nun, da endlich Luft dafür war.

Merlin setzte sich auf einen der weichen Sitze und Myrie setzte sich ihm gegenüber hin, die Füße wieder mit auf den Sitz gestellt. Merlin blickte irritiert auf ihre Füße und sah sich dann rasch im Abteil um. Seine Miene wurde immer grimmiger, bevor er antwortete.

“Die Kapseln halten ja auch an allen Bahnhöfen vorher, du könntest vorher aussteigen wollen. Oder du könntest eine Person treffen wollen, die zum Ehrenberg-Internat möchte, und deshalb vorübergehend hier sein.”

“Ah, stimmt.”, sagte Myrie und nickte.

Merlin seufzte, den Blick nicht auf sie gerichtet, sondern auf einen Punkt rechts von ihr.

“Was ist los?”, fragte sie.

“Neben deiner Sitzreihe ist eine praktische, niedrige, leere Gepäckablage. Wir hätten uns gar nicht so anzustrengen brauchen.”, sagte er.

“Oh, tut mir leid, das hatte ich gar nicht gesehen.”, sagte Myrie, die nun ihrerseits dort hinsah.

“Hey, ich doch auch nicht.”, sagte er, und er schüttelte grinsend den Kopf darüber. “Solange wir es rechtzeitig wieder herunterkriegen, ist das ja nicht tragisch.”, fügte er hinzu.

Sie saßen eine Weile still da, und sahen sich gegenseitig an. Merlin trug eine Hose aus dunklem, samtigem, stabil wirkendem Stoff, die zu seinen Füßen hin breiter wurde. Darunter lugten hohe dunkellila Stiefel mit hellgelben Sternen hervor. Myrie mochte diese Stiefel sofort. Sie machten einen gleichzeitig stabilen und beinahe filigranen Eindruck. Sein Oberkörper war mit einem schlicht dunkelgrünem, langärmligem Oberteil mit Kragen bekleidet, und darüber trug er einen Wollpullunder mit rotweißem Muster. Es waren zum Beispiel Ahornblätter und Eicheln darauf und einige Blattsorten, die Myrie nicht zuordnen konnte. Vielleicht waren sie erfunden. Oder sie wuchsen gar nicht um Byrglingen.

“Ich hätte da noch ein paar Fragen.”, durchbrach Merlin die Stille. Myrie nickte langsam, während sie weiter auf das Blattmuster starrte.

“Wie heißt du?”

Das war eine leichte Frage, wie nett.

“Myrie. Myrie Zange.”

“Reicht es, wenn ich Myrie sage, oder ist dir lieber mit vollem Namen angesprochen zu werden?”

Myrie sah nun doch auf in Merlins Augen und dachte kurz nach.

“Myrie reicht. Bei dir reicht ja Merlin, oder habe ich das falsch verstanden?”

“Das hast du nicht falsch verstanden.”, sagte Merlin.

Er hatte hellbraune Augen und seine Hautfarbe war so hell, wie Myrie noch nie eine außerhalb der Virtualitäten gesehen hatte. Und selbst in den Virtualitäten war eine solch helle Haut selten.

“Als du vorhin sagtest, ‘Ich auch’, falls du dich daran erinnerst, meintest du da, du gehst auch das erste Mal auf eine Schule?”

“Ja.”, sagte Myrie nach einigem Zögern, während dessen sie sich den Gesprächsfetzen von vorhin in Erinnerung rief.

“Und vorläufig erstmal die letzte: Wo hast du dein Gepäck?”

“Am Körper.”, antwortete sie.

Er blickte sie skeptisch an. Das besorgte sie.

“Brauchen wir irgendwas?”, fragte sie und fühlte sich unangenehm beklemmt in der Brust dabei.

Dann plötzlich war sie voller Panik. Dieses Gefühl, dass sie seit Wochen zu bekämpfen versuchte, machte sich nun in ihr breit und sie umklammerte fest ihre Knie während sie wieder anfing, hin- und herzuwippen, um sich zu beruhigen.

“Hey, keine Panik!”, rief Merlin beruhigend. “Selbst wenn du etwas vergessen hast, kann ich dir sicher das Nötigste leihen, bis dir jemand Sachen hinterherschickt. Und vielleicht hast du ja recht und du brauchst gar nicht mehr, als du am Körper hast.”

Myrie atmete einige Male tief durch und wurde ruhiger. Sie legte ihr Kinn auf die Arme, die sie um ihre Knie geschlungen hatte, und sah wieder in Merlins Gesicht. Es war ein so ausdrucksstarkes Gesicht, das gerade freundlich und beruhigend war. Das mochte Myrie. Sie atmete noch ein paar mal langsam ein und aus, bevor sie sich wieder traute, etwas zu sagen.

“Was hast du denn so in deinem Koffer?”, fragte sie vorsichtig.

“Nun, verschiedene Anziehsachen, für die Nacht, oder für verschiedene Temperaturen. Ein paar Pantoffeln, einen Bademantel, ein paar Sandalen für den Sommer. Ein Handtuch, eine flauschige Decke, in die ich mich kuschele, wenn ich mich einsam fühle. Eine Stereoanlage und ein Mischpult, weil ich gern an Musik bastele. Eine Fagote, das ist ein Blasinstrument, und Olja, ein langer Plüschhai.”

Myrie wurde bei der Aufzählung immer gelassener. Das waren alles Dinge, die sie nicht unbedingt brauchte.

“Ist das in Ordnung, wenn man nackt schläft?”, fragte sie vorsichtshalber.

“Ich denke schon.” überlegte Merlin. “Wüsste nicht, was dagegen spräche, außer, du frierst deshalb und willst das nicht. Aber du siehst eigentlich so aus, als könntest du einiges an Kälte ab, und die Räume werden sicher geheizt sein, wenn es draußen kalt ist. Oder man nutzt den EM-Anzug, um sich zu wärmen. Hast du einen EM-Anzug mit?”

Myrie nickte. Ihre Gedanken verhedderten sich außerdem, weil Merlin zwei Dinge gesagt hatte, über die sie nun gleichzeitig versuchte nachzudenken. Woran sahen Leute ihr an, dass sie wenig kälteempfindlich war? Es war schon mehrfach vorgekommen, dass jemand so etwas zu ihr gesagt hatte, und es verwirrte sie. Aber sie verschob die Frage. Sie war zwar interessanter als die andere Frage, aber es entstresste sie doch, gedanklich zu kontrollieren, ob ihr etwas fehlte.

Ihren EM-Anzug hatte sie fein zusammen gerollt in eine ihrer vielen Hosentaschen verstaut. Diese beulte sich dadurch etwas, was Myrie gar nicht gefiel. Sie mochte lieber, wenn die Dinge flach und eng am Körper waren. Sie hatte auch eigentlich eine große flache Tasche in der Rückseite der Weste, in der er normalerweise weniger oft gefaltet verstaut war. Aber auf dieser Reise musste auch die VR-Brille mit, bei deren Verstauen sich eine Ausbuchtung einer Tasche nicht verhindern ließ. Daher trug sie den EM-Anzug aus Symmetriegründen dieses mal auf der anderen Seite. Es hatte den weiteren Vorteil, dass ihr Rücken dadurch weniger gewärmt wurde. Im Freien bei kühlen Temperaturen hatte sie das Problem nicht so sehr, aber hier im Zug war sie gerade dankbar darum.

“Das, was mir vielleicht Sorgen machen würde, ist, dass du gar keine Schuhe hast. Wir machen sicher ab und an Ausflüge über Gelände mit spitzen Steinen oder scharfen Kanten. Aber das machen wir auch bestimmt nicht am ersten Tag, und du kannst sie dir nachschicken lassen.”, überlegte Merlin.

“Ich habe nie Schuhe an. Und ich bin oft in steinigem Gelände unterwegs.”, gab Myrie zurück.

“Auch auf felsigem Gelände?”, fragte er.

Myrie nickte.

“Sind deine Fußsohlen so dermaßen dick, dass dir dann nie was passiert?”

“Sehr selten habe ich mal eine Kante erwischt, die so scharf war, dass ich etwas geblutet habe. Aber das ist mir schon Jahre nicht mehr passiert.”

“Und hast du nie kalte Füße?”

“Der Trick ist, sie gut durchblutet zu halten.”, sagte sie, stand auf und wippte auf den Füßen auf und ab.

Dann kräuselte sie die Zehen und machte noch ein paar Übungen. Merlin nickte und lächelte.

“Darf ich dich noch etwas Persönliches fragen?”, fragte er und eine Spur Ängstlichkeit lag in seiner Stimme.

Gleich fragt er bestimmt, warum ich keinen Bart habe, dachte sie, und ermahnte sich innerlich, dass das eine Frage war, die eigentlich gar nicht weiter schlimm war. Außerdem schien Merlin doch nett zu sein.

“Es ist völlig in Ordnung wenn nicht.”, sagte er. “Wir kennen uns noch nicht lange. Ich war nur, hmm, ja neugierig.”

“Meine Mutter ist ein Ork.”, platzte es aus Myrie heraus.

“Wow. Und dein Vater? Oder anderes Elternteil?”, fragte Merlin überrascht.

Myrie registrierte, dass ein aggressiver Unterton fehlte, den sie gewohnt war, und vor dem sie Angst gehabt hatte, aber war zu überfordert, um genau darüber nachzudenken.

“Ein Zwerg, was sonst.”, antwortete Myrie.

Ihr fiel erst einen Moment später ein, dass das ja nur in ihrem Dorf ein bekannter Umstand war, und man ihr das vielleicht genauso wenig ansah, wie, dass ihre Mutter ein Ork war. Vielleicht könnte man auch denken, ihre Eltern wären Troll und Gnom gewesen. Oder Lobbud, Lobbuds hatten ja auch meist keine Haare im Gesicht.

Dann kamen ihr Erinnerungen an ihre Besuche in Lern-Virtualitäten, und sie stellte fest, dass es gar nicht stimmte. Damals war sie ein paar Mal nach ihrem Papa gefragt worden. Es war einfach inzwischen schon sehr lange her. Sie hatte sich dann für sich die Bezeichung ‘Zwork’ ausgedacht, damit sie genau wie die anderen, mit einem Wort sagen konnte, wer sie war. Sie grinste einen Moment bei dem Gedanken. Aber es hatte nicht den gewünschten Effekt gehabt, die anderen hatten es nicht verstanden oder seltsam gefunden und gelacht. Nicht in einer Art, die sich gut angefühlt hatte.

Merlin allerdings wirkte gerade überhaupt nicht ablehnend, eher nachdenklich fand sie.

“Ich bin ein Zwork.”, sagte sie vorsichtig, angespannt neugierig, was nun passieren würde.

“Das klingt echt cool.”, sagte Merlin und grinste, störte sich überhaupt nicht an ihrer barschen Antwort von zuvor, und fügte vielleicht etwas unsicher hinzu. “Ich mag Wortspiele.”

Myrie musste plötzlich anfangen zu lachen. Sie wusste nicht so genau warum. Vielleicht, weil sie es damals nicht gekonnt hatte und es jetzt nachholte.

“Zwork!”, widerholte sie für sich und trotzdem nicht leise, das Wort auskostend.

Dann kicherte sie noch eine ganze Weile vor sich hin. Merlin hatte anfangs mitgelacht. Nun beobachtete er sie lächelnd.

“Aber eigentlich war das gar nicht, was ich hatte fragen wollen.”, sagte Merlin, als sie allmählich ruhiger wurde. “Und die Frage nach deinem anderen Elternteil hat es nicht besser gemacht. Die ganze Einleitung war vor dem Hintergrund unsensibel. Es tut mir leid.”

Ein Teil der Angst von vorhin, dass er gleich nach ihrem fehlenden Bart fragen könnte, kam zurück. Dabei war das doch nun geklärt und er hatte es nicht einmal fragen wollen. Allerdings verstand sie durch das Wiederkehren der Angst, was er damit meinte, dass es unsensibel wäre, zu fragen. Das stand etwas im Kontrast zu Omantras Rat, fand sie, nicht schon Ablehnung zu vermuten, bevor sie da war. Und ihr machte trotzdem Angst, was er fragen wollen könnte, aber sie war auch neugierig.

“Was wolltest du eigentlich fragen?”, fragte sie also.

“Ob du Angst vor der Schule hast.”, sagte er zögerlich.

Myrie musste schon wieder grinsen. Das brachte sie dazu, wieder daran zu denken, ein Zwork zu sein, und sie kicherte schon wieder, aber dieses Mal nicht so lang.

“Nicht vor dem Gebäude.”, sagte sie, aber fügte nach kurzem Zögern sachlich hinzu. “Ich habe Angst davor, zur Schule zu gehen.”

Ihr kam es nicht viel präziser vor, als Merlins Frage es gewesen war, aber sie konnte es nicht besser kurz fassen, was genau sie beide meinten, und ärgerte sich darüber.

“Ich auch ein bisschen.”, gab Merlin zu.

Er schaute nach links an die Wand der Kapsel. Dann klappte auch er einen der Deckel der Sitzlehnen auf, die Myrie entdeckt hatte, und tippte darauf herum. An den Seiten der Kapsel flog nun eine Landschaft vorbei. Myrie holte erschrocken Luft.

“Diese Bildschirme zeigen, durch welche Landschaft wir uns bewegen.”, erklärte Merlin.

Myrie konnte aber nichts erkennen, vor ihren Augen flirrte es nur und sie kniff sie zu. Aber die sich schnell verändernden Helligkeitsunterschiede waren immer noch da. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu wimmern.

“Ich mache es aus.”, sagte Merlin und das Flimmern hörte auf.

Vorsichtig öffnete Myrie die geblendeten Augen hinter den Fingern und spreizte die Finger ein wenig. Bestimmt hatte sie ihn verärgert. Bestimmt wollte er am liebsten diese Landschaft vorbeirasen sehen, aber für Myrie war das nichts. Zumindest gerade war es das nicht, ganz und gar nicht.

“Zu schnell.”, sagte sie tonlos.

“Das war schon ziemlich schnell. Aber es ist ja jetzt aus.”, sagte Merlin und er hatte wieder diesen beruhigenden Tonfall aufgelegt.

“Wenn ich meine VR-Brille aufsetze, dann kannst du das wieder anmachen.”, sagte sie und griff in ihre Tasche, doch bevor sie die Brille herausholen konnte, schüttelte Merlin den Kopf.

“Ich schau dich lieber an. Ich kann diese Landschaft auch später in einer Virtualität anschauen. Erzähl mir lieber, was du so für Virtualitäten besuchst.”, schlug er vor. “Es sei denn, du möchtest lieber nicht.”

“Strand.”, sagte Myrie.

Das wäre die gewesen, die sie sich jetzt angeschaut hätte, wenn er sie nicht aufgehalten hätte.

“Ein Spiel am Strand? Mit Piraterie?”, fragte er. “Vor zwei Monaten kam ‘Die Flotte der Maare 2’ raus, ein Abenteuerspiel über ökologische Piraterie mit realem Geschichtsbezug, in dem man auch Nixen spielen kann. Das fand ich ganz interessant, habe es mir aber noch nicht ausprobiert. So etwas?”

“Nein, einfach nur Strand. Ich spiele eigentlich nicht. Am Strand zu liegen und den Möwen und den Wellen zuzuhören beruhigt.”

Schon allein die Vorstellung ließ Myrie freier atmen. Die Erinnerung an warmen Sand auf der Haut. Die Vorstellung, eine Hand voll Sand zu nehmen und sie langsam auf ihre Arme oder Beine rieseln zu lassen.

“Manchmal gehe ich auch in eine Sanddusche, in der von oben Sand in einem dünnen Strahl auf den Rücken rieselt und dabei wandert der Strahl.”

“Klingt entspannt.”, sagte Merlin. “Aber ich könnte nicht nur das machen. Ich brauche da mehr Abwechslung. Auch Action.”

“Die habe ich meist beim Klettern.”, erwiderte Myrie.

“Wenn du sagst, du spielst nicht, ist das dann eine reine Klettervirtualität?”, überlegte Merlin.

“In solche gehe ich auch ab und an, um neue Klettertechniken erst einmal zu üben. Aber meistens klettere ich draußen in der Natur.”

“Wow!”


Merlin fragte sie ausführlich über ihre Ausflüge in das Gebirge aus, das Byrglingen umgab, und hörte ihr bewundernd zu. Myrie wurde schon bald heiser. So lange hatte sie noch nie mit jemandem am Stück gesprochen. Ihr fiel auf, dass sie immer Fragen beantwortete und selbst keine hatte. Es war nicht so, dass sie sich nicht für Merlin interessiert hätte. Sie hätte ihm liebend gern zugehört, was auch immer er erzählt hätte, aber sie wusste einfach nicht, was sie fragen sollte. Es kam ihr vor, wie glatter Stein. Ein schöner Stein zwar, aber nirgends konnte man etwas angreifen.

Die Zeit verging, sie hielten in einigen weiteren Dörfern und Städten, doch sie achteten nicht weiter darauf. Myrie hustete heiser und Merlin machte eine Fragepause. Er zog seine wundervollen Schuhe nun auch aus und verknotete die Beine. Dann betrachtete er wieder Myries Gesicht. Myrie betrachtete seine Socken. Sie waren blau und grün geringelt. Myrie überlegte, sollte sie je Socken tragen, dann sollten es wohl auch geringelte sein. Sie fragte sich, ob andere ihre schlicht dunkelgrüne Kleidung wohl langweilig finden würden. Aber auf der anderen Seite würden bunte Farben vielleicht auch eher die Tiere verschrecken.

“Du erinnerst mich ein wenig an mein Herzwesen. Sie liebt das Gebirge auch so.”, sagte Merlin in die entstandene Stille.

Die Formulierung ‘mein Herzwesen’ machte Myrie stutzig. Sie hätte mit der Formulierung ‘ein Herzwesen’ gerechnet, oder mit dem Anfügen eines Namens, aber so war es seltsam spezifisch.

“Hast du genau ein Herzwesen?”, fragte Myrie.

Wenn sie es recht bedachte, war das gar nicht so unwahrscheinlich. Sie hatte schließlich gar keines, es sei denn, sie zählte Ahna.

“Ich habe ein paar mehr. Aber sie ist schon ein besonderes. Ich treffe sie jeden Tag und ich mag sie wirklich sehr. Ich mag sie auf eine andere Art, als ich andere Herzwesen mag.”, erklärte er mit einem grüblerischen Ausdruck.

“Wie magst du denn sonst andere Herzwesen und wie unterscheidet sich das?”, wollte Myrie wissen.

“Das ist gar nicht so einfach zu erklären. Ich treffe mich gern in Virtualitäten mit ein paar Herzwesen zum Spielen. Und auch die, denen ich in Lerngemeinschaften begegne, freue ich mich stets zu sehen. Aber ich weiß gar nicht genau, ob ich mit ihnen etwas anfangen könnte außerhalb eines Spiels oder außerhalb der Lerngemeinschaft. Hermen, einer aus einer meiner Lerngemeinschaften, treffe ich immerhin noch außerhalb der Lerngemeinschaften in anderen Virtualitäten, zum Beispiel zum Hausaufgaben machen, und manchmal reden wir auch über dies und das. Er fängt übrigens auch dieses Halbjahr im Ehrenberg-Internat an. Aber mit Fadja, das ist mein Herzwesen, ist das anders. Wir verbringen viel Zeit auch schweigend nebeneinander. Und ich habe oft das Bedürfnis, sie anzufassen. Wir kuscheln auch gern miteinander zum Einschlafen. Und wenn wir uns unterhalten, dann ist es meist sehr philosophisch. Sie ist sehr weise.”

Er hörte auf zu sprechen und sah in sich versunken seine Socken an. Er sah schön aus, wie er da saß, fand Myrie. Irgendwie glücklich, Myrie konnte es förmlich spüren und fing an ein wenig zu lächeln. Außerdem fühlte sie sich etwas geschmeichelt. Wenn sie ihn an sein Herzwesen erinnerte, konnte sein Eindruck von ihr nicht ganz so schlecht sein, oder doch?

“Manchmal küssen wir uns auch.”, fügte Merlin hinzu. “Ich erzähle das sonst nicht groß. Leute meinen, ich sei zu jung. Ich habe gerade nur den Eindruck, bei dir könnte ich das angstfrei sagen.”

“Warum meinen Leute, du wärst zu jung zum Küssen? Ich habe doch schon Küsschen von meinem Papa gekriegt, als ich noch ein Säugling war.” Myrie war verwirrt.

“Das ist etwas anderes. Es gibt unterschiedliche Arten von Küssen. Es gibt so liebevolle Küsschen, mit denen man nahestehenden Personen sagt, dass man sie lieb hat, und es gibt Küsse, die sich anders anfühlen, bei denen den Beteiligten ganz warm und aufgeregt wird.”, erklärte er.

“Hmm.”, machte Myrie nur.

Ihre Schwester hatte von so etwas auch einmal erzählt, dass sie davon träumte. Sie hatte ihr einen Film gezeigt, in dem sich zwei ineinander verliebten und küssten. Dieser Kuss war Myrie vor allem nass und übertrieben vorgekommen. Aber wenn es Leute mochten, warum nicht. Allerdings kam es ihr zwar immer noch seltsam aber doch nachvollziehbarer vor, so, wie Merlin das erklärte, dass bei einem solchen Kuss für die Beteiligten vielleicht mehr zu spüren war, als dass sie sich einfach so anleckten.

Myrie nickte langsam. Vielleicht sollte sie das auch irgendwann ausprobieren. Sollte sie Merlin fragen? Aber dann entschied sie sich dagegen. Das war ein Thema, auf das Leute empfindlich reagieren konnten und wo sie sich vielleicht leicht unbeliebt machen könnte.

“Wenn Fadja das Gebirge so sehr mag wie ich, warum weißt du dann nicht schon von ihr, wie man klettert?”, fragte sie stattdessen.

“Es geht Fadja und mir da weniger um die Aktivität als nur um die Aussicht. Also nur um einen Teil von dem, was du beschrieben hast. Wir treffen uns meist in einer Gebirgsvirtualität auf einem großen Berg und genießen die Aussicht.”, erklärte er.

“Die ist da vielleicht sogar besser, als in der Realität. Die Luft ist nämlich nicht unsichtbar, sondern nur sehr durchsichtig. Und wenn man weit weg von etwas ist, dann wirkt das immer etwas, hmm, matt und unscharf.”

“Ja, das hat Fadja auch erzählt!”, sagte Merlin freudig. “Ich würde Aussicht in der Virtualität und der Realität trotzdem gern auch mal selbst vergleichen.”

Myrie spürte die leichte Beschleunigung, die bedeutete, dass der Zug eben wieder gehalten hatte. Sie fragte sich, wie lange sie wohl schon fuhren und stellte überrascht fest, dass sie das Zeitgefühl völlig verloren hatte.

In diesem Augenblick schritt ein weiterer Mensch durch die Tür. Vielleicht war er auch nicht rein Mensch, überlegte Myrie, als ihr Blick auf die etwas spitzeren Ohren fiel. Auch er hatte, wie Merlin, Gepäck, aber er zog es nicht selbst hinter sich her. Es folgte ihm auf sechs kurzen Beinchen, an deren Enden Rollen waren.

“Ist einer von euch Merlin?”, fragte er, als er herein kam.

“Ja!”, rief Merlin begeistert und sprang auf. “Hermen?”

Der andere nickte.

“Großartig. Ich hatte dir gerade eine Nachricht geschickt und gefragt, in welchem Abteil du denn sitzt. Aber du antwortest ja nicht.”

“Ich habe mich unterhalten, und habe daher nicht auf Nachrichten geachtet. Das ist Myrie!”

Merlin zeigte auf Myrie. Hermens Blick folgte dem Wink und richtete sich nun zum ersten Mal wirklich auf Myrie. Er hatte wohl eigentlich gar nicht vermutet, dass sie Merlin sein könnte, überlegte sie.

“Und du bist?”, fragte er und sah dabei ziemlich skeptisch aus.

“Myrie.”, antwortete sie irritiert.

Hermen gab ein genervtes Geräusch von sich.

“Was für ein Volk, meine ich. Für einen Troll bist du einige Meter zu klein.”

Myrie blieb kurz die Luft weg. Das war die Art von Unterhaltung, die sie befürchtet hatte. Aber, versuchte sie sich zu erinnern, vielleicht meinte er das ja gar nicht so. Eigentlich hatte er doch nur eine Frage gestellt und war etwas genervt, weil sie die nicht gleich begriffen hatte. Und es wäre ja an sich nichts Schlimmes daran, wäre sie tatsächlich ein Troll. Sie zwang sich tief Luft zu holen.

“Ein Zwork.”, sagte Myrie.

Dabei fing sie über das Wort schon wieder an zu grinsen und vor sich hinzukichern.

“Zwork.”, wiederholte Hermen und dachte kurz nach, blickte dann grinsend Merlin an. “Halb Zwerg halb Ork. Das ist gut. Ein klassischer Merlin!”

“Wäre es vielleicht, aber in diesem Fall war Myrie schneller.”, widersprach dieser.

Hermen wandte sich ihr wieder zu, machte einen Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten konnte und der sich rasch veränderte und nickte, vielleicht sogar anerkennend. Dann wanderte sein Blick zum Platz neben Myrie und dann zu seinem Gepäck, das sich neben ihm abgestellt hatte. Auf einmal begann auch Merlin zu kichern.

“Wenn du möchtest, können Myrie und ich dir helfen, dein Gepäck auf die Gepäckablage da oben zu hieven.”, schlug er vor.

Hermen warf einen Blick auf Myrie.

“Nun, es ist sehr schwer.”, gab er zu bedenken und sah dabei schon wieder so skeptisch und herablassend aus, dass Myrie den Drang hatte, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht zu schwer war. Und dass, obwohl es großer Unsinn war, mehr Gepäck in die obere Gepäckablage zu verfrachten, und Myrie nicht klar war, was das sollte und warum Merlin das vorschlug.

Sie stand auf, und hob den Kasten an. Er war tatsächlich schwerer, als Merlins Gepäck, vielleicht dreimal so schwer. Sie hob ihn über den Kopf, dann setzte sie den Kasten wieder ab.

“Ich könnte.”, sagte sie und setzte sich wieder.

“Ist sie doof?”, fragte Hermen Merlin, der immer noch gluckste, und als Antwort nur den Kopf schüttelte.

“Du hattest es fast oben und setzt es wieder auf dem Boden ab?”, richtete er sich nun an Myrie.

Doch sein Gepäckstück beantwortete nun die Frage, indem es sich selbst in die Gepäckablage neben der Sitzreihe verfrachtete. Hermen schnaubte, und lachte nun auch.

“Ihr seid beide doof.”, sagte er belustigt und nun verstand Myrie. Merlin hatte nur einen schlechten Witz machen wollen. Sie fing erneut an zu kichern.

Hermen setzte sich Merlin gegenüber direkt neben Myrie und sofort hörte sie auf zu kichern und gefror. Hermen schien das nicht zu bemerken.

“So sieht man sich also das erste Mal real.”, sagte Hermen.

Er und Merlin betrachteten sich eine Weile, bevor sie sich über irgendetwas zu unterhalten begannen. Myrie bekam davon überhaupt nichts mit. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, direkt neben einer Person zu sitzen, die sie nicht eingeladen hatte, die nicht gefragt hatte. Noch dazu hatte er sie als doof bezeichnet. Wenn auch sie alle am Ende darüber gelacht hatten, hatte das doch am Anfang recht ernst gemeint geklungen. Myrie setzte sich mit geschlossenen Augen kerzengerade hin und versuchte ruhig zu atmen. Und so brauchte sie eine Weile, bis sie merkte, dass Merlin und Hermen aufgehört hatten zu reden. Sie öffnete die Augen wieder und sah direkt in Merlins besorgtes Gesicht.

“Bist du wieder da?”, fragte er vorsichtig.

Myrie nickte zögerlich.

“Ich wollte dich fragen, ob dir auch Musik zu viel wäre, aber dann warst du, nun, irgendwie nur noch physisch anwesend. Was ist los?”, fragte er.

Oh je, wie sollte sie denn das vermitteln, dass das falsch war, dass Hermen neben ihr saß. Aber da war noch eine andere Frage, die war einfacher.

“Musik. Kommt drauf an. Wenn sie langsam ist, oder klare Muster hat, ist sie gut.”

“Das sind ja mal Kriterien. Du nennst uns kein Genre sondern eine Form. Du bist echt komisch.”, bemerkte Hermen.

Das war plötzlich zu viel. Myrie sprang auf die Füße und lief aus der Kapsel in die nächste. Es war Kapsel 10. Leider war auch die Kapsel nicht leer. Hier saßen auch bereits drei Kinder, die ihr Gespräch unterbrachen und Myrie anstarrten. Myrie lief zurück um zu schauen, ob der Mensch in Kapsel 8 immer noch seine VR-Brille aufhätte. Aber auch in diesem Abteil saß nun eine weitere Person, ein Elb vermutete Myrie, vielleicht weiblich, der älter und streng wirkte. Der Mensch hatte die Brille nicht mehr auf und hatte sich mit der anderen Person unterhalten, als Myrie hereinkam. Auch sie unterbrachen ihr Gespräch, als Myrie eintrat. Myrie wendete sich zurück und kam wieder in der Kapsel bei Hermen und Merlin an, die inzwischen damit beschäftigt waren, Merlins Koffer aus der Gepäckablage zu heben.

“Ich geh sie suchen, wenn das Teil unten ist, denke ich. Ach da ist sie schon wieder.”, hörte sie Merlin gerade angestrengt sagen.

Aber statt darauf einzugehen, stellte sie sich bereit, um den Koffer mit aufzufangen, als er nicht mehr auf der Gepäckablage auflehnte, sondern kippte.

“Danke.”, sagte Merlin zu ihr.

Er öffnete den Koffer und kramte darin herum. Im ersten Augenblick dachte Myrie, die Kleidung wäre völlig chaotisch darin verteilt, aber dann bemerkte sie, dass sie einfach derzeit als Federung für ein paar Apparate genutzt wurde. Und Olja, der Hai, lag einmal quer über allen Sachen. Merlin unterbrach sich plötzlich beim Suchen, packte Olja, und hielt Myrie den Hai hin.

“Möchtest du? Aber vorsichtig!”, bot er an.

Myrie nahm Olja entgegen und schaute dem großen dunkelblauen Hai mit dem weißen Bauch ins Fischgesicht. Olja sah ungefährlich aus. Myrie verzog sich auf einen Sitz ganz am Rand, quetschte sich gegen die Wand, zog die Beine an und umschlang Olja. Sie schloss die Augen und legte ihr Gesicht an Oljas weiches Fell. Das fühlte sich gut an.

Sie bekam nicht mit, wie Merlin den Koffer wieder schloss und dieses Mal in der unteren Gepäckablage verstaute. Sie bekam auch nicht mit, wie er das einleitete, aber plötzlich erklang Musik in der Kapsel. Und es war die schönste Musik, die Myrie je gehört hatte. Sie hatte herrlich gleichmäßige und zueinander verschobene Rhythmen, einfache, dramatische Melodien, und eine wunderschöne Klangfülle. Und sie ermöglichte es Myrie, sich auf etwas ganz anderes zu fokussieren als auf Hermen oder darauf, was sie zueinander sagten. Und so verharrte sie, bis Omantra an ihrem Arm warm wurde und ihr verkündete, dass sie sich bereit machen solle, in einer halben Stunde auszusteigen. Nicht, dass Myrie viel Zeit gebraucht hätte, Sachen zusammenzusammeln, aber sie war dankbar, sich darauf einstellen zu können.