Kampf mit Olge

Es war dunkel, als Myrie erwachte. Ein klarer Sternenhimmel wölbte sich über sie, offensichtlich nicht der reale, sondern der einer Virtualität. Er hatte viel zu viele Farben. Dezente, nicht aufdringliche zwar, wie hier ein rötlicher Schimmer und dort ein schwach violetter Nebel, aber eben zu viele für den Sternenhimmel der Realität. Außerdem war es warm, und in der Realität wäre es bei so einer sternenklaren Nacht um diese Jahreszeit eher kalt. Myrie fühlte, dass sie immer noch in den weichen Kissen lag. Neben ihr saß Merlin im Schneidersitz. Fadja war nicht mehr da.

“Ahna.”, sagte Myrie traurig. “Ich habe sie nicht mehr getroffen. Ich glaube, jetzt ist es zu spät dafür.”

“Entschuldige. Ich wollte dich wecken, aber Fadja hat mich überredet, das zu lassen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.”, sagte Merlin.

“Wie spät ist es?”, wollte Myrie wissen.

“Kurz nach Mitternacht.”, antwortete Merlin.

“Hast du die ganze Zeit neben mir gesessen?”, fragte Myrie.

“Ja. Also, ich habe dich nicht die ganze Zeit angesehen. Ich habe ein Buch gelesen.”, sagte Merlin.

Er zeigte ihr ein dünnes Buch über das Schreiben von Partituren. Also eigentlich war es ein sehr umfangreiches Buch. Es war in dieser Virtualität nur sehr dünn dargestellt. Die Seiten waren jeweils dünn an den Stellen, an denen kein Lesezeichen lag, aber dort wo welche zwischen den Seiten steckten, waren sie angenehm greifbar.

“Ich mag das Buchformat.”, erklärte Merlin, als Myrie es untersuchte. “Ich finde, darin behält man noch am besten den Überblick.”

Myrie nickte und gab es ihm zurück.

“Was sind überhaupt Partituren?”, fragte sie.

“Es ist eine gängige Art und Weise Musik für viele Instrumente zu notieren, die gleichzeitig erklingen.”, fasste Merlin zusammen.

“Du lernst also, wie du noch schönere Musik machen kannst?”, fragte Myrie.

“Sagen wir, vielfältigere.” Dann seufzte er. “Ich würde gern mal auf einem Flügel spielen.”

Er legte sich flach auf den Rücken und betrachtete die Sterne. Einige Sternschnuppen düsten über den Himmel. Myrie mochte, dass man dabei einem Akt der Zerstörung zusah, einem Verglühen, das, wenn man daneben stünde, ohrenbetäubend laut wäre. Aber auf dem Boden hörte man rein gar nichts davon. Es war einfach rasch und still vorbei und sah hübsch aus.

“Ein Flügel ist demzufolge nicht ein Körperteil, von dem man üblicherweise eher mindestens zwei haben wollen würde, wenn man überhaupt einen haben wollen würde, sondern ebenfalls ein Instrument?”, fragte Myrie.

“Ein sehr traditionelles. Es wurde schon vor vielen hundert Jahren gespielt. Es sieht heute auch anders aus als die damaligen Varianten. Und es gibt längst eine Fülle von elektronischen Varianten die es nachempfinden, die ich auch schon gespielt habe, aber ich habe nie einen echten mechanischen Flügel gespielt. Das würde ich gern mal.”

Myrie richtete sich in eine sitzende Haltung auf und sah ihm in sein sehnsüchtiges Gesicht, sah ihm zu, wie sein Blick über den Sternenhimmel wanderte und sich die vielen kleinen Lichtpünktchen in seinen Augen wiederspiegelten. Sie fragte sich, ob das ein realistischer Effekt war, oder ob die Virtualität hier ein wenig dazudichtete. Nach einer Weile blickte Merlin Myrie wieder ins Gesicht.

“Bist du mir böse?”, fragte er ängstlich.

Myrie wusste, dass es um Ahna ging und schüttelte den Kopf. Sie wusste zwar nicht so genau, warum sie nicht böse war. Es konnte daran liegen, dass er Angst hatte und Myrie das nicht wollte. Oder es konnte daran liegen, dass Fadja vielleicht recht gehabt hatte. Dass sie eigentlich nicht zur Ruhe kam, keine Zeit für sich hatte, die aber nötig war. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sehr gut geschlafen hatte und gerade gern mit Merlin hier zu zweit war. Aber es war auch nicht so wichtig, was der Grund nun genau war. Merlin wirkte erleichtert und das war gut.

“Ist Fadja ins Bett gegangen?”, fragte Myrie.

“Ja, sie war müde. Sie hat sich dann irgendwann verabschiedet.”, sagte Merlin. “Ihr hattet euch ja ganz gut was zu sagen.” Er grinste und wirkte neugierig.

“Eigentlich nicht. Wir haben uns darüber unterhalten, dass du mich wohl magst.”, sagte Myrie.

“Tu ich auch.”, bestätigte Merlin und drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf auf die Hände und blickte zu ihr hinauf.

Sie legte sich auf die Seite, damit er den Kopf nicht so sehr strecken müsste um ihr ins Gesicht zu sehen.

“Ich dich auch. Übrigens.”, sagte sie.

Er lächelte.

Ihr wurde plötzlich sehr unangenehm warm und sie schwitzte wieder, wie wenn sie im Unterricht an der falschen Stelle etwas sagte, oder wenn sie zu viel Zeit brauchte, um festzustellen, dass sie dran war. Es war ihr also unangenehm ihm zu sagen, dass sie ihn mochte. Sie presste ihr Gesicht in ein Kissen und krallte die Hände in das weiche Material.

“Hmm.”, machte Merlin. “Ist etwas schlecht daran?”

Myrie tauchte kurz aus dem Kissen, schüttelte den Kopf und tauchte wieder ab.

“Vielleicht ein anderes Thema?”, fragte er und sie nickte.

“Hast du einen Vorschlag? Oder soll ich nach einem suchen?”, fragte Merlin. Myrie überlegte kurz.

“Erzählst du mir ein bisschen über deine Familie?”, bat sie und tauchte endgültig wieder auf.

»Nun, ich lebte bei meiner Mutter und meinem Vater in einem Haus am Rande von Brewen. Das ist so eine eher kleinere Stadt. Das Haus ist weiß und steht in dem Stadtteil mit dem albernen Namen Feldbrand. Das hat historische Hintergründe, warum der so heißt.

Sie arbeiten beide, und zwar in der Forschung, also eine mögliche Option, auf die wir auch zusteuern. Mein Vater unterrichtet auch, aber nicht hier. Er arbeitet lieber mit viel älteren zusammen, die schon richtig was auf dem Kasten haben. Mit den schon eher fortgeschrittenen Studierenden. Er untersucht Materialien auf besondere Formen von Magnetismus.«, er machte eine kurze Pause und schaute, ob Myrie mitkam, oder Zwischenfragen hatte.

Sie nickte.

“Meine Mutter entwickelt an Raumenergiegewinnungstechniken. Unter anderem sucht sie nach weiteren Methoden, Sonnenwindenergie über die Raumfahrtaufzüge sicher am Magnetfeld vorbei auf unseren Planeten zu bringen. Sie war schon sehr früh dabei, hat da schon als kleines Mädchen mit meiner Großmutter angefangen, die sie mit ins Labor genommen hatte. Dadurch hat sie den Namen Urgestein bekommen, den sie dann an mich weitergegeben hat.”

Myrie nickte wieder und sie schwiegen einen Moment, bis Merlin fortfuhr.

“Ich habe einen großen Bruder. Auch in der Forschung. Er ist 5 Jahre älter als ich und hat ziemlich gradlinig den Weg meiner Mutter gewählt. Er ist auch schon früh mit ihr mit ins Labor gegangen. Nun forscht er allerdings im Gebiet Raumfahrt.”

“Spannend.”, sagte Myrie.

“Von außen betrachtet, vielleicht. Aber wenn man ihm zuhört, ist es eigentlich nicht so aufregend. Es geht dabei um Zeitsynchronisation von bestimmten Andock- und Abdockvorgängen, aber seit gefühlt zwei Jahren immer um die gleichen.”, widersprach Merlin.

“Hmm.”, machte Myrie.

Nach einer weiteren Pause beendete Merlin die Aufzählung. “Und zum Schluss habe ich noch eine kleine Schwester. Sie ist drei Jahre jünger als ich, und die einzige in meiner Familie, mit der ich ganz gut zurecht komme. Allerdings hat sie, ähnlich wie ich, beschlossen, die Familie zu verlassen und geht nun ebenfalls in ein Internat. Übersee in Arelis allerdings. Sie hat es weiter weg gezogen, als mich.” Merlin seufzte. “Sie hat so viel Unterricht, dass wir uns selbst in Virtualitäten nie treffen. Wir telefonieren nur ab und an. Das ist alles. Und die Gespräche werden auch immer kürzer.”

“Arelis.”, wunderte sich Myrie. “Das ist weit.”

“Das ist es.”, seufzte Merlin ein zweites Mal.

“Aber warum? Warum wolltet ihr weg von der Familie?”, fragte Myrie.

Sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, nicht mehr jedes Wochenende zu ihrer Familie zurück zu wollen. Aber natürlich wusste sie, dass es bei anderen anders war. Und dass es bei ihr anders werden könnte. Aber Merlins Erzählung schien ihr nicht wie ein Einblick in ihre Zukunft zu sein.

“Im Wesentlichen war es kalt und langweilig. Kalt in dem Sinne, dass es nicht dazu kam, dass wir viel über Persönliches geredet hätten, oder uns mal innig in den Arm genommen hätten. Das konnte ich mit meiner Schwester, solange sie da war. Aber als sie dann vor einem halben Jahr ausgewandert ist, habe ich überlegt, es ihr nachzutun. Und das war gut, so habe ich zum Beispiel dich kennen gelernt.” Merlin grinste kurz, dann erlosch das Lächeln so rasch, wie es gekommen war. “Und damit sind wir wieder bei dem Thema, was wir vermeiden wollen, nicht?”

“Nein. Sorum kann ich damit umgehen. Ich finde es verwirrend und mir fällt es schwer, daran zu glauben, aber es fühlt sich trotzdem gut an. Umgekehrt ist das Problem.”, entgegnete Myrie.

“Gute Selbstanalyse.”, sagte Merlin. “Hast du weitere Fragen?”

“Ja. Dein Haus ist weiß, sagst du, aber wie sieht es genauer aus?”, fragte Myrie.

Sie wollte es sich vorstellen können, sie wollte Merlins Alltag kennen lernen, wissen, wie er sich dort bewegte, seine Routinen kennen lernen. Das, hatte sie den Eindruck, würde vielleicht diesen seltsamen Umstand verbessern, dass sie Merlin mochte, aber ihn nicht so kannte, wie zum Beispiel Ahna.

Merlin legte sich wieder auf den Rücken und sah eine Weile in den Himmel, bevor er sprach.

“Es hat ein Erdgeschoss, eine mittlere Etage, einen Dachboden und einen Keller. Ich habe auf dem Dachboden gewohnt. Ich mochte es, weil es Fenster in der Dachschräge gab, auf die der Regen trommelte. Es regnet viel in Brewen.”, sagte er und schloss die Augen.

Myrie legte sich auch auf den Rücken und tat es ihm nach, um es sich genau vorzustellen. Aber es gab dazu viel zu wenige Details. Myrie löcherte Merlin nach den Raummaßen, nach der Einrichtung, nach den Farben und der Haptik, nach all dem, was sie wissen wollte, bis sie sich das Haus vorstellen konnte, bis sie im Geiste durch sein Zimmer gehen konnte, und bis sie erneut sehr müde wurde.

“Lass uns morgen beim Spaziergang fortfahren und nun schlafen gehen.”, schlug Merlin vor, und das taten sie dann auch.


Sie kam schwer aus dem Bett am nächsten Morgen, aber nicht so schwer, wie Merlin. Als sie fertig angezogen war, was nicht lange dauerte, lag Merlin immer noch im Bett und schlief. Myrie war unsicher und ratlos. Sollte sie ihn wecken? Oder war das invasiv? Brauchte er den Schlaf? Aber er hatte nichts davon gesagt, dass er heute nicht wandern wollen würde. Sie kniete sich neben sein Bett und fragte sich, ob sie sich trauen würde, ihn leise anzusprechen. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen.

“Merlin! Myrie will dich ansabbern.”, rief Hermen.

Merlin drehte sich verschlafen um und gab unwillige Laute von sich. Er sah Myrie aus sehr müden Augen an. “Kommst du auch ohne mich zurecht beim Spazieren heute? Ich bin nicht so richtig wach, und bleibe lieber noch etwas im Bett.”, murmelte er.

Myrie nickte und machte sich auf, sich vor der Schule mit der Wandergruppe zu treffen. Sie hatte Verständnis für Merlin, aber es störte sie doch. Natürlich würde sie allein zurecht kommen. Aber es durchbrach ihre Gewohnheiten. Es gehörte nicht so.

Es war nass und kalt heute morgen. Der Boden war aufgeweicht und ein beständiger, durchschnittlich starker Regen rann Myrie die Arme herab. Die ersten Momente von solch einem Wetter mochte sie stets gar nicht, aber dann, wenn ihre Körpertemperatur sich angeglichen hatte, und sie sich auf das Gefühl des Wassers auf der Haut fokussieren konnte, fand sie es angenehm.

Sie stand zuerst am verabredeten Treffpunkt und fragte sich einen Augenblick nervös, ob es bei dem Regen ausfiele oder ob Wandern örtlich oder zeitlich verlegt worden wäre. Dann fragte sie sich, ob wirklich Mandostag war. Omantra beruhigte sie in jedem Punkt. Schließlich tauchte Amon Krknschnock auf und kurz darauf der Zwelb.

“Frodur hat sich wegen des Wetters abgemeldet. Myrie, wo hast du Merlin gelassen?”, fragte Amon Krknschnock mit seiner fröhlichen stets etwas singenden Stimme.

“Im Bett.”, antwortete Myrie.

“Braucht er nur länger, oder bleibt er heute fern?”, fragte er.

“Er bleibt fern.”, antwortete Myrie.

“Soso.”, sagte Amon Krknschnock und nickte bedächtig. “Dann werden wir außer mir heute nur vier sein.”

“Sollte Myrie sich vielleicht noch mehr anziehen, während wir auf die anderen warten?”, fragte der Zwelb.

Myrie war die Kleidung der beiden anderen bislang nicht aufgefallen. Nun achtete sie natürlich darauf. Amon Krknschnock trug eine gelbe, wasserdichten Jacke, die etwas oberhalb seiner Kniekehlen endete, und darunter eine schwere, geriffelte Hose aus festem, ebenfalls wasserdichtem Stoff. Der Zwelb trug einen langen, dunkelgrauen, gefütterten Mantel mit filzartiger Oberfläche, die aber so fest war, dass ebenfalls kein Wasser eindrang. Der Lobbud, der gerade auftauchte, trug über einem Wollpullover und einer weichen Hose einen langen Mantel aus durchsichtigem, festem Material. Myrie trug wie immer nur ihre zweckmäßige Hose und Weste, und da ihr noch nicht zu kalt war, trug sie letztere auch noch ärmellos. Aber sie hatte schon immer Kälte besser abgekonnt, als die meisten anderen.

“Sie macht mir keinen fröstelnden Eindruck.”, stellte Amon Krknschnock fest und wandte sich ihr zu. “Ich denke, das darfst du selbst entscheiden. Wir würden warten.”

“Ich habe Ärmel dabei, wenn es mir zu kalt werden sollte.”, entgegnete Myrie.

Endlich tauchte Olge auf und sie spazierten los.

Sie gingen dieses Mal einen Weg Richtung Norden. In dieser Richtung verlief die Anhöhe, auf der sich die Schule befand, ein gutes Stück eben weiter. Auch Wald gab es hier nicht, und auch keine Zivilisation. Ihr Pfad schlängelte sich an einem Bach entlang. Wildes hohes Gras säumte zeitweilig den Weg, aber auch etwas felsigere, gewelltere Ebenen, wo kürzeres Gras zwischen den Steinen hervorwuchs. Der Zwelb und der Lobbud vertieften sich in ein Gespräch, Amon Krknschnock summte vor sich hin und Myrie überlegte, ob es die Gelegenheit war, Olge anzusprechen, die der Gruppe vorausgeeilt war. Sie wusste immer noch nicht, ob sie ihre Nachricht im Zug damals überhaupt angenommen hatte. Olge hatte nicht einmal eine Bestätigung geschickt. Vielleicht war es keine gute Idee, Kontakt mit ihr anfangen zu wollen.

Sie senkte den Blick auf ihre Füße, denen sie zuschaute, wie sie sich auf den Boden setzten, und bekam Lust, sie in den Bach zu stecken. Sie folgte dem Impuls, sah der Strömung des Wassers um ihre Füße zu, und fühlte sich frei, wie noch nie bei einer Schulveranstaltung. Tropfen fielen in den Bach und rauten die strömende Oberfläche auf. Sie lächelte.

Als sie das nächste Mal aufsah, stellte sie fest, dass die Gruppe etwas weiter zurückliegend stehen geblieben war. Und Olge fehlte. Sie eilte zur Gruppe zurück, und folgte dem Blick der anderen. Der Pfad lag an dieser Stelle leicht erhöht, sodass der Bach immer noch rechts davon verlief, aber links ein kleiner Hang herabfiel, der erste Meter ziemlich steil und felsig, aber ab dort ging der Hang in eine flache, bemooste Ebene über. Olge war offenbar den Hang hinuntergesprungen, hockte einige Meter weiter weg und streichelte eine Wildkatze.

“Warum rufen Sie nicht nach ihr?”, fragte der Zwelb.

“Dabei würde ich die Katze verjagen, und das würde sie verärgern. Haben wir es denn eilig?”, erläuterte Amon Krknschnock.

Der Zwelb schüttelte rasch den Kopf. “Nein, nein, schon gut.”

Einem Impuls folgend, den sie nicht so richtig rechtfertigen konnte, ließ sich Myrie herab und schlich ebenfalls zu der Katze. Sie war gestreift und hatte ein langes, aber glattes Fell. Sie ging sehr vorsichtig auf Katze und Olge zu, aber als sie bis auf einen knappen Meter herangenaht war, erklang ein Niesen vom Weg. Die Katze erschreckte sich und rannte davon.

“Oh nein.”, sagte Amon Krknschnock nüchtern, dieses mal ohne Sprachmelodie und zeitgleich bewegte sich Olge in einer fließenden sich drehenden Bewegung aus der Hocke, griff Myrie an einem Arm, wirbelte sie einmal über ihre Hüftachse über den selbigen und warf sie auf den Boden. Myrie kam zuerst mit dem oberen Rücken auf, ein Aufprall zwischen den Schulterblättern, wie sie ihn lange nicht erlebt hatte und ihr blieb kurz die Luft weg. Es versetzte sie nicht in Panik. Es war zwar lange her, aber sie war am Anfang ihrer Kletterübungen mehrfach auf diese Stelle gefallen und kannte es. Seither hatte sie intensiv Fallübungen trainiert und es war ihr nicht wieder passiert. Aber Olge hatte sie auf eine Weise geworfen, auf die sie keine Möglichkeit gehabt hatte, besser zu fallen. Wie hatte sie das gemacht?

Myrie stand auf und fragte sich, wie sie es erneut provozieren konnte, um es noch einmal genau mitzubekommen. Vorsichtig trat sie einen Schritt auf Olge zu und diese packte wieder Myries Arm und vollführte die gleiche Bewegung. Es ging enorm schnell, obwohl sich Olge kaum bewegte. Myrie stand erneut auf und trat wieder auf Olge zu. Dieses mal allerdings versuchte sie den Arm in eine für Olges Bewegung unpassende Position zu bewegen. Olge reagierte schnell und flexibel. Sie ließ Myries Bewegung gewähren, aber drehte den Arm am Ende einfach weiter, bis er in einer eher schmerzhaften Stellung auf Myries Rücken verklemmt war. Olge verharrte kurz, dann gab sie Myrie mit einer solchen Wucht einen Impuls nach vorn, dass sie auf der Brust auf dem Boden landete, wieder ohne Möglichkeit, sich sinnvoll abzurollen. Sie drehte sich über den Rücken in eine sitzende Haltung, aus der sie aufstand und sah, das Olge schmunzelte.

Myrie grübelte über einen Weg nach, wie sie Olge angreifen könnte, ohne dass eine der beiden möglichen Angriffe bestand, die Olge gerade gegen Myrie angewendet hatte und tat einen Versuch. Es war das erste Mal, dass sie gezielt und gewollt jemanden angriff. Aber sie beschloss, wenn Olge es bei ihr durfte, dann auch umgekehrt.

Olge hob die Brauen, blieb unbeeindruckt, wich aus, aber in dieser einfachen Bewegung griff sie wieder Myries Arm, gab ihr einen Drehimpuls und warf sie mit einem passenden Stoß vor die Brust auf den Rücken. Dann lächelte sie wieder.

Sie spielten sechs weitere Angriffsszenarien durch, bevor Myrie vorübergehend liegen blieb, weil ihr die Ideen ausblieben, und weil sie etwas aus der Puste war. Olge schien zu merken, das sie fertig war, und hielt Myrie die Hand hin, die Myrie nahm, um sich hochzuziehen.

“Nette Vorstellung.”, meinte der Zwelb.

Sie gingen zurück auf den Wanderpfad, nun den Heimweg einschlagend, nur, dass dieses Mal Myrie neben Olge ging.

“Trainierst du mich?”, fragte sie, und zwar schneller als sie denken konnte. Sie hatte eine so große Bewunderung für diese Kampftechniken, dass sie schneller war, nach Training bei Olge zu fragen, als ihre Angst davor, sie zu fragen, damit war, einzusetzen.

Olge schien zu überlegen. “Gut.”, sagte sie. “Jeden Morgen, eine Stunde vor Anfang des Unterrichts, außer mandostags.”

Das war viel. Myrie hatte sich gerade heute Nacht überlegt, dass sie Daina fragen wollte, ob es für sie auch in Ordnung wäre, wenn Myrie nur einmal in der Woche Schatzvulkan spielen würde. Auf der anderen Seite raubte Schatzvulkan einen ganzen Nachmittag, und nicht eine Stunde. Und vor allem kam hinzu, dass Schatzvulkan etwas sehr Anstrengendes an sich hatte. Sie hatte permanent Angst vor Gafur. Gafur war am leichtesten genervt von ihren Eigenarten und wirkte am ehesten wie einer dieser Leute, die sie stets abgelehnt hatten.

Bei Olge während des Kampfes hatte sie dieses Gefühl nicht gehabt. Sie hatte sonst schon Angst vor Olge gehabt, aber gerade war da gar keine gewesen. Sie hatte sich hochkonzentriert und voll davon gefühlt, wie sie sich bewegt hatte. Und es hatte sie körperlich verausgabt, und dieses Gefühl vermisste sie, seit sie hier zur Schule ging.

Allerdings jeden Morgen außer Mandostag, hieß das auch am Wochenende? Das musste sie sicher stellen.

“Am Wochenende bin ich immer zuhause.”, sagte sie schließlich.

“Ich auch, du Nase. Hast du doch mitbekommen.”, sagte Olge.

Die Beleidigung tat nicht so weh, wie bei anderen. Sie wirkte spielerischer, fand Myrie.

“Nun ja, man könnte sich theoretisch dennoch treffen.”, gab Myrie zu bedenken.

“Jeden Morgen außer Mandostag und an Wochenenden. Wir treffen uns da, wo wir uns das erste Mal begegnet sind. Wenn du Extrasitzungen an Wochenenden haben möchtest, können wir die gern verabreden.”, seufzte Olge leicht gereizt. “Aber die morgendlichen Einheiten vorm Unterricht sind für die ersten drei Monate fix. Wenn du mehr als einen Termin ausfallen lässt, dann breche ich das Ganze ab.”

“Klingt auf der einen Seite fair. Auf der anderen kann ich gerade nicht so gut absehen, ob mir das zu viel würde.”, grübelte Myrie.

“Dann kannst du abbrechen. Ich würde auch einräumen, dass du, wenn du einmal abgebrochen hast, ein zweites Mal einen Neustart versuchen kannst, wenn du glaubst, dass es ein besserer Zeitpunkt zum Anfangen ist. Einmal. Wenn du zum zweiten Mal abbrichst, fange ich nicht wieder an.” Olge klang streng. Myrie mochte das aus unerfindlichen Gründen.

“Einverstanden.”, sagte Myrie schließlich.

Olge gab ihr die Hand drauf. Dann fiel Myrie ein Detail ein, dass Olge gesagt hatte.

“Was passiert nach den ersten drei Monaten.”, fragte sie.

“Dann schaue ich, wie weit du bist, und wir machen einen neuen Vertrag.”, antwortete Olge.

Sie gingen ein Wegstück still gemeinsam nebeneinander her und es fühlte sich etwas unbehaglich an. Es gab da eine Anspannung zwischen ihnen, wie als müsste etwas gesagt werden oder etwas geschehen. Der Morgen graute, aber es wurde nicht sehr hell. Stattdessen blieb der Himmel wolkenverhangen und der Regen verhinderte sogar das Ausmachen einzelner Wolken.

Olge seufzte erneut und entfernte sich wieder von der Gruppe. Myrie ging ihr kein zweites Mal nach.


Den ganzen Vormittag lang war sie sehr nervös. Zum einen, weil sie sich nicht so recht vorstellen konnte, wie das Training morgen früh anfangen würde. Würde Olge etwas erzählen? Oder wäre es ähnlich ihrem Zusammenstoß heute. Zum anderen hatte sie sich fest vorgenommen, Daina zu sagen, dass sie nur noch einmal in der Woche spielen wollte, und fühlte sich trotz ihrer eigenen Überlegungen, die sie schon angestellt hatte, schlecht dabei, weil sie gerade etwas anderes zugesagt hatte.

In der Pause suchte sie sich einen freien Klassenraum, um Ahna anzurufen, weil sie dabei nicht die Nebengeräusche des Regens haben wollte. Sie ging durch das Treppenhaus, dass sie durch Olge gefunden hatte, ganz nach oben, weil sie hoffte, dass dort weniger Betrieb wäre.

Sie trat tatsächlich in einen fast ausgestorbenen Flur mit hohen Fensterfronten. Er war in angenehm natürliches Licht getaucht, also im Moment nicht sehr hell. Es gab nur wenige Türen zu Klassenräumen hier und sie öffnete sehr vorsichtig eine, die nur angelehnt war. Sie hatte Glück und der Raum war leer. Er war außerdem ziemlich groß, nicht ganz so groß, wie der Raum, in dem Lyria Rune unterrichtete, aber deutlich größer, als ihr Standardklassenraum. Die Wände waren mit Regalen vollgestellt, in denen flache elektronische Geräte lagen und zu Myries Überraschung auch gebundene Bücher aus Papier. Ihr Papa besaß 8, aber sie hatten ein anderes Format, als diese hier. Hier waren sie dünn, aber etwa doppelt so hoch und breit, wie die ihres Papas.

In der Mitte stand ein schwarzes, glänzendes Möbelstück auf drei Beinen, vielleicht eine Art Tisch. Es reichte Myrie etwa bis zur Brust und die Oberseite bestand aus einer riesigen Klappe, unter der sicher eine Armlänge Raum in einem Korpus war, bevor die Beine das Möbelstück mit dem Boden verbanden. Myrie hätte es sich gern sofort ausführlich angeschaut, aber die Pause war nicht sehr lang und sie wollte noch mit Ahna telefonieren.

“Omantra, ich würde gern Ahna anrufen.”, sagte sie also in die Stille.

Es war etwas befremdlich, hier in dem leeren Raum zu sprechen. Etwas klang mit ihrer Stimme mit.

“Sie meldet sich in ein paar Augenblicken, sagt sie.”, gab Omantra weiter.

Myrie hatte bereits langsam begonnen, sich um den Kasten auf Beinen herumzubewegen. Auf der anderen Seite stand ein höhenverstellbarer Hocker davor und eine längliche weitere Klappe verdeckte einen niedrigeren Teil des Kastens. Myrie öffnete diese kleinere vorsichtig und erblickte schwarze und weiße, lange Holztasten. Sie sah sich um, ob auch wirklich niemand da war, und drückte sehr vorsichtig eine hinunter. Sie fühlte ein mechanisches, weiches Einrasten von irgendwas, hörte es auch ganz leicht, aber einen Ton, den sie erwartet hätte, denn ein Musikinstrument war es wohl, hörte sie nicht. Vielleicht war sie zu vorsichtig gewesen. Sie drückte die Taste mehrmals mit je etwas mehr Schwung, sich langsam an den Moment herantastend, an dem ein leiser Ton erklang. Und er klang schön.

“Omantra, zeig mir einen Flügel, das Musikinstrument Flügel.”, sagte sie und setzte ihre VR-Brille auf.

Sie erkannte in dem, was Omantra ihr zeigte, wieder, was sie vor sich hatte, und wenn es nicht feine Unterschiede gab, die sie nicht kannte, wusste sie also, wo sich in dieser Schule ein Flügel befand. Das würde sie wohl früher oder später Merlin zeigen.

“Es ist total gut, dass du jetzt anrufst und nicht später. Glaube ich.”, hörte sie urplötzlich Ahna in ihre Gedanken hinein. Sie hörte sich aufgeregt an.

“Warum?”, fragte Myrie neugierig.

“Ich wurde eingeladen von einer Verlegerin eines Kochbuchverlags.”, sprudelte es aus ihr hervor. “Für heute Nachmittag. Aber ich bin nicht sicher, ob ich sollte. Oder ob ich mich traue. Hattest du vor, später wieder anzurufen?”

“Nein, ich wollte heute Abend wieder Schatzvulkan spielen und ein kompliziertes Gespräch mit Daina führen, darüber, dass ich an den Wochenenden nicht spielen möchte.”, entgegnete Myrie.

“Juche!”, juchzte Ahna.

“Ich werde dadurch nicht unbedingt mehr Zeit im Haus mit dir verbringen, sondern wieder alleine im Gebirge sein.”, gab Myrie zu verstehen.

“Ich weiß. Aber Morntag abends bist du dann wahrscheinlich eher entspannt zum Abendessen da und nicht bis spät in die Nacht am Zocken und kippst dann ins Bett.”, sagte Ahna.

Damit hatte sie wahrscheinlich für zumindest manche Wochenenden recht. Myrie mochte zwar auch gern mal eine Nacht in den Bergen verbringen, aber es wurde allmählich kälter.

“Zurück zu dir. Ich versteh das nicht so richtig. Du möchtest doch immer, dass andere mit dir über deine Sachen reden. Warum bist du dir unsicher?”, fragte Myrie.

“Ich habe Angst, dass sie sich zu viel versprechen von mir. Dass sie mich wieder wegschicken.”, gab Ahna zu. “Und ich wollte sichergehen, dass du dich nicht gerade dann mit mir treffen wolltest.”

“Du hast gesagt, wir sollten uns zweimal in der Woche treffen, während ich zur Schule gehe. Ich finde es an sich ganz gut, aber von mir aus darf auch was dazwischen kommen.”, betonte Myrie.

Sie schwiegen einen Augenblick. Aber Ahnas fiebrige Aufregung nahm Myrie auch durch ihren Atem war.

“Du bist aufgeregt und willst da eigentlich hin.”, sagte Myrie sachlich.

“Stimmt schon.”, gab Ahna zu.

“Dann geh dahin.”, empfahl Myrie.

“Ja.”, sagte Ahna zögerlich. Es wirkte nicht ganz überzeugt.

“Wenn es grässlich war, dann reden wir hinterher so lange da drüber, bis du deine Gefühle darüber vergessen hast.”, sagte Myrie.

Es war paradox, aber so funktionierte Ahna erfahrungsgemäß.

“Oke.”, sagte Ahna schließlich.

Entgegen dem was Myrie sagte, fühlte sie sich allerdings ebenfalls unsicher. Wenn Ahna schlechte Erfahrungen machte, würde sie das sehr schmerzen. Ahna hatte immer starke Gefühle gehabt. Sie hielten zwar nicht lange an, aber in der Situation selbst war es sehr schlimm für sie.

“Du wurdest dahin eingeladen! Die Verlegerin hat bereits einen Eindruck von deinen Werken gewonnen und lädt dich deshalb ein.”, erinnerte Myrie.

“Du hast recht. Ich habe eigentlich nichts zu befürchten.”, sagte Ahna etwas zuversichtlicher.

“Nicht nichts. Aber ich denke die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es nicht schlimm wird.”, sagte Myrie.

Omantra wurde an ihrem Handgelenk warm und kündigte das nahende Ende der Pause an.

“Ich muss zurück in den Unterricht gehen.”, sagte Myrie.

Sie hatte noch gar nicht ihr mitgebrachtes Essen gegessen. Das würde sie wohl essen, wenn sie rechtzeitig im Raum war, bevor die Lehrkraft kam.

“Was hast du denn jetzt?”, fragte Ahna.

“Literatur.”, sagte Myrie. “Ein Riese mit einer angenehmen Stimme liest uns thematisch zusammenhängende Geschichten vor und wir reden dann darüber. Wir hören gerade die Ringkönig-Chroniken.”

Ihr fiel ein, dass Lyria Rune keine Einwände dagegen hatte, wenn man leise im Unterricht aß, und sie war erleichtert. Sie mochte wirklich nicht so gern mit leerem Magen Unterricht haben und es war ihr in letzter Zeit viel zu oft trotzdem passiert.

“Klingt nett.”, sagte Ahna. “Mach es gut! Ich freue mich auf morgen Abend.”

“Ich bin sehr gespannt.”, sagte Myrie und beendete das Gespräch mit einer Geste.


Nach Literatur fing sie Daina ab, um vor dem Antritt der nächsten Etappe Schatzvulkan schon über ihren Rückzug zu sprechen, aber sie fand keinen Anfang und ging schweigend und hibbelig neben Daina her in eine der Spielhallen. Wie immer betraten sie auch dieses Mal zunächst Dainas virtuelles Zimmer ohne Tür. Die anderen waren noch nicht da und eigentlich war dies die Gelegenheit. Myrie hätte sie wahrscheinlich verstreichen lassen, aber Daina bemerkte ihre Nervosität.

“Was ist los? Du hast doch nun schon einige Male gespielt. Was macht dich so aufgeregt?”, fragte sie.

“Ich möchte nur noch einmal in der Woche spielen.”, kam Myrie ohne Umschweife auf den Punkt. Sie wusste einfach nicht, wie sie es sonst machen sollte.

“Hatte ich auch schon überlegt. Wir hatten, bevor du dazugekommen bist, auch nur einmal in der Woche gespielt. Gafur hatte lieber öfter gewollt und zu viert hat uns das dann so viel Spaß gemacht, dass wir ihm nachgegeben haben.”, sagte Daina.

Myrie atmete vor Erleichterung tief durch.

Daina hob die Brauen. “Du hattest Angst, mir das zu sagen?”, fragte sie.

Myrie nickte.

“Du solltest keine Angst haben, mir etwas zu sagen.”, sagte Daina. “Wenn du ein Problem hast, sag es. Wir finden schon eine Lösung.”

“Ich…” Myrie zögerte. “Ich bin viel abgelehnt worden und fand es so schön, mit euch zusammen sein zu dürfen. Ich wollte es nicht kaputt machen.”

“Zu dürfen.”, wiederholte Daina nachdenklich, nicht in einer positiven oder neutralen Weise, wie Myrie feststellen musste. Sie schwiegen einen Moment, bevor Daina tief durchatmete und Myrie ins Gesicht sah.

“Ich habe in meinem Leben bereits einige Spielgruppen geleitet. Ich mache das, weil es mir Spaß macht, Leute zu organisieren, eine Anführrolle zu haben. Ich mache das auch, weil ich mir dann die Leute aussuchen kann. Der Rest muss zwar noch einverstanden sein, aber ich suche sie eben aus. Damit eine Spielgruppe aber gut zusammen funktioniert, habe ich gelernt, muss man auch dafür sorgen, dass die Mitspielenden sich wohl fühlen, sonst rennen sie einem weg. Das ist ein gegenseitiges Ding, Myrie.”, erklärte sie und fügte sehr energisch hinzu: “Und noch einmal Myrie: Ich habe dich ausgesucht!”

Myrie nickte. Ihr war nun beinahe nach weinen zu Mute und gleichzeitig war sie froh, dass Daina es so betonte. Das gab ihr Sicherheit. Sie sagte nichts bis die anderen kamen. Daina zog sich an ihre Bildschirme zurück und programmierte und Myrie sah ihr gebannt zu. Mürrisch besah sie sich diese gedichtartigen bunten Zeilen, die Code hießen, ohne etwas zu verändern. Erst hier, später dort, immer wieder den Blick auf den anderen Bildschirm wendend, auf dem eine von diesen riesigen Textmassen war, die ab und an vorbeirauschten, wenn Daina etwas verändert hatte. Aber auch diese Textmasse veränderte sich nicht.

Dieses Mal war Theodil zuerst da.

“Wir spielen nur noch einmal in der Woche ab heute.”, sagte Daina in beinahe bissigem Ton ohne aufzusehen.

“Klingt gut.”, sagte Theodil. “Wird auch Zeit, dass ich mit Jahrzehnt der Fraktalfrösche durchkomme.”

“Ich freue mich auch, dann mehr Zeit zum Programmieren zu haben.”, murmelte sie nachdenklich.

Dann atmete sie plötzlich beinahe erschrocken ein, wechselte zu einem anderen Teil des Codes, änderte zwei Zeilen und schlug die Enter-Taste mit Wucht, die sie vorher noch mit einer unscheinbaren Geste vergrößert hatte. Dann grinste sie.

“Tada!”, sagte sie und deutete auf die Wand, in der sie manchmal in andere Welten schauen konnten. Diese öffnete sich und das Würfellabyrinth mit den Ebenen schwebte vor ihnen, sich langsam drehend.

“Was hast du verändert?”, fragte Theodil.

“Ich habe die Schwerkraftanomalie beseitigt.”, sagte Daina begeistert. “Die verschiedenen Ebenen können ja gedreht werden. Aber irgendwie ist unter bestimmten Bedingungen durch die Drehungen innerhalb des Würfels wieder Schwerkraft aktiv geworden und ich wusste die ganze Zeit nicht wieso. War ein einfacher Tippfehler in diesem Wust. Ich muss den Code unbedingt mal aufräumen.”

Gafur tauchte auf, und sie brachen zur nächsten Etappe auf. Noch während sie den Weg zum Eingang des aktuellen Vulkans betraten, teilte Daina auch Gafur mit, dass sie die Treffen auf einmal in der Woche reduzieren würden. Gafur nickte mürrisch. Er hatte damit gerechnet, war aber nicht so glücklich darüber.

“Und wird es der Mandostag, oder der Morntag?”, fragte er.

“Hat jemand Vorzüge?”, fragte Daina, während sie durch den düsteren Eingang schritten.

“Mir wäre Mandostag lieber.”, sagte Myrie rasch.

Sie dämpfte die Stimme etwas, wie sie es immer in den Vulkanen taten. Daina sah die anderen zwei an, einen nach dem anderen.

“Einwände?”, fragte sie.

Sie wirkte kurz angebunden, aber keineswegs mehr harsch oder schlecht gelaunt. Myrie vermutete, dass es vorwiegend am Fehler in ihrem Würfel lag, den sie unbedingt hatte vor dem Abenteuer finden wollen. Aber natürlich befürchtete sie, dass sie da falsch lag und es doch daran lag, dass sie über ihre unschöne Vergangenheit gesprochen hatte.

Die anderen zwei schüttelten den Kopf.

“Mandostag.”, sagte Daina. “Finde ich gut.”

Aus einer Ecke sprang ein Feuerkobold in ihren Weg und Myrie machte eine reflexartige, unkontrollierte Bewegung mit der Axt in ihrer rechten Hand. Sie ließ sie wieder los, aber immerhin steckte sie im Schulterbereich des Kobolds, der umfiel und sich nicht mehr bewegte.

“Uh!”, bemerkte Daina. “Du wirst besser!”

Myrie zweifelte daran, dass es etwas anderes war, als reiner Zufall, sagte aber nichts, sondern bückte sich nur nach der Axt.

Myrie machte sich mit einer Geste in der einhändigen Gebärdensprache Musik an. Es war dieses Mal keine, die Merlin ihr vorgeschlagen hatte, aber welche, die sie gefunden hatte, als sie nach ähnlicher, aber zurückhaltenderer Musik gesucht hatte, und sie fand, dass sie sich zum Spielen wesentlich besser eignete, als die zum Spiel gehörige Musik. Sie lenkte nicht ab, sondern steigerte in gewisser Hinsicht sogar ihre Konzentration. Sie überlegte, dass sie es auch im Unterricht mit Hintergrundmusik für sich probieren sollte.


Es stellte sich heraus, dass diese Etappe bislang ihre liebste war. Sie hätte sie am liebsten noch einmal gespielt. Dieses Mal hatte der Vulkan keine klare einfache Gangstruktur, sondern war durchlöchert wie ein Käse. Eigentlich noch viel schlimmer. Er hatte etwa gleich viel Wand, wie Hohlraum, und Lavarinnsale versperrten an manchen Stellen den Weg. An anderen floss Wasser, dass sie schwimmend überwinden oder durch große Umwege umrunden konnten. Und es gab Löcher in der Decke und im Boden, Absätze zu Höhlenabschnitten, die in der Wand weit über ihnen begannen und Myrie war ständig dabei, zu klettern und Seile zu verspannen. Und es war ein ganz anderes Klettern als im Gebirge.

Gut war auch, dass sie den Ungeheuern, die auftauchten, durch Klettern entwischen konnte. Sie konnte sie sogar an Abgründe locken und sie herunterschupsen. Sie starben dadurch nicht, aber wurden angriffsunfähig. Nur die fernkämpfenden Baumgeister waren dann noch gefährlich. Aber es gab genügend Raum, um in Deckung zu gehen.

Sie grinste zufrieden, als sie die Etappe abschlossen, verabschiedete sich von den anderen und ging duschen, bevor sie in ihren Schlafraum ging. Die Etappe hatte nicht so lang gebraucht, wie die vorherigen, und die anderen schliefen noch nicht. Es war das erste Mal, seit sie mandostags Schatzvulkan spielte, dass das der Fall war. Sarina lag sortiert auf ihrem Bett, wie üblich, Merlin machte Musik und Hermen spielte ein Geschicklichkeitsspiel. Er hob die Augenbrauen, als sie ankam und sah sie herablassend an. Nichts Ungewöhnliches.

Merlin machte kurz Platz für sie, sodass sie sich aufs Bett schwingen konnte. Zum Schlafen wollte sie ihre Gebärdensprache weitererlernen. Zwei Wochen Übung zeigten ihr, dass es tatsächlich etwas war, das ihr Problem löste und das sie nicht nur aus zweckmäßigen Gründen sehr cool fand. Sie wurde stets angezogen von Rätseln, Geheimschriften, generell geheimer Kommunikation und Verstecken, und mit Omantra zu kommunizieren, ohne dass Eingeweihte davon mitbekamen, gehörte dazu.

Sie konnte viele einfache Sätze bilden und nutzte bereits für manche Alltagskommunikation die Gebärdensprache, aber sie stockte noch viel zu oft und buchstabierte dann ein Wort dazwischen.

Es klopfte an der Tür. Das war noch nie vorgekommen. Myrie sah verwirrt von ihrer Bettkante hinab. Merlin hörte auf zu musizieren und öffnete die Tür. Es war Daina, die hineineilte, dann aber abrupt stehen blieb und sich ihre Einrichtung verwundert ansah.

“Cool habt ihr es hier.”, sagte sie schließlich.

“Danke!”, sagte Merlin mit einem Lächeln. “Kommst du deswegen, um dir unsere wundervolle Einrichtung anzusehen?”

“Nein. Ich habe eine seltsame Frage.”, sagte sie aufgeregt. “In 20 Kilometern Umkreis von Thale, fällt euch da etwas ein, was von oben wie ein schwarzer Halbmond aussieht?”

Hermen hob den Blick. “Wenn, würde ich es dir nicht sagen, oder?”, fragte er und grinste.

Myrie verstand überhaupt nicht, worum es ging, aber das kam so oft vor, wenn andere sprachen.

“Nun ja, wir könnten uns zusammentun.”, schlug Daina Hermen vor.

“Wer sagt, dass ich nicht schon eine volle Spielgruppe habe?”, gab Hermen zurück.

“Hast du?”, fragte Daina.

“Nein. Ich würde natürlich Merlin fragen. Aber das ist nur eine Person. Bist du denn gut?”, erkundigte sich Hermen.

“Ich kann gut Gruppen koordinieren und sehr gut coden.”, sagte Daina sachlich.

“Gute Qualitäten. Die Merlin aber sicher auch bietet.”, gab Hermen zu bedenken.

Dieser hatte bis jetzt, genau wie Myrie, dem Gespräch folgend zwischen beiden hin- und hergesehen. “Worum geht es?”, fragte er schließlich.

“Um das Spiel.”, sagte Daina energisch.

“Ach so.”, antwortete Merlin und wandte sich an Hermen. “Nun, ich kann coden, aber ich habe deutlich weniger Erfahrung als Daina. Ich glaube, Erfahrung macht bei so etwas eine ganze Menge aus.”

Myries Hoffnungen, dass Merlin ihr vielleicht durch seine Frage zu mehr Verständnis verhelfen könnte, fiel in sich zusammen und sie lehnte sich wieder zurück an die Bettwand. Selbst nachfragen wollte sie nicht, weil Daina schon bei Merlins Nachfrage so laut gewesen war. Sie hatte immer noch Angst, dass sie vorhin zu viel über sich erzählt hatte. Oft fragte sie Omantra nach solchen Gesprächen nach Erklärungen. Aber sie konnte Omantra schlecht einfach nach dem Spiel fragen, über das die anderen sprachen, wenn sie den Namen nicht kannte.

“Also, Hermen, ich mache dir folgendes Angebot.”, sagte Daina schließlich geschäftlich. “Solltest du wissen, was mit dem schwarzen Halbmond gemeint ist, und es mir sagen, dann kommst du in mein Team, wenn ich ihn zuerst finden sollte.”

“Tut mir leid. Ich weiß leider nur genauso viel wie du. Ich habe auch gerade erst die Mitteilung gelesen.”, antwortete er. “Und umgekehrt sage ich dir übrigens das Gleiche zu. Ich habe sehr viel Zockerfahrung. Vielleicht überlegst du dir auch generell, ob du mich dabei haben wolltest, wenn du ihn findest.”

“Ich werde es mir überlegen. Allerdings ist viel Zockerfahrung nun wirklich keine Seltenheit. Dass wir örtlich beieinander sind, sollte allerdings von Vorteil sein.”, sie dachte kurz nach. “Myrie würde ich auf jeden Fall fragen.”

Myrie schoss aus ihrer entspannten Lage hoch und sah wieder aufmerksam zu Daina herunter, die sie anlächelte. Vielleicht sollte sie doch fragen worum es ging. Aber vielleicht später, wenn Hermen nicht dabei wäre.

“Mir ist schon aufgefallen, dass dich das stumpfsinnige Hirn dieses Kleinorks nicht stört.”, murrte Hermen.

Daina hob die Brauen.

“Stumpfsinnig.”, wiederholte sie in Frage stellend. Sie klang plötzlich kalt.

“Sehr viele Muskeln, nicht viel Hirn. Aber man kann sie sicher für so manche Aufgabe im Spiel sinnvoll benutzen. Das will ich nicht abstreiten.”, räumte Hermen ein.

“Nicht viel Hirn. Benutzen.”, wiederholte Daina im selben skeptischen Tonfall wie zuvor. “Ich glaube, du hast ein mieses Urteilsvermögen und drückst dich außerdem beschissen aus. Wenn du das Verhalten nicht ablegen kannst, disqualifizierst du dich für mein Team, es sei denn natürlich, ein wirklich guter Hinweis für den Halbmond käme von dir.”

Hermen rollte die Augen.

“Warum seid ihr so empfindlich? Myrie bekommt das anders doch gar nicht mit. Schaut sie euch an? Ich wette, sie weiß nichtmal, worum es geht. Sie weiß ständig nicht, worum es geht. Ich weiß gar nicht, warum sie hier zur Schule geht.”, sagte Hermen.

Myrie sah rasch weg, als sich die Blicke auf sie wandten, und ihrer fiel auf Sarina. Sie hörte dem Gespräch aufmerksam zu. Wahrscheinlich wusste auch sie, worum es ging.

“Ich sollte dann wohl mit der Schule aufhören.”, überlegte Merlin. Myrie sah erschrocken in seine Richtung, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, weil er ja unter ihrer Matratze war.

“Mir war nicht bewusst, dass hier nur Leute zur Schule gehen dürfen, die von jeder Kulturveranstaltung und allem, was gerade angesagt ist, mitbekommen.”, fuhr er fort. “Ich wusste, bevor ich hier herkam, nichts über Schatzvulkan und habe das noch nie gespielt. Ich denke, das macht mich eher ungeeignet für diese Schule.” Er seufzte, stand auf und kramte seinen Koffer unter seinem Bett hervor.

Daina grinste und das erleichterte Myrie. Es war also wieder ein Scherz. Merlin machte auch keine Anstalten, den Koffer zu packen. Hermen seufzte, aber sagte nichts weiter dazu.

“Nun, ich will euch nicht vom Schlafen abhalten. Träumt von schwarzen Halbmonden und sagt mir morgen alles, was ihr herausgefunden habt. Bis morgen.”, sagte Daina und verabschiedete sich schließlich aus dem Zimmer, immer noch aufgeregt, aber nicht mehr ganz so aufgeregt, wie als sie gekommen war.


Myrie träumte nicht von schwarzen Halbmonden. Sie träumte, Daina hätte sie zu einem anderen Spiel als Schatzvulkan gefragt, ob sie mitspielen wolle. Seltsamerweise waren alle Abschnitte so aufgebaut, wie ihre letzte Etappe in Schatzvulkan. Aber Myrie fiel beim Klettern dauernd auf den Rücken und schließlich teilte ihr Daina mit, dass es ihr sehr leid täte, aber Myrie sich disqualifiziert hätte.

Sie hatte nicht den Eindruck, lange geschlafen zu haben, als Omantra sie aus dem Schlaf holte, und sie sich zum Baum bewegte, an den sie Olge das erste Mal gelehnt gesehen hatte. Sie lehnte auch dieses Mal dort. Myrie hatte damit gerechnet, dass sie zeitknapp dazustoßen würde, wie sie es stets zum Wandern oder zum Erreichen des Zuges tat. Olge sprang auf ihre Füße und Myrie folgte der schönen Bewegung aufmerksam mit ihren Augen.


Das Training war überwiegend still. Olge sagte nur selten etwas, zeigte hauptsächlich Bewegungen. Sie fingen mit Fallübungen an. Olge nickte anerkennend und übersprang viele davon, weil Myrie sie bereits kannte, aber sie korrigierte doch an manchen Stellen eine Anspannung oder leichte Fehlstellung. Sie gingen zu Haltungen über und schließlich zu ersten Verteidigungsszenarien. Ganz zum Schluss wiederholten sie, was sie am Tag zuvor auf der bemoosten Fläche begonnen hatten. Myrie griff einfach irgendwie an, und Olge schmiss sie auf den Boden. Sie grinste, jedes Mal, wenn Myrie auf dem Rücken oder der Brust landete, aber nicht aus Häme, glaubte Myrie zu wissen, sondern weil es ihr Spaß machte, Myrie zu zeigen, auf wie vielfältige Art und Weise Myrie keine Möglichkeit hatte, etwas auszurichten. Myrie frustrierte es nicht. Sie rechnete gar nicht damit, gegen Olge etwas ausrichten zu können. Zumindest jetzt noch nicht, aber vielleicht auch nie. Es ging ihr viel mehr darum, zu beobachten, wie Olge sie umwarf. Es hatte etwas Elegantes an sich.


Die Trainingseinheit war gleichzeitig körperlich verausgabend und sehr entspannt. Durch das Schweigen und die Art und Weise, wie Olge kommunizierte, was sie sehen wollte, die Art, wie sie Myrie anfasste, um sie zu korrigieren, und durch ihre niemals genervte Mimik hatte es etwas Meditatives an sich. Eine Atmosphäre, in der Myrie anders dachte, nicht in Worten zum Beispiel. Sie dachte eher in Bewegung, in Motorik.

Obwohl sie nicht lange geschlafen hatte, war sie zum Unterrichtsbeginn sehr wach und aufmerksam.