Die Bedürfnisse der anderen

Ahna weckte sie am späten Vormittag. Auf der einen Seite war Myrie ihr dankbar. Sie hatte nicht gut geschlafen. Ihre Träume waren seltsam und unangenehm gewesen, von Bergen aus Leichen, bestehend aus den trollähnlichen Wesen aus dem Spiel, über die sie steigen musste, oder von Amon Krknschnock, der ihnen Baumgeister in einer Hütte zeigte und zuletzt von der Muhme, die irgendwie in den Lavasee gefallen war und Myrie musste sie retten, weil die Muhme gar nicht schwimmen konnte. Sie musste bei dem Gedanken fast grinsen, jetzt, als sie wach war, weil für ein Wesen, das teils aus Holz bestand, in einem Lavasee sicher nicht schwimmen zu können nicht das größere Problem war.

Auf der anderen Seite aber war sie immer noch sehr müde.

“Du möchtest sicher direkt wieder ins Gebirge laufen, weil heute am frühen Abend dein Zug schon fährt.”, sagte Ahna. Sie klang dabei leicht unwirsch.

Myrie überlegte, dass sie eigentlich noch nicht wach genug war, um zu überlegen. Oft ging sie an Tagen, die so seltsam anfingen, wie dieser, ins Gebirge, weil sie aus Erfahrung wusste, dass sie dann auch irgendwann wieder klare Gedanken fassen konnte. Aber ob sie dazu unbedingt das Gebirge brauchte, wusste sie gar nicht. Auf der anderen Seite war es ihr hier zu eng.

Sie bewegte sich mühsam aus dem Bett. Die Anstrengungen von gestern waren nicht folgenlos für ihren Körper. Sie fühlte sich matt und ihr Körper schmerzte an Stellen, an denen er noch nie geschmerzt hatte. Sie griff nach ihrer Kleidung, die, einschließlich EM-Anzug, ganz schön geruchsintensiv war, und zog sie gar nicht erst an. Sie machte sich daran den Inhalt ihrer Taschen zu leeren.

“Also nicht direkt zumindest, sondern du wäschst erst deine Anziehsachen?”, fragte Ahna, die die ganze Zeit im Zimmer stand.

“Und mich.”, ergänzte Myrie.

“Oh, wollen wir zusammen duschen?”, fragte Ahna begeistert.

“In Ordnung.”, antwortete Myrie.

Sie hatten einen vollständig gekachelten Dusch- und Baderaum, nicht sehr groß, aber zwei bis drei Leute fanden darin problemlos Platz. Die Wärme würde ihren Muskeln gut tun, überlegte Myrie. Ahna wartete geduldig, bis Myrie all ihre Taschen entleert hatte und alles ordentlich sortiert auf ihren kleinen Tisch gelegt hatte, und ihre Anziehsachen in den Keller gebracht hatte. Im Keller hatten sie eine energieeffiziente Schnellwaschanlage. Dort wurde die Kleidung ausgespült und hinterher durch ein Gebläse trocken gepustet. Sie war natürlich nicht für jede Kleidung geeignet, sondern im Wesentlichen für solche mit abperlender Textur, doch Myrie hatte beim Aussuchen ihrer Sachen natürlich darauf geachtet, dass diese eine solche Textur hatten. Der Vorgang dauerte nur kurze Zeit, aber Myrie ging trotzdem noch währenddessen die Treppe hinauf um mit Ahna ein Duschbad zu nehmen. Es tat ihrem Körper, wie sie vermutet hatte, sehr gut. Als sich ihre Lendenwirbelsäule und auch ihr Nacken allmählich entspannten, von dem sie gar nicht so richtig wahrgenommen hatte, wie verspannt sie eigentlich gewesen waren, wurde sie wieder müde und gähnte herzhaft. Sie legte ihren Kopf in den Schoß der Schwester, die aber nicht zuließ, dass Myrie wieder einschlief. Inzwischen war der Boden etwa eine handbreit mit Wasser gefüllt und die Drüsen sprühten sehr fein heißes Wasser in den Raum, sodass sich eine Art Nebel bildete. Myrie legte sich auf den Rücken und vollführte einige Dehn- und Entspannungsübungen, bevor sie schließlich das Bad verließ und sich wieder anzog.


Im Wohnzimmer saß ihr Papa am Esstisch und schliff an einem hellen Holzkästchen herum. Myrie verspürte nun großen Hunger, druckte sich ein Stück Geburtstagskuchen und setzte sich dazu. Ahna folgte ihr. Vadime lächelte sanft vor sich hin, während das eintönige Schleifgeräusch eine konstante, leise Geräuschkulisse erzeugte. Draußen war es etwas diesig, aber es regnete nicht und Myrie fragte sich, was sie machen sollte. Es zog sie durchaus nach draußen. Es war zu warm und eng hier drin. Aber sie wollte auch Zeit mit ihrer Schwester verbringen. Nicht nur aus dem Grund, weil Ahna ihr deutlich machte, dass sie das wollte, indem sie ihr ständig folgte, sondern auch, weil Myrie Angst hatte, dass sie an Vertrautheit verlieren könnten. Sie hatte den Eindruck, sich etwas von Ahna entfernt zu haben, indem sie eine Woche weg gewesen war und dann auch noch einen Tag mit anderen verbracht hatte.

Sie versuchte sich in Ahna hineinzuversetzen. Ahna war kreativ und gestaltete gern und viel, wenn sie in einer Schaffensphase war. Aber es kam auch oft genug vor, dass sie keine hatte. Wenn sie dann nicht gerade in einer Lerngruppe war, war sie ruhelos. Sie schaute dann gerne Filme oder sah sich Kunst anderer Leute an, oder, – und das tat sie dann am liebsten –, zeigte Myrie, was sie zuletzt gestaltet hatte.

Es hatte bislang mehrere Abende in der Woche gegeben, an denen Myrie aus dem Gebirge wiedergekommen war und Ahna in eben dieser Stimmung ungeduldig gewartet hatte, um Myrie eine neue Kreation zu zeigen, oder eine alte wieder zu zeigen.

Das Problem war, dass Myrie, wenn sie heute ins Gebirge ginge, wenn sie wiederkäme, direkt in den Zug steigen müsste. Aber mit Ahna etwas zu unternehmen, ohne dass das im Anschluss an Bewegung im Freien war, wäre etwas völlig anderes.

Myrie roch den Holzstaub und die Wärme des leicht geheizten Wohnzimmers, oder diesen Geruch der durch das Heizen entstand. Sie spürte die unbarmherzig beständige Wärme auf ihrer Haut. Es war nicht ungewöhnlich warm, aber es gehörte zu ihrem Alltag, herunterzukühlen, und das würde ihr fehlen, wenn sie heute nicht rausginge.

“Ich möchte raus, aber ich möchte Zeit mit dir verbringen. Machen wir einen Spaziergang?”, fragte Myrie endlich.

“Dir ist klar, dass du eine deutlich bessere Kondition hast, als ich und du ständig auf mich warten müsstest?”, fragte Ahna.

Es klang immer noch so, seit gestern, als wäre sie die ganze Zeit etwas eingeschnappt.

“Ja, das macht nichts. Ich renne dann einfach hin und her. Etwas Ähnliches habe ich mit Merlin auch versucht.”, schlug Myrie vor.

“Merlin?”, fragte Ahna.

“Ein, ähm, Mitlernender. Er ist sehr lieb.”

Ihr Papa hörte einen Moment auf zu schleifen und sah auf, sagte nichts, aber sein Lächeln wurde breiter. Auch Ahna zögerte einen Augenblick, bevor sie sich entschied.

“Wir können spazieren gehen, aber es kann sein, dass es mich hibbelig machen würde, wenn du dauernd wegrennst. Ich würde dir dabei ja etwas erzählen wollen, denke ich.”


Myrie ließ sich darauf ein. Sie wählte eine Strecke mit etwas Steigung, eben so viel, wie sie glaubte, Ahna gerade so zumuten zu können. Der Boden war aufgeweicht, anscheinend hatte es die vergangene Woche in Byrglingen nicht wenig geregnet. Das Gras auf ihrem Weg wurde schlammig dadurch, dass sie hinübergingen. Myrie mochte nicht, wenn das passierte. Ihr gefiel es nicht, so deutlich erkennbare Spuren zu hinterlassen. Es wirkte so zerstörerisch. Aber die Feuchtigkeit, die sich auf ihre nackten Arme legte, war angenehm kühl. Sie spürte allmählich, wie ihre Körperwahrnehmung zurückkam und musste stark das Bedürfnis unterdrücken, einfach zu rennen. Aber sie hatte Ahna versprochen, dass sie bei ihr blieb.

Am Anfang beschwerte sich Ahna darüber, dass ihre Schuhe schlammig wurden und die Schnürsenkel erst getrocknet werden müssten, bevor sie vom Schlamm befreit werden könnten. Myrie verkniff sich, ihr zu erzählen, dass es zuweilen viel sumpfigere Strecken gab. Myrie mochte alle Wege, aber wenn man sie gefragt hätte, was sie bevorzugte, so war es doch eher der felsigere, steinigere Untergrund. Aber für diesen hätten sie mehr steigen müssen.

Nach einer Weile aber fand Ahna tatsächlich ihren Anfang und erzählte über ein modulares Kochbuch, dass sie gerade entwickelte. Es hieß modular, weil es sich dabei um Druckrezepte handelte, die aus einzelnen Teilrezepten zusammengesetzt wurden, die zum größten Teil austauschbar waren.


Als sie wieder zu Hause ankamen, kam Minke gähnend die Treppe hinunter. Er war anscheinend gerade aufgestanden. Doch als er Myrie erblickte, grinste er.

“Wie war es? Nehmen sie dich wieder mit?”, fragte er.

Myrie überlegte. Hatten sie dazu etwas gesagt? Sie war gestern spät nicht mehr so aufnahmefähig gewesen. Aber sie meinte sich doch vage daran erinnern zu können, dass es Thema war.

“Wir haben darüber gesprochen, aber ich weiß nicht mehr, was raus kam.”, antwortete sie.

Minke hob die Brauen, nickte langsam und grinste breiter, als wüsste er etwas, was sie nicht wusste. Das irritierte sie. Aber da war ja noch eine zweite Frage.

“Also der Anfang war aufregend und gut, glaube ich. Wir mussten einen Lavasee überqueren. Aber dann wurde es irgendwie langwierig und ich wurde müde.”

“Ah, dann war das Etappe 4 oder 5, glaube ich.”, sagte Minke.

“4.”, erinnerte sich Myrie. “Aber warum grinst du die ganze Zeit so?”

“Ach, ich freue mich. Sie haben dir nicht mitgeteilt, dass du nicht mehr dabei wärst. Das wüsstest du noch. Sowas weißt du immer.”, sagte Minke.

“Hmm, du hast recht. Wahrscheinlich haben sie sich nicht entschieden.”, stimmte Myrie zu.

“Wahrscheinlich tendieren sie sogar dazu, zu denken, dass sie Spaß mit dir hatten.”, meinte Minke und zwinkerte.

Er kam die Treppe ganz herunter und hielt eine Hand hinter ihre Schultern. Sie nickte und er klopfte ihr auf den Rücken. Das war seine Art zu fragen, ob das in Ordnung war. Dann holte er sich aus der Küche einen Apfel und ging die Treppe wieder hinauf in sein Spielzimmer.


Myrie war dieses Mal nicht ganz so viel zu früh am Bahnhof, wie beim letzten Mal, wieder begleitet von Ahna und ihrem Papa. Ahna drückte sie fest zum Abschied und ließ sich versprechen, dass Myrie sie mindestens zweimal anriefe. Myries Papa nahm sie auch fest in den Arm und schaukelte sie, bis der Zug einfuhr. Dann stieg sie ein, viel ruhiger als beim letzten Mal aber immer noch sehr unbehaglich.

Nur eine Kapsel fuhr dieses Mal bis zum Ehrenberg-Internat. Sie war leer, als Myrie sie erreichte. Sie lehnte sich in einen weichen Sitz und wartete. Wartete darauf, dass vielleicht jemand käme und sie wieder versuchen konnte, nicht ablehnend zu sein und Kontakt aufzubauen. Sie musste an Olge denken, weil diese ja auch zurückgefahren war. Sie stellte sich mögliche Zusammentreffen mit ihr vor, aber sie konnte sich nicht so recht vorstellen, wie ein Gespräch anfangen sollte. Zwar hatte sie sich den Ork ausgesucht, um ihn interessant zu finden, aber gleichzeitig hatte sie Angst vor Olge. Sie war so ruppig gewesen, und sollte diese Ruppigkeit kombiniert werden mit einem ihr gegenüber ablehnenden Verhalten, vielleicht sogar so arg, wie Hermen eines an den Tag legte, dann würde das schlimm sein.

Myries Aussuchkriterien für Leute hingen leider nicht damit zusammen, dass Leute nett zu ihr wären. Zumindest nicht ausschließlich.


Myrie öffnete aus Neugierde die Abdeckung an einer der Sitzlehnen, wie sie es auf der letzten Hinfahrt schon gemacht hatte, und klickte vorsichtig und Omantras Anleitungen folgend, darauf herum. Sie schaltete die Landschaft an, die vorbeiflog, die Merlin schon aktiviert hatte und sah aus dem Fenster. Nun, während nichts anderes passierte, war es gar nicht so schlimm. Eigentlich sogar schön, fand sie. Sie sah dunkle Landschaften, Berge, einen Fluss, durch den sie fuhren, einen großen See, in dem sie kleine, farblose Fische schwimmen sah. Myrie mochte Wasserwesen. Sie schwebten so, und wenn sie sich bewegten, dann war es so gleitend, so gekonnt und so still.

Dann rauschte wieder Land vorbei, ein sehr schöner Wald, in deren Bäumen hin und wieder Elben saßen und gemeinsam zu singen schienen. Aber Myrie hörte nichts. Rehe standen herum oder hopsten in ihren ungeschickt wirkenden Bewegungen zwischen den weniger dichten Bäumen hindurch.

Omantra erklärte, dass dies keine Live-Aufnahmen waren. Sie wurden zwar entlang der Zugstrecken zu verschiedenen Tageszeiten mit Drohnen regelmäßig aktualisiert, nämlich immer, wenn sich etwas groß änderte, aber es wurden hier nur alte Aufnahmen synchron zur Zugfahrt abgespielt.


Sie fuhren am oberen Rand eines Tals entlang, in das sie hinabblicken konnten. Halb in und halb an eine felsige Wand auf der gegenüber liegenden Seite des Tals war eine kleine Stadt mit weißen und hellgrauen Häusern gebaut, die in die vertikale Länge gezogenen schienen.

Die Sicht auf die Häuser, die nur sehr langsam an den Fenstern vorbeizogen, weil sie so weit weg waren, wurde zunächst sporadisch von anderen Häusern direkt vor den Fenstern versperrt. Dann wurde der Zug langsamer, die Häuser mehr und der Zug hielt auf einem zentralen Platz in der Mitte einer Stadt neben einem weißen Brunnen mit spiralförmigen Wasserbahnen. Und natürlich hielten sie nicht wirklich auf diesem Platz, sondern unter der Erde, und der Brunnen war weit über ihnen.

Nach der üblichen Zeit, die so ein Aufenthalt dauerte, fuhren sie wieder sehr sanft an und verließen die Stadt. Inzwischen empfand Myrie das Betrachten der Landschaft als sehr entspannend und schlief darüber ein.


Sie wurde wach davon, dass sich etwas in ihrer Umgebung bewegte. Wach war eigentlich nicht korrekt ausgedrückt. Sie konnte nicht sofort klar denken. Dennoch nahm sie wahr, wie ein Ork mit dunklem Pferdeschwanz und keinen Haaren seitlich am Kopf das Abteil verließ. Das war Olge, dachte sie. Aber warum verließ sie das Abteil?

“Sind wir schon da?”, murmelte Myrie schlaftrunken.

“Nein. Wir brauchen noch eine ganze Weile.”, antwortete Omantra.

“War das Olge?”

“Das weiß ich nicht. Wenn ich nicht im Suspend gewesen wäre, was ich war, hätte ich Stimmen registrieren können von Leuten, die du kennst oder Leute erkennen können, die du mir zeigst, wenn sie das erlauben. Aber das ist hier alles nicht der Fall gewesen.”, erklärte Omantra.

Wenn Olge das Abteil verließ, dann hieß das, dass sie vorher hinein gekommen war. Wie lange war sie hier drin gewesen? Wollte sie jetzt schon aussteigen? Oder wusste sie nicht, dass nur diese Kapsel zum Ehrenberg-Internat fuhr? Myrie stand auf, ein wenig wie in Trance. Sie verließ die Kapsel in die Richtung, in die Olge gegangen war, um sie zu finden, um sie zu warnen.

Sie ging durch eine Reihe recht leerer Kapseln, und wenn doch mal Leute in einer Kapsel waren, dann sahen diese sie stirnrunzelnd an. Der Zug war enorm lang. So lang, dass er niemals allein in einen Bahnhof hätte passen können. Und sie ging immer weiter und weiter. Es wurde dunkler und sie musste die Leute genau ansehen, um zu erkennen, dass sie alle nicht Olge waren. Der Zug legte sich auf einmal in eine Kurve und neigte sich zur Seite. Myrie stolperte und fiel gegen einen Ork, der dort saß. Olge, dachte sie. Aber es war nicht Olge. Dieser Ork hatte zwar den gleichen Haarstil, aber blonde Haare. Zu Myries Überraschung sagte er nichts. Sie entschuldigte sich nuschelnd und ging weiter.

“Die Kapsel, in der du dich befindest, ist nun nicht mehr mit Kapsel 14 zum Ehrenberg-Internat verbunden. Dieser Zugteil wurde abgekoppelt um in eine andere Richtung zu fahren.”, sagte eine elektronische Stimme in ihrem Ohr, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit Omantras Stimme hatte.

Myrie brach in kalten Schweiß und Panik aus, – und wachte davon auf.


Sie saß noch immer in ihrer Kapsel und war einfach nie richtig wach gewesen. Draußen war sternenklarer Himmel. Sie fuhren gerade durch ein riesenhaftes, beeindruckendes Gebirge, viel größer, als das bei Byrglingen und Myrie bekam sofort Sehnsucht. Sie guckte sich einzelne Plateaus aus und stellte sich vor, dort zu sein. Dann erinnerte sie sich an den schrecklichen Traum und fragte sich, wie viel davon wahr gewesen war. Sie befand, dass sie wahrscheinlich nie aufgestanden war, aber vielleicht war Olge tatsächlich da gewesen.

“Kannst du denn Olge eine Nachricht schicken?”, fragte Myrie Omantra leise.

“Kennst du sie aus dem Unterricht?”, fragte Omantra.

“Ja, vom Wandern.”

“Ich kann eine Anfrage schicken, ob sie hören möchte, was du sagen möchtest. Sie kann ablehnen oder annehmen. Wenn sie annimmt, kann sie sich entscheiden, ob du wissen sollst oder nicht, ob sie das getan hat.”, erklärte Omantra. “Möchtest du es probieren?”

“Ja.”, entschied Myrie.

“Anonym oder mit Absende-Informationen? Und welchen Inhalt soll die Nachricht haben?”, erkundigte sich Omantra.

Myrie überlegte eine Weile und formulierte mehrere Male in ihrem Kopf neu, bevor sie zu einem Ergebnis kam, und das strengte sie sehr an. Es war eine der kompliziertesten Aufgaben, die sie sich in ihrem Leben so vorgenommen hatte, überlegte sie. Wie leitete man so etwas ein? Gab es da ähnliche Probleme, wie die mit dem Anstarren? Welche, die sie noch gar nicht kannte etwa?

“Sie darf wissen, dass es von mir kam. Und die Nachricht soll sein: Guten Tag, Olge. Ich glaube ich habe dich vorhin gesehen und falls ja, und wenn du noch nicht ausgestiegen bist, sitzen wir im gleichen Zug. Meines Wissens fährt nur Kapsel 14 zum Ehrenberg-Internat. Myrie.”

Omantra wiederholte sie noch einmal, und Myrie entschied, dass sie zufrieden genug war.

“Die Nachricht ist verschickt.”, sagte Omantra.

“Danke.”, sagte Myrie.

Sie wusste, dass es eigentlich nicht notwendig war, Omantra zu danken. Aber im Rahmen einer Unterrichtseinheit, in der Omantra mit ihr geübt hatte, wann es gut war, sich zu bedanken, und wann es erwartet würde, hatte sie sich so daran gewöhnt, dass sie es nun auch bei der KI tat.

“Vielleicht hätte ich dich vorher fragen sollen, was ein sinnvolles Verhalten von mir gewesen wäre.”, überlegte Myrie.

Inzwischen war sie richtig wach und konnte sich auch nicht vorstellen, so schnell wieder einzuschlafen.

“Nun ja, es hängt sehr davon ab, was Olge für eine Person ist, welches Verhalten für sie hilfreich ist. Und es hängt auch davon ab, was genau du als sinnvoll bezeichnen möchtest. Es ist nichts Falsches daran, zu tun, was du getan hast, sonst hätte ich wohl etwas Entsprechendes angemerkt.”, sagte Omantra.

“Hmm, vielleicht möchte ich wissen, ob es angemessen war. Ob es ein Verhalten in einer Weise war, dass Leute mich mögen.”, überlegte Myrie.

»Zum Ersten: Ich denke, es war in Ordnung. In der Kommunikation zwischen Leuten kommt es den meisten gar nicht so darauf an, ob etwas einzelnes Gesagtes angemessen war oder nicht, solange es in einem gewissen Rahmen bleibt. Und in diesem Rahmen war es auf jeden Fall, was du weitergegeben hast. Es kommt mehr auf die Summe der Dinge an. Wenn du engeren Kontakt zu einer Person aufbaust, wie jetzt zum Beispiel zu Daina oder zu Merlin, dann fängt es an eine Rolle zu spielen, wenn du dich immer wieder in einer Weise verhalten würdest, die die Leute, die du kennen lernen willst, eher nicht mögen. Aber es entsteht bei so einem Kennenlernen viel spontan in der Kommunikation, für das es kein Regelwerk gibt. Daher wirst du wahrscheinlich nicht darum herum kommen, früher oder später durch Eigenarten aufzufallen und du musst hoffen, dass diese Eigenarten kompatibel mit den Leuten sind, die du kennen lernen willst.

Letztendlich kannst du zwar auch ein Stückweit erlernen, wie du dich so verhältst, dass du allgemein beliebter wirst, aber es ist kein Maß für gutes Verhalten. Es ist vielleicht viel eher gut, Leute kennen zu lernen, die mit dir reden mögen, ohne, dass du dich verstellen musst. Daher möchte ich mich, wenn du einverstanden bist, beim Erklären von angemessenen Verhaltensweisen darauf beschränken, dass du weißt, womit du Leute gegebenenfalls verletzt. Und ich möchte Verhaltensweisen, die lediglich im Sinne des Durchschnitts der Leute als angemessen interpretiert werden, außen vor lassen.«, erklärte Omantra.

Myrie ließ Omantra das Gesagte einige Male wörtlich wiederholen.

“Ich verstehe.”, sagte sie schließlich. “Aber ist es nicht sinnvoll, wenn ich es wenigstens wüsste? Ob dieses Verhalten eines wäre, mit dem ich mich eher beliebt mache? Ich muss ja nichts daran ändern.”

“Es kann sinnvoll sein, es kann dir aber auch im Weg stehen und dich dazu verleiten, dich nicht deinem Wesen entsprechend zu verhalten. Es ist schwierig einzuschätzen. Es ist selbstverständlich deine Entscheidung. Und es ist für so einen einzelnen Fall wie diesen eben auch nicht gut entscheidbar. Vielleicht solltest du dir auch Gedanken machen, ob es den Aufwand wert ist, diesen Fall zu analysieren. Er ist sehr individuell und die Tragweite der Entscheidung, wie du dich anders verhalten kannst, nicht sehr groß. Es hängt auch viel mit Zufall zusammen, ob es etwas Positives bewirkt, oder nicht.”

Myrie wuselte der Kopf von diesem Problem und sie bemühte sich schließlich, es aufzuschieben und an etwas anderes zu denken. “Die Frage, die ich viel wichtiger finde, ist, warum ist Olge nicht hier in dieser Kapsel?”, sagte Myrie.

“Es hätte sein können, dass inzwischen eine andere Kapsel an den Zug gedockt worden wäre, die zum Ehrenberg-Internat fahren würde, aber das habe ich schon untersucht, das ist nicht der Fall. Das passiert aber in 2 Stationen. Es kann sein, dass sie sich informiert hat, wo sie bis dahin im Zug verharren kann, um dann in eine solche Kapsel umzusiedeln.”, mutmaßte Omantra.

“Oh, das ist eine gute mögliche Erklärung.”, sagte Myrie erleichtert und überlegte, dass in dem Fall Olge vielleicht noch weniger gern mit anderen zusammen war, als sie. Oder es lag an ihr.


Sie verließen das Gebirge und der Zug fuhr durch einen sehr düsteren Wald, – den Finsterwald. Das erfuhr sie natürlich wieder von Omantra. Sie sah nichts, außer hin und wieder mal ein oder zwei kleine Lichtlein vorbeihuschen. Omantra erklärte, dass es sich dabei um fluoreszierende Tiere handelte.

Myrie beschäftigte sich die letzte Etappe der Reise damit, die einhändige Gebärdensprache weiterzuerlernen. Dazu schaltete sie die Fenster wieder aus und setzte sich die VR-Brille auf.


Bis der Zug im Bahnhof zum Ehrenberg-Internat einfuhr, war von Olge keine Spur, und auch als Myrie ausstieg sah sie niemanden. Sie fragte sich schon, ob doch etwas nicht geklappt hatte, doch dann sah sie die Tür zum Treppenhaus zugehen. Es war also gerade jemand hindurch gegangen. Myrie erinnerte sich, dass Olge auf der Fahrt von der Schule weg ebenfalls aus dem Treppenhaus gekommen war und zwar so knapp, dass sie den Zug gerade noch erreicht hatte. Vielleicht war sie einfach schneller gewesen als Myrie.

Zögerlich ging Myrie zum Treppenhaus. Aufzug kam nicht in Frage, die Bewegung brauchte sie. Aber falls Olge gern ihre Ruhe haben wollte, wollte sie auch nicht stören. Also wartete sie einen Augenblick, bevor sie das Treppenhaus betrat und den Aufstieg wagte. Weit vor ihr war jemand, das konnte sie hören. Allerdings auch nur eine Weile, denn die Person war deutlich schneller als sie. Myrie war hin- und hergerissen, was sie davon halten sollte. Auf der einen Seite, fand sie, machte das Olge noch beeindruckender, auf der anderen hatte sie bislang den Eindruck gehabt, die beste Kondition unter allen Mitlernenden in ihren Lerngruppen zu haben. Eigentlich wusste sie, dass das nicht wichtig war, irgendworin am besten zu sein. Aber es hatte ihr schon gefallen.


In ihrem Zimmer lagen schon alle in ihren Betten und schliefen, – zumindest halb. Das war auch kein Wunder. Der Zug war schließlich auch sehr spät gekommen. Nur Sarina öffnete noch einmal die Augen, als Myrie hereinkam, schloss sie aber auch schnell wieder. Sie hatte immer noch diesen angespannten Gesichtsausdruck. Vielleicht war das einfach ein Teil von ihr.

Myrie fiel es sehr schwer einzuschlafen. Schließlich gab sie es auf und ging in ihr Spielzimmer, wo sie in die Tat umsetzte, was sie sich in Modellierung überlegt hatte. Sie kletterte mit um Faktor 2 erhöhter Schwerkraft eine angenehm dafür geeignete Felswand hinauf.

Als sie genug hatte, war sie erst einmal verwirrt. Draußen in den Bergen um Byrglingen hatte sie sich immer abgeseilt, doch hier in einer Virtualität war das ja nicht nötig. Sie lugte unter der VR-Brille hindurch und sah, dass sie nur wenige Dezimeter über dem Boden am EM-Feld hing, und ließ sich einfach fallen. Wenn sich Personen in einer Virtualität sehr langsam bewegten, zentrierte das Feld sie üblicherweise so sanft im Raum, etwas verschoben entgegen der Bewegungsrichtung, dass sie es nicht bemerkten. Zumindest in der Horizontalen. In der Vertikalen war das anscheinend anders. Omantra erklärte, dass sie in dieser Virtualität entschieden hatten, dass es hier nur um das Hinaufsteigen ginge, und es sicherer wäre, wenn das in der Realität nah über dem Boden wäre. Auch wenn natürlich auch sonst keine Gefahr bestünde.

Da sie noch die Gebirgsvirtualität durch den Rest der Brille sah, zog sich ihr Inneres beim Sprung mächtig zusammen und sie stolperte, als sie auf dem Boden aufkam. Dann endlich, ging sie zu Bett und konnte schlafen.


Der Mondtag begann mit Mathematik bei Henne Lot. Bevor der Lehrer den Raum betrat, setzte sich Daina auf Myries Tisch und grinste sie an. “Du bist dabei! Wenn du willst, heißt das natürlich.”, sagte sie voller Begeisterung.

Myrie wusste nicht so genau, was sie dazu sagen sollte. Daher schwieg sie erst einmal.

“Willst du nicht? Sind wir dir zu schlecht?”, fragte Daina.

Myrie war sich nicht sicher, wie die zweite Frage gemeint war, aber hatte das Gefühl, dass es nicht wörtlich gemeint war.

“Also, ich, äh, ich würde es gern nochmal probieren. Aber ich fand das auch sehr anstrengend und weiß nicht, ob ich das durchhalte.”, sagte Myrie.

“Naja, du hast körperlich auch sehr viel geleistet. Du hast den Rucksack getragen und mich eine ganze Weile und dein eigenes Gewicht an den Armen. Ich denke, so etwas müssten wir in Zukunft besser organisieren. Vielleicht hätten wir dich nicht erstmal rüberklettern lassen dürfen, sondern dir gleich das Seil und die Befestigungen mitgeben sollen. Aber dir zuzusehen, wie du da an der Wand entlang gehangelt bist, war einfach zu gut! Ich habe die ganze Zeit mitgefiebert, ob das wohl gut geht.”

Dainas begeisterter Wortschwall und ihr Wiedererleben der Situation wurde dann doch irgendwann durch den Unterricht unterbrochen. Darauf folgte Physik bei Ara Seefisch. Beide Fächer waren spannend und behandelten passender Weise Hintergründe aus Modellierung: Die Schwerkraft. Die kleine Pause zwischen den beiden Unterrichtseinheiten nutzte Daina erneut, um sich mit Myrie zu unterhalten. Eigentlich war es keine richtige Unterhaltung, weil Myrie so gut wie nichts sagte. Daina erzählte Myrie von einem anderen Spiel, dass sie auch gern spielte, ebenfalls ein semirealistisches Etappenabenteuer. Es hieß Tempautum und sprach Myrie tatsächlich an. Es war mehr rätsel- und aufgabenbasiert. Etwa gab es ein großes Tor, dass sich durch ein wasserbetriebenes Zahnradsystem öffnen ließ und es mussten die Zahnräder und die Wasserrinnen selbst korrekt platziert werden. Gafur gefiel es nicht so gut, aber Daina spielte es manchmal zusammen mit Theodil, der aber weniger anschauliche, frickelige Spiele bevorzugte.


Nach der Pause, die Myrie wieder draußen verbrachte, folgte Malen und Zeichnen bei Lyria Rune, was recht entspannend war. Sie durften in diesem Unterricht Musik hören, wenn sie sich auf etwas einigen könnten und niemand hatte etwas gegen Merlins Vorschläge einzuwenden.

Da ihr Nachmittag und früher Abend morgen am Nientag schon mit Wandern belegt sein würde, beschloss Myrie schon heute Ahna anzurufen. Dann hätte sie immer noch Antag oder Mandostag als Auswahl für den zweiten Anruf, bevor sie wieder nach Hause fuhr.

Ahna freute sich über die gemeinsamen Stunden in ihrem neuen Irrgarten. Es war ein Irrgarten mit Gestaltungsmöglichkeit, wie für Ahnas Virtualitäten üblich. Die Wege wurden durch riesige Blumenranken blockiert, und die Blüten der Blumen ließen sich Einfärben. Das half gleichzeitig beim Wiedererkennen der Wege.

“Es ist extra für dich ein Labyrinth geworden.”, sagte Ahna.

“Oh, ich mag Labyrinthe. Daina, die auch mit mir hier lernt, mit der ich am Wochenende Vulkanirgendwas gespielt habe, ist dabei ein ganz großartiges zu bauen!”, fiel Myrie ein.

“Großartiger als meins?”, fragte Ahna.

“Ja!”, rief Myrie aus, dachte aber noch einmal darüber nach. “Das heißt, es kommt darauf an, nach welchen Kriterien man so misst. Es ist nicht bunt oder schön oder so. Es ist aber komplexer, verwirrender, und dadurch interessanter.”

Sie gingen eine ganze Weile still durch Ahnas Labyrinth, was auch schön war, aber auch ungewöhnlich. Ahna war selten so schweigsam. Myrie strich über die Blüten der großen Pflanzen, und fand, dass sie sich tatsächlich ähnlich anfühlten, wie die im Garten der Nachbarin in Byrglingen, nur vielleicht etwas steifer, als Ahna leise wieder das Wort ergriff:

“Wenn diese Daina für dich interessantere Virtualitäten baut, dann kommst du mich bald bestimmt nicht mehr besuchen.”

Es klang nicht eingeschnappt oder vorwurfsvoll, wie sie Entsprechendes am Wochenende geäußert hatte, sondern einfach nur traurig.

“Nein, Ahna. Du bräuchtest überhaupt keine Virtualitäten bauen, damit ich mich mit dir treffe. Ich komme doch nicht, weil du etwas gut machst.”, versuchte Myrie die Schwester zu überzeugen und zu trösten.

“Nein. Es würde nicht an sich der Grund sein, dass ich etwas nicht gut mache. Sondern einfach, dass andere interessanter sind. Das war einfach schon öfter so in meinem Leben. Leute fanden mich interessant, als sie klein waren, weil sie mir zufällig am Anfang begegnet sind und sie noch nicht wussten, wem sie noch alles begegnen werden. Und dann bin ich irgendwann uninteressant geworden.”

“Hmm.”, sagte Myrie nur.

Sie wollte sagen, dass sie doch Ahnas Schwester wäre. Dass es sicher mit ihr anders würde. Aber konnte sie das mit Sicherheit sagen? Sie glaubte zwar fest daran, aber wenn Ahna das so einschätzte, und wenn auch ihr Papa einschätzte, dass sie in einem halben Jahr vielleicht nicht mehr jedes Wochenende nach Hause käme, dann standen schon zwei Einschätzungen ihrer entgegen. Und ihren eigenen traute sie eigentlich nicht so sehr.

“Ich hoffe nicht das mir das je passiert.”, sagte sie schließlich.

Ahna schlang die Arme um sie und weinte leise. Myrie wusste nicht so genau, ob das nun aus Dankbarkeit für Myries Hoffnungsäußerung oder als eine Art Vortrauer über das bevorstehende sich Entfernen war. Aber sie ließ es einfach geschehen.

Sie blieben bis spät in die Nacht zusammen und so war Myrie am nächsten Morgen in keiner Weise ausgeschlafen. Der Unterricht war zwar spannend, wie fast immer bisher, aber Myrie wünschte sich, er hätte wann anders stattgefunden, und er wollte einfach nicht vorübergehen. Selbst das Wandern fiel ihr schwer. Vielleicht hätte sie in der Pause zwischen Technik und Wandern einen Nachmittagsschlaf halten sollen, aber sie hatte Bedenken gehabt, dass sie verschlafen könnte. Also hatte sie in der Pause stattdessen weiter geübt, unhörbar mit Omantra zu kommunizieren.

Direkt nach dem Wandern ging sie zu Bett, aber trotz Müdigkeit geriet sie nur in einen unangenehmen Dämmerzustand, in dem sie nicht richtig schlief, aber auch nicht wach war. Ihr Gehirn war zu voll. Sie formulierte halb unterbewusst und ohne es wirklich zu wollen, was sie in den Unterrichtsfächern gelernt hatte, in Gebärdensprache, was nicht richtig klappte, weil sie immer noch viel zu wenige Wörter kannte.

Dennoch war sie am nächsten Morgen erstaunlich ausgeschlafen. Sie verzichtete auf das Frühstück, weil ihr die Halle zu voll war, und nahm sich vor, in Zukunft schon am Abend vorher Frühstück für den Morgen zu drucken. Allerdings war Sportunterricht ohne vorher gegessen oder ausreichend geschlafen zu haben, nicht so erbauend, wie es mit mindestens einem von beiden gewesen wäre. In Biologie wurde sie so müde, dass sie im Unterricht einschlief. Dabei war die Stunde an sich spannender, als die letzten. Sie untersuchten Wasser, und kleine Tierchen, die darin schwammen, unter dem Mikroskop. Sie bekamen zu zweit je eins. Hermen schüttete ihr ein Glas kaltes Wasser direkt in den Nacken, damit sie aufwachte. Er sagte nichts, schaute sie nur vielsagend an. Myrie war so müde, dass sie kaum reagierte, aber sie machte sich Gedanken, ob Hermen vielleicht bei ihrem Gespräch mit Merlin, Ara Seefisch und Henne Lot gelauscht hatte. Es war das zweite Mal, dass er Wasser benutzte, um sie zu wecken. Aber es konnte auch Zufall sein. Daina sah zwischen Myrie und Hermen hin und her. Vielleicht erwartete sie, dass Myrie sich wehren würde. Als nichts passierte machte sie eine rüde Handgeste Hermen gegenüber. Julov Floster schien von alledem nichts mitzubekommen.

Myrie war jedenfalls im Nachhinein froh, dass Henne Lot seine Bedenken durchgesetzt hatte, und sie nicht per Wasserpistole aus ihren Gedanken geholt würde, wenn es nicht absolut notwendig wäre.

Sie zwang sich, den Rest der Stunde wenigstens die Augen offen zu behalten.


Modellierung leitete Lalje Brock mit der Frage ein, welche Kräfte sie noch kannten neben der Schwerkraft. Das fand Myrie gar nicht so einfach. Als erstens wurde die Elektromagnetische Feldkraft genannt. Die Kraft, auf der alle Virtualitäten basierten.

Aber welche gab es noch. Myrie versetzte sich gedanklich in verschiedene natürliche Umgebungen. Wenn sie hinfiel, war es wegen der Schwerkraft. Wenn sie sich abseilte, half ihr die Schwerkraft. Wenn sie sich vom Fels abdrückte, dann war das quasi ihre eigene Kraft, und es funktionierte auch nur so, weil sie am Seil hing, und sie hing wegen der Schwerkraft. Wenn sie schwamm, ging sie wegen der Schwerkraft unter. Aber es ging im Wasser schwieriger, vorwärts zu kommen, als in der Luft. Weil Wasser im Weg war. Aber war das wegen einer weiteren Kraft? Oder war es nicht auch, weil das Wasser schwer war und auf den Boden gezogen wurde durch die Schwerkraft. Und das gleiche galt quasi für Wind. Wind entstand, das wusste sie, wenn Luft sich von dichteren Luftregionen in weniger dichte bewegte zum Druckausgleich. Der Druckunterschied entstand vorwiegend durch verschieden erwärmte Regionen. Aber dass die Luft sich von einer zur anderen Stelle bewegte, war nicht durch eine Kraft verursacht. Oder doch? Aber die Luft, die sich bewegte, der Wind quasi, übte eine Kraft aus. Aber was war das für eine?

Myrie war das noch nicht eindeutig genug. Dann kam sie auf eine ganz andere Idee.

“Wenn sich etwas dreht, die Kraft, die es nach außen zerrt.”, sagte sie schließlich.

Dann bemerkte sie, dass sie damit Ponde unterbrochen hatte, und entschuldigte sich. Myrie spürte Blut in ihr Gesicht schießen und Schweiß auf der Haut.

“Die Fliehkraft, wenn man so will, hatten wir ganz am Anfang schon. Du musst echt besser aufpassen, anstatt im Unterricht zu schlafen.”, sagte Hermen.

“Hermen, lass Zurechtweisungen mal meine Sache sein.”, sagte Lalje Brock. “Es kommt mal vor, dass man nicht ganz bei der Sache ist. Das ist keine Schande.”

“Myrie ist nie bei der Sache.”, entgegnete Hermen harsch.

“Nicht? Ich habe das schon ganz anders erlebt.”, entgegnete Lalje Brock kalt.

Sie schaute Hermen einen langen Moment streng an und ließ dann Ponde wieder zu Wort kommen. Myrie war zwar immer noch zu sehr damit beschäftigt, sich zu schämen, um Ponde zuzuhören, aber sie sah, wie Lalje Brock eine Geste zu einer Wand machte und dort das Wort erschien, dass sie gerade aussprach: Windkraft. Es erschien neben einer Reihe anderer Wörter, die anscheinend schon gesagt worden waren: Elektromagnetische Feldkraft, Magnetische Feldkraft, Fliehkraft, Zentripetalkraft, Stoßkraft, Federkraft und Haftkraft.

Nun wurden sie wieder in Zweiergruppen aufgeteilt, – Daina wählte wieder Myrie aus –, und durften wie beim letzten Mal an der Stärke von Kräften herumschrauben, bloß dieses Mal konnten sie wählen, an welcher. Zusätzlich durften sie ihre Virtualität, die im Grunde ähnlich aussah, wie beim letzten Mal, um weitere Gegenstände ergänzen: Um Magneten, Steine, Schlitten, Seil, technische Federn und Vogelfedern. Insgesamt fand Myrie die Experimentiererei spannend, aber nicht so spannend, wie beim letzten Mal. Stellte man beispielsweise die Federkraft für eine kleine, unscheinbare technische Feder sehr groß ein, dann war sie einfach nur deutlich stabiler, als sie den Anschein erweckte. Die Stoßkraft zu verändern war noch am ähnlichsten zu ihren Experimenten in der letzten Stunde. Stellte Myrie ihre Stoßkraft höher ein, so fühlte sie sich beim Zusammenstoßen mit anderen Gegenständen viel schwerer. Die Gegenstände flogen schneller durch die Gegend. Aber ulkig dabei war, dass sie sich an sich nicht tatsächlich schwerer fühlte. Es wirkte so, als passe alles nicht so richtig zusammen.


Letztendlich war dies auch die Essenz aus dem, was sie heute lernten. Dass die Stoßkraft nämlich eigentlich an das Gewicht gekoppelt war, und dieses an die Schwerkraft. Durch das Erhöhen der Stoßkraft entkoppelte man also diese Kräfte voneinander und es führte so zu physikalischen Inkonsistenzen.

Merlin war es, der dies größtenteils zuerst in Worte fassen konnte. Myrie fand das ziemlich beeindruckend.


Eigentlich hatte sie früh ins Bett gehen wollen und das Telefonat mit Ahna auf morgen Abend verschieben wollen. Aber Daina trat nach Modellieren noch einmal auf sie zu und fragte sie, ob sie am Mandostag die nächste Etappe Schatzvulkan mitspielen wolle. Myrie entschied sich zögerlich dafür und ging daher nun statt zu schlafen in ihren Rückzugsraum um Ahna anzurufen. Ahna brachte überraschenderweise Minke mit, der sich erkundigte, ob sie bei einer nächsten Etappe Schatzvulkan dabei wäre.

“Morgen Abend.”, sagte Myrie.

“Yess!”, rief Minke und freute sich offenbar riesig darüber. “Sehr cool, Myrie, sehr cool”

Er gab Myrie allerlei hilfreiche Tipps, worauf sie noch achten könnte in der nächsten Etappe, bis Ahna sich durch Ungeduld bemerkbar machte und Myrie für sich einforderte.


Myrie brachte es fertig, die Zeit mit Ahna zu begrenzen, sodass sie tatsächlich zu einer sinnvollen Zeit ins Bett kam. Dennoch war es nicht einfach, sich zum Morgenwandern wieder aus dem Bett zu zwingen.

Die frische Luft war allerdings schön. Vögel zwitscherten ins Dunkel hinein. Es war dunkler als in der Woche zuvor, weil es Herbst war. Merlin sprach wenig, aber es war auch nicht nötig. Sie gingen einfach still nebeneinander her.

Erst als sie wieder umkehrten, ging die Sonne allmählich auf und der Morgen graute. Olge ging ein gutes Stück voraus, allein, hielt immer Mal wieder inne, um ins Gebüsch an der Seite des Weges zu schauen, oder in den Himmel, um irgendetwas genauer zu betrachten. Und Myrie beobachtete vorwiegend Olge. Sie konnte die Augen kaum von ihr wenden. Jede Bewegung, wenn sie eine Anhöhe des Weges hinaufstieg oder wenn sie einen kurzen Sprint noch weiter nach vorn einlegte, war so formvollendet. Myrie stellte sich ihre Muskeln unter der Kleidung vor, wie geschmeidig sie sein mussten. Während sie Olge so beobachtete, bekam sie das Bedürfnis, mehr in Virtualitäten mit erhöhter Schwerkraft zu trainieren.

“Myrie.”, murmelte Merlin.

“Ja?”, antwortete Myrie ebenso leise.

“Du starrst schon wieder.”, sagte Merlin.

“Oh.”, sagte Myrie und bemühte sich andere Punkte zum Fixieren zu finden. Es fiel ihr sehr schwer und schließlich entschied sie sich eine Weile für Merlin. Sie konnte nicht so genau einordnen warum, aber er gefiel ihr auch.


Sie war in der Lage im Unterricht an diesem Tag aufzupassen, aber sie merkte, dass sie Stoff aus den letzten Stunden wiederholen sollte, um den Anschluss zu behalten. Das war ein neues Problem. Abgesehen von ihren raren Besuchen in Lernvirtualitäten hatte sie nie mit anderen gleichauf sein müssen. Also begab sie sich in der Pause zwischen Physik und Literatur in ihren Raum statt nach draußen, aß sehr eilig, und kletterte dann bei verstärkter Schwerkraft, während sie sich mit Omantra über den verpassten Schulstoff unterhielt.

Nach Literatur ging sie mit Daina in eine der Spielhallen. Sie waren nicht die einzigen. Ihnen wurde eine Ecke zusortiert, in der sie dann die Virtualität betraten, zuerst Dainas Zimmer, bis sie vollzählig sein würden. Während sie noch auf Theodil warteten, zeigten Gafur und Daina Myrie einige Bewegungen, wie sie sich mit ihrer kleinen Axt verteidigen könnte. Dann kam auch Theodil und sie betraten die Schatzvulkanvirtualität. Daina, die dieses Mal auch in der Realität direkt neben Myrie war, erklärte ihr einige Einstellmöglichkeiten des Spiels, ohne dass Theodil oder Gafur sie hörten. Unter anderem gab es Musik, die zum Spiel eingestellt werden konnte. Sie untermalte die Handlungen angenehm, fand Myrie, und die langwierigen Passagen wurden dadurch erträglicher. Sie versuchte auch die eben erlernten Verteidigungstechniken anzuwenden. Statt allerdings einen gegnerischen Charakter tatsächlich zu schädigen, schlug Myrie aus Versehen Gafur, der ihr in den Weg sprang um ihr zu helfen. Er war zum Glück gut genug gerüstet und merkte davon nur einen leichten Stoß. Er war nicht böse, er meinte sowas passiere leicht am Anfang.

Bei einem weiteren Verteidigungsversuch warf Myrie die Axt weg. Gafur war später in der Lage, sie wieder aufzusammeln. Er sagte nichts dazu und Myrie fragte sich, ob er es als etwas Schlechtes bewertete oder auch darüber fand, dass das eben mal passierte. Sie fragte am Ende Daina nach einer Einschätzung und Daina meinte, dass sie zwar ungeschickt wäre, aber auch das eben am Anfang passierte. Manchmal passiere so etwas sogar richtig fortgeschrittenen Spielenden, wenn sie sich erschreckten.

Wie beim letzten Mal zog sich die Etappe bis spät in die Nacht und Myrie freute sich, dass morgen Lantag war und damit das Wochenende und hoffentlich Erholung kam.


Das Wochenende und auch die nächste Woche verliefen kaum anders als die vergangene. Myrie hatte noch nie so viel getan, geredet, gelernt. Nie so viel mit verschiedenen Leuten, die sie noch kaum kannte, Zeit verbracht. Es war eine interessante, neue Erfahrung, mit der sie nicht gerechnet hatte, und es erfüllte sie. Es machte auch müde, aber sie war bisher kein weiteres Mal in Biologie oder auch einem anderen Fach eingeschlafen. Daher überlegte sie, dass es dann wohl so war, wenn man zur Schule ging und Herzwesen hatte. Und vielleicht würde sie sich daran gewöhnen.


Es begann eine weitere Woche mit einem recht ähnlichen Start, aber als sie sich am Antag nach Modellierung, wie es nun schon beinahe Tradition geworden war, mit Ahna treffen wollte, fing Merlin sie ab. “Myrie warte kurz.”, rief er.

Sie drehte sich zu ihm um.

“Ich würde dir gern Fadja vorstellen. Beziehungsweise, sie würde dich auch gern kennen lernen. Hättest du Lust?”, fragte er.

Myrie zögerte einen Moment. Es war eine schwierige Frage. Auf der einen Seite wollte sie eigentlich gerade nicht noch jemanden kennen lernen. Sie fühlte sich mit Merlin und Daina nicht so furchtbar vertraut. Es gab so viele Unsicherheiten. Sie wusste gar nicht so richtig, was sie gerne taten, was sie für ein Leben hatten. So viele Dinge wusste sie über sie nicht, Dinge, die sie zum Beispiel über ihre Schwester alles wusste. Eine gewisse Vorhersagbarkeit, weil man Leute gut kannte, hatte etwas sehr Beruhigendes. Und das fehlte ihr. Sie wollte eigentlich nicht noch eine solche Person, bei der sie im Ungewissen war, mit auf die Liste setzen. Auf der anderen Seite aber konnte es diese Ungewissheit, die sie Merlin gegenüber hatte, reduzieren. Und das wollte sie auf jeden Fall.

“Also schon. Denke ich.”, sagte Myrie.

“Jetzt?”, fragte Merlin.

“Eigentlich wollte ich gerade meine Schwester treffen.”, entgegnete Myrie.

“Jetzt, aber nicht so lange, und du triffst dich mit deiner Schwester danach? Oder bist du zu einer festen Zeit verabredet?”, fragte er weiter.

“Bin ich nicht. Hmm.”, machte Myrie und überlegte noch einen Augenblick. Aber eigentlich war sie zu müde um viel zu überlegen und sagte deshalb: “Ach, was soll’s. Ich komme mit.”

Merlin führte sie in einen Spielraum, der so groß war wie der Spielraum, den sie zu Hause nutzte. Dort schloss sie zunächst die Augen, setzte sich die VR-Brille auf und wartete darauf, dass Merlin sie in die Virtualität verfrachten würde, in der sie Fadja treffen würden. Sie erschreckte sich ein bisschen, als ihr Schweißband warm wurde und Omantra sie kurz darauf fragte, ob sie aussehen wollte, wie Daina sie gestaltet hatte, oder so wie früher. Sie überlegte einen Moment und entschied sich dann für letzteres. Ihr neuer Stil hatte ihr gefallen und sie wollte erleben, wie er sich in Virtualitäten anfühlte, aber wenn sie auf Merlins Herzwesen treffen würde, fühlte es sich richtiger an, sich dabei vertraut mit sich selbst zu fühlen. Sie öffnete die Augen erst wieder, als sie schon in der Virtualität war.

Sie befand sich auf einer wilden Wiese. Kleine Blümchen, vorwiegend Gänseblümchen und Spunken, wuchsen und verbreiteten einen angenehmen Duft. Myrie erinnerte sich vage, dass Omantra ihr in ihrer frühen Kindheit einmal erklärt hatte, dass sie Spunken nicht essen sollte, weil sie einen Brechreiz auslösten. Sie rochen etwas intensiver als die Gänseblümchen. Es mochte Sommer in der Virtualität sein, denn es war warm und hell. Ein leichter, warmer Wind wehte. Sie sah sich weiter um und stellte fest, dass sie sich auf einer Hügellandschaft befand, keine, die sie typischerweise aus diesen Breiten des Landes kannte. In die eine Richtung erstreckten sich sanft hohe und niedrige mit Gras bewachsene Berge. Nur an einigen Stellen wurde die Grasdecke von kantigem, dunklen Felsgestein durchbrochen. Auf einem Nachbarhügel grasten Schafe. In der anderen Richtung ging es steil bergab und der Berg, auf dem sie sich befanden, fußte im Meer, dass sich weit vor ihr erstreckte und leise vor sich hin rauschte.

Es war eine schöne Virtualität, fand Myrie. Sie schaute eine ganze Weile auf das Meer hinaus, ging bis an die Felskante, und als sie sich schließlich wieder umdrehte, stand Fadja vor ihr. Sie hielt etwas Abstand. Myrie betrachtete das Mädchen neugierig. Sie war nur wenig größer als Myrie, und bewegte sich kaum, stand ganz still da. Sie hatte dunkle Augen unter dichten hellgrauen Augenbrauen, die zwischen den Augen zusammenwuchsen. Auch ihr Haupthaar war hellgrau. Die Haut war etwas dunkler als das Haar, und hatte einen schönen graubraunen Farbton. Sie war weich und zart, ähnlich wie Merlins Haut.

Fadja bewegte sich auf Myrie zu und stellte sich neben sie, den Horizont betrachtend.

“Er hatte schon gesagt, dass du sehr aufmerksam beobachtest.”, sagte sie sanft.

Sie sprach langsam, nicht stockend, aber langsamer, als man es erwartet hätte. Sie hatte eine tiefe, schöne Stimme, ein klein wenig rau, und sie schmatzte ganz leicht beim Sprechen. Myrie hatte gerade den Blick von ihr lösen wollen, und auch gen Horizont richten wollen, um nicht zu Starren, aber dieser letzte Aspekt regte etwas in ihr, und sie sah Fadja ins Gesicht. Etwas passte nicht so zusammen. Sie wollte die Stimme noch einmal hören. Sie musste sich eine Frage ausdenken. Aber ihr fiel keine ein, so sehr sie auch nachdachte. Keine, die nicht sehr seltsam geklungen hätte. Also suchte sie sich eine aus, die vielleicht seltsam war.

“Wie alt bist du?”, fragte sie.

Fadja wandte ihr das Gesicht zu und lächelte. “Älter als ich aussehe. Und älter als Merlin. Ich habe ihn oft gefragt, ob es ihm etwas ausmacht, aber er meinte stets, dass es keine Rolle spielt. Spielt es für dich eine?”, fragte sie.

Myrie schüttelte den Kopf. Fadja hatte ihre Frage ausreichend beantwortet. Sie interessierte an sich das Alter anderer Personen nicht. Es war ja schließlich nur wichtig, ob man eine Austauschebene fand. Es ging vielleicht häufig einher, dass es bei ähnlich alten Leuten öfter der Fall war, dass man eine fand, aber es hatte letzendlich keinen festen Zusammenhang und stimmte in Myries Fall auch gar nicht. Die Personen, mit denen sie bisher am besten zurecht gekommen war, waren altersmäßig völlig quer verteilt.

Der Grund, warum sie in diesem Fall fragte, war der, dass Fadjas äußere Erscheinung ein anderes Alter nahelegte, als ihre Sprache, Sprechweise und ihre Bewegungen. Aber das hieß wohl einfach, dass sie ihr äußeres Erscheinungsbild entsprechend angepasst hatte.

Myrie lächelte und wandte ihren Blick wieder zum Meer. Sie standen eine Weile still beieinander. Myrie mochte, dass das auch mit Fadja ging. Merlin war irgendwo etwas weiter hinten auf der Wiese damit beschäftigt, eine Decke auf dem Boden auszubreiten und sie mit einigen Kerzen und vielen Kissen zu dekorieren und ließ ihnen ein wenig Zeit.

“Ich glaube, von all dem, was Merlin erzählt hat, dass du ihm ziemlich wichtig bist.”, sagte Fadja schließlich.

“Wirklich?”, entfuhr es Myrie.

Es war auf der einen Seite so unrealistisch. Sie kannten sich kaum und erst so kurz. Auf der anderen Seite hatte er wohl noch nie zuvor jemanden zu Fadja mitgenommen.

“Wirklich.”, betonte Fadja. Sie blickte Myrie nachdenklich ins Gesicht und Myrie schaute zurück. Sie fühlte sich etwas unsicher und unbehaglich dabei.

“Wir kennen uns nicht einmal einen Tag und reden nun über Gefühle von Merlin, die ich nicht kenne und die er mir vielleicht lieber selbst erzählen sollte.”, sagte sie zögernd.

“Oh, so etwas passiert in der Welt häufig, weil die meisten nicht selbst auf die Idee kommen, über ihre Zuneigung zu anderen zu reden. Obwohl Merlin da ein bisschen besonders ist, und es trotzdem manchmal tut.”, erklärte ihr Fadja. Sie sah wieder den Horizont an und schloss ihre Arme um ihre Brust. “Aber ich wollte nicht, dass du dich unkomfortabel fühlst, und du hast schon recht mit dem, was du sagst. Wir kennen uns eigentlich zu kurz für so etwas.”, fuhr sie fort.

“Merlin hat tatsächlich mal gesagt, dass er mich mag.”, stellte Myrie fest.

Fadja lächelte. Wieder lauschten sie eine Weile dem Rauschen der Wellen. Der warme Wind entspannte Myries Muskeln und sie schloss eine zeitlang die Augen, um nur ihn und die Geräusche der Umgebung in sich aufzunehmen.

“Du wirkst sehr naturverbunden.”, stellte Fadja fest.

Myrie nickte.

“Ich beobachte auch gern. So zum Beispiel stelle ich fest, dass du sehr, sehr müde und erschöpft wirkst.”, sagte Fadja.

Myrie fühlte kurz in sich hinein, nickte und gähnte herzhaft.

“Ich habe aus dem, was ich zusätzlich über dich weiß und gerade so sehe, versucht ein paar Rückschlüsse zu ziehen. Darf ich sie dir vorstellen und dich fragen, was davon wahr ist? Es könnte vielleicht schon wieder etwas persönlich werden, aber du darfst auch gern jederzeit mitten drin abbrechen.”, sagte Fadja.

Myrie nickte. Es war eine andere Art von persönlichem Gespräch, über eigene Beobachtungen der jeweils anderen Person zu sprechen, als über Gefühle anderer.

“Du bist ein Zwork, und es gibt davon nicht viele. Du hast einige auffallende Eigenarten in deiner Beobachtungsart und deiner Bewegung. Ersteres ist schön, es wirkt unvoreingenommen. Du hast Schwierigkeiten mit anderen ins Gespräch zu kommen und du bist gern draußen im Freien. Du hast nicht viele Herzwesen, vermute ich?”, fragte Fadja.

Myrie nickte.

“Und du hast oft erlebt, dass andere dich nicht mögen und sich über dich lustig machen?”, fragte sie weiter.

Myrie staunte darüber, dass sie diesen Rückschluss aus so wenig Information zog. Aber es war vielleicht auch einfach eine Vermutung, eine von vielen möglichen. Myrie nickte wieder, die Augen weiter geschlossen.

“Und deshalb”, sagte Fadja sehr sanft, “kannst du dir nicht vorstellen, das Leute dich mögen, obwohl sie dich kaum kennen. Du hast darin kein Vertrauen, wenn das schnell passiert. Weil diese Ablehnung immer früher oder später kam.”

Dieses Mal nickte Myrie nicht. Sie wusste selbst nicht, ob Fadja recht hatte. Sie konnte sich vorstellen, dass es etwas miteinander zu tun hatte, aber so klar ersichtlich, wie der Zusammenhang zustande kam, fand sie es nicht.

“Und außerdem hast du nun Merlin kennen gelernt und vielleicht auch andere, die dich nicht ablehnen, sondern stattdessen Zeit mit dir verbringen wollen. Und weil du nicht möchtest, dass sie dich irgendwann doch ablehnen, traust du dich nicht, hin und wieder abzusagen und dir den nötigen Rückzug für dich zu gönnen. Deshalb bist du so müde und erschöpft.”, fuhr Fadja im selben sanften Ton fort.

Dieses Mal nickte Myrie wieder.

“Wollt ihr herüberkommen?”, rief Merlin.

Er wirkte fröhlich und zufrieden mit seinem Werk. Myrie öffnete die Augen und sah zu ihm hinüber. Es sah wirklich sehr gemütlich aus.

“In zwei Momenten!”, rief Fadja zurück.

Myrie blickte Fadja an, sich fragend, was sie noch wollte. Fadja hatte den Blick gesenkt. Ihre Augenlider waren dunkler als der Rest ihrer Gesichtsfarbe. Das gefiel Myrie.

“Sollte mir irgendwann einmal etwas zustoßen, sei bitte da für Merlin. Versuch ihm Halt zu geben.”, sagte Fadja schließlich. Es klang beinahe flehend, voll von Furcht. Sie musste Merlin wirklich sehr lieb haben, wenn sie sich so sorgte.

“Bist du krank?”, fragte Myrie sachlich.

Fadja hob den Blick und schüttelte den Kopf. “Einfach nur, falls. Versuchst du es dann?”, fragte sie.

Myrie nickte. “Natürlich.”, sagte sie.

Und sie meinte es. Sie wusste zwar auch nicht, wie sie es anstellen sollte, aber sie wusste, dass sie für Merlin da sein wollte, wenn es nötig war. Wenn sie es könnte. Vielleicht bedeutete das, dass sie Merlin mochte. Und wenn sie Merlin mochte, warum sollte er sie dann nicht mögen dürfen? Aber sie war komplizierter. Vielleicht. Sie sah wieder zu Merlin hinüber, der geduldig dort stand und mit einem Grinsen auf dem Gesicht wartete. Sie lief ihm entgegen und blieb kurz vor ihm stehen.

“Probier die Kissen aus! Sie sind warm!”, rief Merlin.

Fadja rannte nicht, aber auch sie kam zügigen Schrittes dazu. Gemeinsam kuschelten sie sich in die Kissen. Merlin nahm eine von Fadjas Händen in seine zwei und hielt sie fest, einfach so. Er wirkte selig.

Die Kissen waren tatsächlich warm. Und sehr weich. Myrie schloss einen Augenblick die Augen, um nur die Haptik der Kissen wahrzunehmen, und schlief ein.