Freiheit
Als Myries Füße den Boden auf der gegenüberliegenden Seite wieder berührten, fühlte sie sich plötzlich sehr erleichtert. Es war seltsam, was für eine Auswirkung das Wissen dieses Gitters auf sie hatte. Es war ja für sie keine Hürde. Die Hürde war dadurch gegeben, dass es verboten war, und ihr nun der Schulrauswurf drohte. Und die Bedrohung war ja genauso real, ob sie zum Verlassen des Geländes ein Gitter überwand oder ob sie nur über eine Linie getreten wäre, die das Gelände begrenzt hätte. Eigentlich hätte sie damit gerechnet, dass sie sich ängstlich und falsch hinter dem Gitter fühlen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Sie fühlte sich, als könnte sie wieder atmen. Seit Monaten das erste Mal. Seit sie das letzte Mal das Gitter überquert hatte, um genau zu sein.
Auch das war seltsam. Denn sie war ja in Byrglingen an den Wochenenden im Gebirge gewesen. Dort war es das zeitliche Problem, dass sie eingrenzte. Nicht, dass sie oft mehr als eine Nacht im Gebirge verbracht hätte, als sie noch nicht zur Schule gegangen war, aber sie hätte immer die Möglichkeit gehabt. Mit der Schule, die jeden Mondtag wieder anfing, konnte sie das nicht.
Sie schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug, bevor sie sich über den weiteren Weg Gedanken machte, den sie nun gehen wollte. Sie wollte dieses Mal schon den Anfang ihrer Route auf eine Weise legen, dass sie schwierig nachzuvollziehen wäre. Sollte sie ganz woanders lang gehen? Etwa einen der Wanderwege, auf denen eine weitere Spur überhaupt nicht auffallen würde? Sie wandte sich zu Sarina um, die geduldig, aber angespannt wartete. Es war ihr deutlich anzusehen, wie dringend sie weitergehen wollte.
Sie trug über ihrer üblichen Kleidung lediglich einen dünnen, dunklen Stoffmantel. Sie bibberte leicht und Myrie fragte sich, ob es vor Kälte war, oder wegen der Not, in der sie steckte, von der Myrie nicht wusste, was es war.
Falls es Kälte wäre, würde die Nacht im Freien ihr ganz schön zu schaffen machen. Und der Wald bot sicher mehr Wärme, als der Ehrenberg. Myrie fiel der Schlafsack ein, der immer noch in ihrem Baum lag. Sie würde wohl, würden sie die Nacht im Freien verbringen, in diesem Schlafsack schlafen und Sarina ihren neueren anbieten.
Also würde sie zu ihrer letzten Übernachtungsstätte im Wald zurückkehren. Das würde sicher etwas anstrengend für Sarina werden.
Myrie suchte einen Stelle im Dickicht, dass den Wald umgab, durch das schon einmal mindestens ein Wildtier gelaufen sein musste. Sie bewegte sich vorsichtig hindurch und Sarina folgte ihr auf die gleiche Weise.
Es kam Myrie wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich den Bach und bald darauf den besagten Baum erreichten. Sie kletterte hinauf und ließ für Sarina das Seil herab. Sie musste allerdings feststellen, dass ihr Schlafsack ganz schön gelitten hatte, und dass er gerade von einem Flederfluff bewohnt war, der sich quer darüber ausgebreitet hatte. Myrie plusterte den zweiten Schlafsack auf, während Sarina mit Hilfe des Seils vorsichtig am Baumstamm hinaufkletterte. Sie stellte sich dabei nicht unbedingt geschickt an, sodass Myrie überlegte, ihr bei nächster Gelegenheit zu erklären, wie sie sich sichern könnte, sodass sie nicht einfach auf den Boden fallen könnte. Sarina zog die Schuhe aus und kroch dankbar in den für sie vorbereiteten Schlafsack, zunächst nur mit den Beinen. Es kam Myrie gemütlich vor. Sie kuschelte sich unter den Flederfluff in ihren etwas ramponierten, alten Schlafsack, während Sarina sich die Haare flocht. Myrie beobachtete die achtsamen Bewegungen. Es war angenehm leise. Hin und wieder ein Eulenruf, ein leises Blätterrauschen, sonst Stille. Und es roch angenehm waldig. Myrie überkam eine starke Müdigkeit, und sie fragte sich, ob sie noch irgendetwas tun oder fragen sollte, bevor sie einschliefe.
“Danke.”, flüsterte Sarina, nachdem sie sich nun ganz im Schlafsack verkrochen und den Zopf daneben sortiert hatte. Sie sah Myrie kurz in die Augen, dann schloss sie sie.
Myrie bewunderte die feinen, dunklen Augenlider mit den noch dunkleren Wimpern daran. Die zarten, weichen Gesichtszüge sahen ruhig aus. Entspannter, als Myrie sie je gesehen hatte. Was auch immer das Problem war, es schien zumindest zeitweilig gelöst zu sein.
Myrie schloss die Augen. Der Flederfluff räkelte sich und kuschelte sich dabei an sie und sie schlief ein.
Dann wachte sie doch noch einmal auf, weil ihr siedentheiß einfiel, dass Merlin sich Sorgen machen würde. Sie weckte Omantra mit einer Geste aus dem Suspend.
“Omantra, schick Merlin eine Nachricht, dass es Sarina und mir gut geht, und wir heute Nacht anderswo schlafen.”, bat sie Omantra in Gebärdensprache. Sie musste nur eins der Worte und Sarinas Namen buchstabieren, alle anderen kannte sie bereits.
“Ich schätze, es ist zu spät, dich daran zu erinnern, dass du das Schulgelände nicht verlassen sollst?”, fragte Omantra.
“Ja.”, formte Myrie.
“Nachricht weitergeleitet.”, sagte Omantra.
Bevor sie mehr sagen konnte, schickte Myrie sie wieder in den Suspendmodus.
Schwaches Sonnenlicht fiel durch das Blätterdach, als Myrie erwachte. Es erschreckte sie. Das hieß, es musste mitten am Tag sein. Oder doch erst Morgen?
Zwar hatte Myrie schon einen vollen Tag hier verbracht, aber sie war zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen, irgendwelche Helligkeiten mit Tageszeiten in Verbindung zu bringen. Aber es war sicher schon Unterrichtszeit und Myrie erschreckte sich erst sehr, weil sie dachte, sie hätte das Training mit Olge versäumt. Dann erinnerte sie sich, dass Olge das Training heute ausfallen ließ, weil sie ein verlängertes Wochenende bei sich zu Hause verbringen wollte, und dass unterrichtsfrei war.
Myrie richtete sich vorsichtig auf. Der Flederfluff räkelte sich bei der Bewegung. Sie streckte sich ein wenig und sah dann zu Sarina hinüber. Zum ersten Mal lag das geflochtene Haar nicht auf einer Seite ihres Gesichts auf der Decke. Sarina lag auch nicht auf dem Rücken, sondern Myrie zugewandt auf der Seite, eine Hand unter dem Gesicht. Das Haar war an einigen Stellen platter gedrückt und der Zopf war nicht mehr ganz symmetrisch.
“Sie sieht wunderschön aus.”, entfuhr es Myrie leise.
Sarina öffnete die dunklen Augen, sah Myrie an und lächelte sanft. Myrie konnte sich nicht erinnern, dass Sarina je gelächelt hätte. Oder zumindest nicht daran, dass sie je nicht verkrampft gelächelt hätte.
“Sarina ist ein Jungenname.”, sagte Sarina.
Das gab Myrie zu denken. Sie grübelte eine ganze Weile nach, bis sie überlegt hatte, was es alles bedeuten konnte.
“Also ist es ein nicht zu dir passender Name, oder es kommt dir nicht so drauf an, oder wir haben dich die ganze Zeit falsch referenziert?”, legte Myrie ihre Gedanken dar.
“Eigentlich nur du. Und soweit ich das mitbekommen habe, eigentlich nur jetzt. Und eigentlich folgt daraus, dass ich ein Junge bin, auch nicht zwangsläufig, dass ‘sie’ als Pronomen falsch wäre, aber ich möchte gern mit ‘er’ referenziert werden.”, sagte Sarina und gähnte. “Der Name ist nach meinem Empfinden passend und mir kommt es schon ein wenig drauf an.”
Myrie überlegte, dass Sarina recht hatte. Sie hatte nie über sie, – über ihn –, gesprochen, sondern einfach nur sehr viel über, – sie zögerte in Gedanken –, über ihn nachgedacht.
Sarina, er, ihn, sein, dachte sie. Sie schloss die Augen und formte Sätze zum Üben in ihrem Kopf. Sarina ist mit mir im Wald, und er schläft in meinem Schlafsack. Er ist etwas ungeschickt beim Klettern, daher muss ich ihm bald erklären, wie er sich sichern kann.
“Ich hoffe, es passiert mir nicht wieder.”, sagte Myrie.
“Ich erinnere dich dran, wenn es passiert.”, sagte er. Er schien nicht böse zu sein. Er schien überhaupt recht gut gelaunt zu sein.
“Macht es für dich einen Unterschied?”, fragte er schließlich, eine Spur Ängstlichkeit in der Stimme.
“Nun, ich muss jetzt ein anderes Pronomen verwenden.”, antwortete Myrie verwirrt. Natürlich machte es einen Unterschied.
“Und sonst?”, fragte Sarina mit der selben Unsicherheit von eben.
“Sonst nichts. Was sollte sich ändern?”, fragte Myrie und war nicht weniger verwirrt, als eben.
“Das ist gut. Für manche Leute macht es einen. Manche schlafen zum Beispiel nicht gern mit Jungen in einem Raum. Oder Baum, oder so.”, erklärte Sarina, dem Myries Verwirrung auffiel.
“Das wusste ich auch noch nicht.”, sagte Myrie und nahm es zur Kenntnis.
“Ich bin beruhigt, dass das bei dir nicht der Fall ist.”, sagte Sarina erleichtert.
Myrie betrachtete das wundersamerweise entspannte Gesicht und die dunklen, wachen Augen darin.
“Er ist wunderschön.”, sagte sie leise zur Übung.
“Danke.”, sagte Sarina.
Myrie hatte nie so recht den Sinn verstanden, warum man sich für Komplimente bedankte, die sich auf etwas bezogen, auf das die entsprechende Person keinen Einfluss hatte. Aber sie hatte von Omantra gelernt, dass es dieses Phänomen gab, und so lächelte sie einfach.
“Warum musstest du vom Schulgelände?”, fragte Myrie. Das war entscheidend, weil es bestimmte, wann und wie sie zurückkehren würde, oder ob sie beide, oder ob überhaupt.
“Ich höre die EM-Felder.”, antwortete Sarina, “Die ganze Zeit über. Ein Sirren. Es hat mich kaputt gemacht. Hier sind wir weit genug entfernt und ich höre es das erste Mal nicht, seit ich hier zur Schule gehe. Anfangs habe ich es einmal mit Ohrstöpseln probiert. Aber damit bekomme ich so einen Druck auf dem Kopf. Und sie haben das Sirren der Felder auch nicht ganz weggedämpft bekommen.”
“Oh.”, sagte Myrie.
Sie versuchte sich vor Augen zu führen, wo es überall in der Schule EM-Felder gab, und wie ununterbrochen sie aktiv waren. Ihr fiel spontan kein Ort in der Schule ein, in dem wenigstens vorübergehend keine aktiv waren. Das war in der Tat ein Problem. Myrie grübelte eine ganze Weile nach, aber ihr fiel keine andere den Schulregeln folgende Lösung für Sarina ein, als die Schule zu verlassen. Die Spielräume könnte man vielleicht noch so schalldicht gestalten, dass nicht einmal das Geräusch der EM-Felder hinausdringen konnte. Vielleicht waren sie das sogar. Aber auch der ganze Speisesaal und alle Klassenräume mit ihren Stühlen, und sogar ihr Schlafraum waren voll von EM-Feldern.
“Ich denke, ich würde es aushalten, wenn ich wenigstens jede Nacht davon Ruhe bekommen könnte.”, sagte Sarina.
Myrie nickte bedächtig. Sie überlegte, unter welchen Umständen das Verlassen des Schulgeländes wohl vertretbar wäre und kam zu dem Schluss, dass es das aus ihrer Sicht für Sarina durchaus war, da er wahrscheinlich keine andere Möglichkeit hatte, andernfalls diese Schule zu besuchen.
Natürlich wäre es angebracht, dazu eine Lehrkraft zu befragen, und eine mögliche Sonderregelung für Sarina zu finden. Aber das Nachfragen war natürlich mit dem Risiko verbunden, dass Lehrkräfte da anders dachten als Myrie.
Ein sicherer Weg, dass er an der Schule bleiben könnte, wäre es, die Entscheidung selbst in die Hand zu nehmen und zu beschließen, dass er die Nächte im Wald verbringen würde. Natürlich gab es die Schulregel nicht ohne Grund. Es gab Gefahren in diesem Wald, selbst im Dämmerwald, von denen Myrie nicht wusste, was es für welche waren. Sie vermutete allerdings aus dem, was Merlin in ihrem Gespräch mit Ara Seefisch und Henne Lot nach ihrem letzten Ausflug in den Wald gesagt hatte, urteilend, dass es dabei vor allem um Erschrecken und Verlaufen ginge.
Sie fragte sich, ob sie versuchen sollte, Sarina beizubringen, wie er hierher kommen konnte. Ob sie ein zweites Kletterseil besorgen sollte und dieses einfach hier lassen sollte. Ob sie Sarina hier allein lassen sollte, selbst aber die Nächte in der Schule verbringen sollte, weil sie ja von dem Problem nicht betroffen war.
Und die Logik, dass sie von der Schule fliegen würde, wenn sie jede Nacht ohne wirklich guten Grund hierher käme, riet ihr dringend dazu, eben das zu tun. Sie hatte sich selbst außerdem gerade in Gedanken jede Grundlage der Rechtfertigung wegargumentiert, selbst ebenfalls die Nächte im Wald zu verbringen. Doch sie konnte sich nicht darauf einlassen. Sie hatte dieses Freiheitsgefühl so sehr vermisst, dass es sich in ihr zusammenzog, wenn sie nur darüber nachdachte, wieder in ihrem kleinen Zimmer zu schlafen. Sie konnte nicht widerstehen. Sie würde jede Nacht hier draußen schlafen, solange, bis etwas Hinderndes passierte, sie erwischt würde, oder Ähnliches. Und dann würde sie wohl von der Schule fliegen. Sie würde immens aufpassen, und hoffen, dass sie nicht erwischt würde. Es war ihr schon sehr viel wert, hier lernen zu dürfen, eigentlich zu viel für dieses Risiko. Aber der Drang, diese Freiheit zu spüren, die sie gerade fühlte, war so groß, dass er all ihre rationalen Bedenken beiseite fegte.
Sarina hatte sie beim Denken neugierig beobachtet und vorsichtig angefangen mit seinen Fingern seinen Zopf aufzulösen.
“Ich komme mit.”, sagte Myrie.
“In den Wald? Jede Nacht?”, fragte Sarina.
Myrie nickte.
“Das ist nett von dir, aber nicht sinnvoll. Du solltest mir eher beibringen, selbst zurecht zu kommen.”, entgegnete er.
Myrie nickte wieder. Sie überlegte eine Weile, wie sie Sarina erklären könnte, warum sie dennoch wollte, warum sie musste. Sie konnte Sarina dabei nicht ins Gesicht sehen und sah stattdessen seinen Fingern in seinen Haaren zu. Schließlich beschloss sie, dass er ihre Beweggründe gar nicht so genau wissen musste.
“Darüber hatte ich nachgedacht, aber ich möchte aus eigennützigen Gründen lieber mitkommen.”, sagte sie zu Sarinas Haaren.
“Ich würde dann gern klarstellen, dass, solltest du oder sollten wir erwischt werden, und du dadurch von der Schule fliegen, das dein Problem ist. Im Fall, dass wir heute erwischt würden, würde ich ewig ein schlechtes Gewissen haben.”, sagte er mit einer gewissen Strenge in der Stimme. “Aber sollten wir wann anders erwischt werden, möchte ich mich nicht schuldig fühlen müssen.”
Myrie nickte wieder. Das würde sie auch nicht erwarten. Sie flocht ihre Finger ineinander, den Blick starr und unbewegt weiter auf die Bewegungen der Haare gerichtet. Sarina wechselte von seiner liegenden Position in einen Schneidersitz, um sehr vorsichtig mit den Fingern einen Knoten im Haar zu lösen. Myrie folgte nicht sofort mit dem Blick. Dort, wo gerade zuvor noch seine Finger gewesen waren, war nun sein Bauch. Der Mantel war perfekt auf seinen Körper zugeschnitten und betonte seine Taille. Er legte die Haare auf seine linke Körperhälfte und löste den übrigen Zopf.
“Magst du mir deine eigennützigen Gründe erzählen?”, fragte er.
Myrie schüttelte den Kopf.
“Zu kompliziert.”, sagte sie leise.
“Du wirkst etwas verstört.”, stellte er fest.
Myrie löste endlich ihren starren Blick von Sarinas Bauch und schaute hinauf in sein Gesicht.
“Ich habe bloß nachgedacht.”, sagte Myrie und lächelte. “Weißt du, wie spät es ist?”
Sie wollte nicht Omantra fragen, weil die KI dann etwas zu ihrem Waldausflug sagen könnte. Sarina holte eine silberfarbene, verzierte Taschenuhr an einer dünnen Kette aus der Brusttasche seines Mantels.
“Kurz vor Mittag. Neun und drei Viertel.”, antwortete Sarina nach einem Blick darauf.
Er wollte sie schon wieder einstecken, als ihm Myries neugieriger Blick auffiel. Er löste die Kette, die am anderen Ende mit einer kleinen Sicherheitsnadel am Mantel befestigt gewesen war, und reichte sie Myrie. Myrie nahm sie vorsichtig entgegen. Sie fühlte sich kalt an, aber nicht so kalt, wie sie vermutet hätte. Ihre leicht schwitzigen Hände reagierten sofort mit der Oberfläche und lösten auf diese Art metallene Gerüche aus ihr heraus. Die Uhr hatte ein angenehmes Gewicht. Das Zifferblatt war dunkel, helle etwas verschnörkelte Zeiger darauf. Sie tickte sehr schnell und leise vor sich hin und Myrie meinte sie sachte vibrieren zu fühlen. Das Zifferblatt war unter einer abgerundeten Glasfläche und von einem Metallrahmen umgeben, der die eigentliche Verzierung der Uhr darstellte. Er stellte auf sehr abstrakte Weise eine Blume dar. An der Seite der Einfassung war ein kleines Metallrädchen zugänglich.
“Sie ist mechanisch. Das Rädchen hat zwei Einrastungen, wenn man es herauszieht. In der einen stellt man die Zeiger, in der anderen zieht man die Uhr auf.”, erklärte Sarina. Ein zurückhaltender Stolz klang in seiner Stimme mit.
“Man kann sie verstellen?”, fragte Myrie überrascht und gab sie Sarina zurück.
Sie hätte die Funktionsweise gern ausprobiert, aber sie befürchtete, dass sie etwas kaputt machen könnte, und sie fühlte sich nicht so, als hätte sie Zeit dazu. Sie wusste nicht, ob Sarina die Geduld hätte, die er für Myrie bräuchte, wenn sie sie erforschen würde.
“Ja.” Sarina grinste. “Es ist ein wenig präzises Zeitmessinstrument. Ein Erbstück. So etwas benutzt man eigentlich schon sehr lange nicht mehr. Aber ich mag die Uhr. Sie ist hübsch, sie braucht gar keinen Strom und macht daher auch nur tickende und nicht sirrende Geräusche. Wobei die meisten Uhren heute auch sehr still sind.”
“Ist in deiner Familie jemand gestorben?”, fragte Myrie, auf das Wort Erbstück Bezug nehmend.
Sarina schüttelte den Kopf.
“Also schon,”, räumte er ein. “Niemand, den ich kenne. Aber irgendwelche Vorfahren sicher. Ich habe die Uhr aber von meinem Großelter bekommen und das lebt noch. Wir nennen das dann trotzdem Erbstück.”
Myrie nickte.
Sarina befestigte die Uhr wieder an seinem Mantel und verstaute sie darin. Myrie lächelte bei dem Gedanken, eine Person mit einer solchen Uhr im Mantel zu kennen. Das gefiel ihr. Dann überkam sie Bewegungsdrang. Sie beschloss, dass die Äste des Baums ihr vertrauenswürdig genug vorkamen, ungesichert an ihnen herumzuklettern. Sie hatte durch langjährige Erfahrung ein gutes Einschätzungsvermögen dafür entwickelt. Sie sprang auf, balancierte einen Ast entlang, die Füße um die Längsrichtung biegend, sodass sie möglichst viel der Rinde unter den Sohlen fühlte, bis sie einen über ihr liegenden Ast mit ihren Händen umfassen konnte, auf den sie sich ohne Schwung mit einem Klimmzug hinaufzog. Sie kletterte den Baum hinauf, bis die Äste zu dünn wurden, um sie zu halten, aber weit sehen konnte sie dadurch trotzdem nicht. Sie hatte sich zum Schlafen anscheinend einen eher kleineren Baum im Verhältnis zu den anderen ausgesucht. Sie sah lediglich in die benachbarten Baumwipfel. Nur die Sonne konnte sie etwas genauer lokalisieren und fand so Sarinas Zeitangabe grob bestätigt. Sie kletterte wieder hinunter, ebenfalls ohne sich zu schwingen, ohne die Schwerkraft für sie arbeiten lassen, und lächelte, als sie wieder in ihrem Nest ankam.
“Bleiben wir den ganzen Tag hier?”, fragte Sarina.
“Ich denke, ich sollte zurück, um mit Merlin zu reden.”, sagte Myrie.
“Guter Punkt. Was hast du vor, ihm zu sagen?”
“Die Wahrheit.”, beschloss Myrie.
“Hmm. Meinst du wirklich, dass das so gut ist?”, fragte Sarina wenig überzeugt.
Myrie nickte. “Merlin mag mich. Ich mag ihn nicht anlügen.”, sagte sie.
“Verständlich. Aber meinst du nicht, Teilwahrheiten wären auch in Ordnung? So etwas, wie, wir würden nun in einem anderen Zimmer schlafen?”, schlug Sarina vor.
“Das ist keine schlechte Idee. An sich.”, überlegte Myrie. “Aber es ist keine Teilwahrheit. Wir schlafen nicht in einem anderen Zimmer.”
Sarina seufzte. “Ja, du hast recht.”, sagte er, “Mir gefällt es nur nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. Wir sollten sie niemandem sagen. Je weniger Bescheid wissen, desto kleiner ist das Risiko, dass jemand uns verrät.”
“Ich denke, es ist etwas, was wir Hermen sagen sollten. Und falls noch jemand davon mitbekommt, dass wir nicht in dem Zimmer schlafen, auch diesen. Aber Merlin möchte ich nicht anlügen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er uns nicht verraten wird.”, sagte Myrie, nicht nachgebend.
Sarina seufzte noch ein weiteres Mal. “Ich bin nicht glücklich damit.”, sagte er. “Aber da du überhaupt der Grund dafür bist, dass ich nun hier bin und das erste Mal seit Wochen wieder durchgeschlafen habe, werde ich das akzeptieren.”
Myrie nickte. Sie hätte ihm allerdings auch keine Wahl gelassen.
Myrie stellte fest, dass sie Daina nicht ausgeschlossen hatte aus der Menge der Leute, die sie im Zweifel anlügen würde. Sie wusste nicht so genau warum, aber obwohl sie Daina ebenfalls lieb gewonnen hatte, hatte sie den Eindruck, dass sie Daina eher anlügen könnte. Dennoch wünschte sie sich, dass Daina einfach nie nachfragen würde. Eigentlich wünschte sie sich, dass überhaupt nie jemand nachfragen würde.
“Wann willst du zurück? Und sollte ich mitkommen, oder meinst du, ich kann den Tag über hier bleiben? Heute ist ja unterrichtsfrei.”, erkundigte sich Sarina.
“Ich denke, du kannst hier bleiben. Du solltest dich ruhig verhalten und gut tarnen. Ich bin mir noch nicht sicher, worin die Gefahren des Waldes bestehen. Ich lasse dir meinen Trinkschlauch hier und bringe dir etwas zu essen mit. Es kann aber Abend werden, bis ich wiederkomme.”, sagte Myrie. Sie sprach während sie die Sätze im Kopf formulierte und nicht erst danach. Das strengte sie an und sie stockte mehrfach.
“Das ist lieb von dir. Morgen kehren wir dann vor dem Unterricht gemeinsam zurück, denke ich.”, sagte Sarina und betonte den zweiten Satz dabei als Frage.
“Mehr als eine Stunde früher. Ich habe vor der ersten Stunde Training.”, setzte Myrie Sarina in Kenntnis.
“Oh, was trainierst du?”, wollte er wissen.
“Orkando.”, antwortete Myrie, dankbar darum, dass sie das in einem Wort sagen konnte, seit Daina ihr erzählt hatte, wie die Kampfkunst hieß.
“Du bist schon ganz schön krass drauf.”, sagte Sarina und nickte langsam mit vorgeschobener Unterlippe. Es machte allerdings, anders als wenn Merlin oder Daina so etwas sagten, nicht den Eindruck, als wäre es ein Kompliment.
Sarina setzte sich um und streckte sich. Myrie verharrte einige Momente, bevor sie begann ihren alten Schlafsack einzupacken.
“Warum packst du ihn ein, du kommst doch wieder?”, fragte Sarina.
“Ich habe gern immer alles dabei. Und es könnte jemandem auffallen, dass die Tasche, wo er immer drin ist, andernfalls leer wäre.”, antwortete Myrie.
“Wohl eher nicht. So etwas fällt nicht auf.”, Sarina schüttelte den Kopf.
“Mir fällt so etwas auf.”, gab Myrie zurück.
“Besonders dir fällt außerordentlich wenig auf.”, widersprach Sarina.
Myrie sah ihm streng ins Gesicht, beinahe etwas wütend. “Mir fällt sehr viel auf. Nur nicht das Gleiche, wie den anderen.”, sagte sie fest.
Plötzlich hatte sie es eilig, wegzukommen und ihre Ruhe zu haben. Das Gespräch strengte sie an. Es machte auf sie einen unstrukturierten Eindruck: Sie konnte nicht vorher ahnen, wo es hingehen würde. Aber wenn es irgendwohin gegangen war, hatte sie kaum Zeit, dort zu verweilen, dann wechselte Sarina schon wieder in eine andere Richtung. Und nun kam dazu, dass Myrie sich beurteilt fühlte. Sie machte ihm keinen Vorwurf daraus. Aber sie sehnte sich nach einer Pause.
Sie überlegte, das Seil mitzunehmen, weil es vielleicht wohl sogar eher auffiele, wenn dieses fehlte, als dass bloß eine Tasche leer gewesen wäre. Auf der anderen Seite war es im entplusterten Zustand sehr dünn und wurde von ihrem Bauchtaschengürtel überdeckt, also entschied sie sich dagegen.
Sie ließ sich rückwärts vom Baum fallen, – Sarina sog erschrocken die Luft ein –, berührte im Fall mit den Händen den Baumstamm, dann stieß sie sich mit den Füßen vom Baum ab, sodass sie sich in der Luft drehte, sie auf den Füßen landete, und zum Abfangen des Schwungs schloss sie eine Rolle rückwärts an, aus der sie in einer Bewegung ein zweites Mal auf den Füßen landete.
“Bis später.”, rief sie den Baum hinauf und setzte sich in Bewegung.
“Myrie!”, rief Sarina ihr nach.
Myrie drehte sich um und blieb noch einmal stehen.
“Du kommst auch ganz bestimmt wieder?”, fragte Sarina voll Sorge.
“Natürlich.”, rief Myrie. Dann rannte sie davon.
Sie drosselte ihr Tempo erst ein wenig, als sie außer Sichtweite war, und außer Hörweite, vorausgesetzt, Sarina hörte nur andere Frequenzen und nicht auch wesentlich leisere Geräusche als Myrie. Sie lief durch den Wald. Nicht so schnell sie konnte zwar, aber doch rasch, ständig den Hindernissen des Waldes ausweichend, oder sich unter welchen hindurchschwingend. Zunächst war es einfach schön. Wenn sie sich auf dem Schulgelände bewegt hatte, hatte sie ständig Grenzen erreicht und hatte umkehren oder sich für eine neue Richtung entscheiden müssen. Nun musste sie nicht nachdenken. Sie konnte mit all ihren Sinnen hier sein, die dünnen Ästchen, die auf dem Boden verstreut waren, oder das Laub, das Gestrüpp und die Wurzeln in ihre Fußsohlen drücken spüren, die Berührung der Stämme, die sie streifte, auf der Haut, niedrige Äste, die an ihr entlangstreiften. Sie konnte fühlen, welche Muskeln sie anspannte und hatte ein Körpergefühl, wie lange nicht mehr.
Aber dann kamen ihr die Bedenken. Es war ein langer Weg zur Schule zurück. Zwei Mal am Tag diese Strecke mit Sarina gemeinsam zurückzulegen, der deutlich langsamer wäre als sie, würde sie Stunden kosten. Zwei vermutlich etwa. Es wäre sicher aus verschiedenen Gründen sinnvoller, einen näher an der Schule liegenden, passenden Baum zu suchen. Aber zum Aussuchen brauchte sie Sarina, weil sie keine Ahnung hatte, bis wohin die EM-Felder zu hören wären.
Ihr zweiter Gedanke betraf die Sicherheit. Natürlich könnte sie Sarina und sich gut gegen das Fallen absichern. Und anscheinend auch nicht völlig unerheblich dagegen, gefunden zu werden. Aber es war, wie sie vorhin schon überlegt hatte, nicht ohne Grund verboten, das Schulgelände zu verlassen. Sie fragte sich, auf welche Basis dieses Verbot baute, ob sie wirklich richtig lag. Oder ob auch gefährliche Tiere, die sie nicht schon aus Byrglingen kannte, Begründung für das Verbot waren.
Sie nahm sich vor, sich darüber zu erkundigen und sich so gut es eben ging zu schützen. Sich und Sarina. Aber wenn sie Omantra fragte, würde die KI vielleicht daraus schließen, was Myries Beweggründe dafür sein könnten und nachfragen. Omantra tat so etwas als Lern-KI, die Myrie sehr gut kannte. Omantra hätte nicht die Berechtigung Myries Vorhaben an Dritte weiterzumelden, es sei denn, Myrie schwebte in akuter Lebensgefahr. Aber Myrie wollte sich auch gar nicht erst mit Omantra über das Thema auseinandersetzen. Natürlich wusste Omantra über diesen ersten Ausflug Bescheid, weil sie Merlin angerufen hatte, aber Myrie fand, es sollte der einzige bleiben, über den die KI Bescheid wüsste.
Mit diesem Beschluss stand Myrie allerdings vor einem neuen Problem. Sie hatte keine Übung darin, Informationen über das Internet zu recherchieren, ohne Omantra direkt daran zu beteiligen. Sie könnte natürlich, doch bisher hatte sie es immer eher überfordert wegen der nicht einheitlichen Herangehensweise. Sie mochte lieber jemanden fragen. Aber abgesehen von Merlin wollte sie niemanden einweihen. Merlin allerdings schien ihr für dieses Problem keine so sehr qualifizierte Ansprechperson. Er könnte natürlich für sie recherchieren.
Myrie war schon fast soweit, ihn darum zu bitten, als ihr eine andere Lösung einfiel. Sie könnte Amon Krknschnock fragen und zwar vor dem Hintergrund, dass sie wissen wolle, in welche Gefahr sie sich damals begeben hätte. Das schien ihr eine stimmige und unauffällige Begründung zu sein, Erkundigungen einzuholen. Sie könnte es morgen Abend beim Spaziergang tun. Es fühlte sich unschön an, es nicht schon heute anzusprechen, aber das wäre vielleicht doch auffällig.
Als sie am Waldesrand ankam, kletterte sie ein stückweit auf einen Baum, um über das Dickicht hinweg auf das Schulgelände zu schauen. Es war eine gute Idee gewesen, nicht gleich zum Gitter zu laufen, stellte sie fest. Ein Ork und zwei Elben waren damit beschäftigt die im Boden verankerten Geräte abzumontieren, die das EM-Lichterspiel im Himmel erzeugt hatten. Myrie wartete eine ganze Weile, bis sie mit den Geräten in ihrer Umgebung fertig waren. Dann, als sie niemanden mehr sah, kletterte sie herab. Sie hätte sich lieber fallen gelassen, weil es schneller gegangen wäre, aber das hätte mehr Spuren erzeugt. Sie huschte durch die selbe Stelle des Dickichts, durch die sie gekommen war, rannte schnell und möglichst leise zum Gitter und schwang sich mit zwei Sprüngen hinüber. Auf dem Boden angelangt, bewegte sie sich nicht mehr rasch, sondern möglichst, als würde sie zufällig hier entlang spazieren. Ihr Herz allerdings schlug ihr bis zum Hals. Sie holte Omantra aus dem Suspend, um herauszufinden ob Merlin ihr geantwortet hatte, aber er ließ sie nur wissen, dass er ihre Nachricht bekommen hatte. Sie ging ohne Umschweife zu ihrem Zimmer, das sie aber leer vorfand. Als nächstes probierte sie ihn, in der großen Halle zu finden, in der viele Leute mit Abbauarbeiten beschäftigt waren. Sie hätte gern auch ihren Anteil geleistet und war auch aus diesem Grund jetzt schon aus dem Wald zurückgekehrt, aber Merlin zu sprechen hatte Vorrang. Sie sah sich in der Halle um, konnte ihn aber nicht entdecken.
“Omantra, könntest du ein Telefonat zu Merlin aufbauen?”, fragte sie die KI.
“Ich versuche es.”, antwortete Omantra. Die KI hatte sich bisher ruhig verhalten und nichts zu ihrem Waldausflug gesagt.
Myrie ging zurück auf den Gang, wo etwas weniger Betrieb war, und wartete, bis Merlin sich meldete.
“Myrie!”, hörte sie ihn schließlich durch ihre Hinterohrhörer sagen, oder beinahe rufen.
“Wo bist du? Können wir uns treffen? Ungestört?”, fragte Myrie hastig.
Sie spürte, wie unangenehm aufgeregt sie war. Ihr Herz pumpte immer noch sehr schnell Blut durch ihren Körper und sie fühlte den Puls deutlich in ihrer Brust. Sie versuchte ruhig zu atmen, aber es gelang ihr nicht.
“Ich brauche noch einen Moment, bis ich fertig bin mit den Schrauben. Ich glaube, unser Zimmer ist leer, wenn Sarina noch nicht zurück ist. Ich komme danach dahin, ja?”, schlug er vor.
Und dann überkam es sie wieder. Sie konnte nicht mehr sprechen. Dabei musste sie doch antworten, sonst wüsste Merlin nicht Bescheid, dass sie einverstanden wäre. Aber so sehr sie es versuchte, es war, als hätte sie vergessen, wie sie Sprechen ansteuern könnte.
“Myrie?”, fragte Merlin.
Myrie holte tief Luft. Vielleicht hörte er es. Sie hatte vor einer Weile mit dem Atmen aufgehört. Sie schloss die Augen und versuchte etwas zu sagen, aber es gelang ihr nicht.
“Hey.”, sagte er sanft und leise. “Ich bleibe einfach in der Leitung. Und wenn du nichts weiter sagst, dann komme ich gleich in unser Zimmer.”
Sie nickte, auch wenn er davon nichts mitbekommen würde und ging langsam und etwas zittrig zurück zum Zimmer. Sie musste nur kurz warten, bis Merlin dazu kam.
“Ich habe nun auch einen Hinterohrhörer und mein Profil so eingestellt, dass ich immer mitkriege, wenn du anrufst, selbst wenn ich gerade Anrufe generell auf stumm schalte.”, sagte er, setzte sich in eine Ecke seines Bettes und klopfte einladend auf seine Matratze.
“Omantra, ich möchte auch, dass Merlin mich immer erreichen kann.”, beschloss Myrie.
“Soll ich auch aus dem Suspend hochfahren, falls er anruft?”, fragte Omantra nach.
Myrie machte das Zeichen für Zustimmung in Gebärdensprache. Sie grinste bei dem Gedanken, dass es eine unscheinbare Geste war, und Merlin von diesem zweiten Teil des Dialogs wahrscheinlich nichts mitbekommen hatte.
“Möchtest du irgendwelchen weiteren Personen diese Rechte gewähren?”, fragte Omantra.
Myrie buchstabierte den Namen Sarina. Merlins Blick fiel bei dem langen Namen doch auf Myries Hand und er hob vielsagend die Augenbrauen.
“Du übst es, um lautlos mit Omantra zu kommunizieren?”, fragte er, als ihre Hand sich wieder entspannte.
Myrie nickte. Diese vielen Wechsel der Kommunikation zwischen akustisch, mit der Hand oder mit dem Kopf machten sie etwas wuselig.
“Erzählst du mir jetzt, wo du letzte Nacht warst?”, fragte Merlin.
“War Hermen da?”, fragte Myrie statt zu antworten.
“Nein.”, antwortete Merlin.
Myrie atmete erleichtert aus und nahm endlich Merlins Einladung an, sich zu ihm aufs Bett zu setzen. Sie setzte sich allerdings nicht mit dem Rücken zur Wand, sondern so, dass sie ihm gegenüber saß. Zum Glück saß er an der schmalen Bettkante an die Wand gelegt, sodass sie viel Platz dazu hatte.
“Sarina hört die EM-Felder. Ohrenstöpsel”, Myrie unterbrach ihren Bericht kurz, um sich darauf zu konzentrieren, auch wirklich das richtige Pronomen zu verwenden, und fuhr fort, “helfen ihm nicht, weil er dadurch zu viel Druck auf dem Kopf bekommt.”
Merlin nickte, die Stirn runzelnd. “Habt ihr die Nacht dann außerhalb des Schulgeländes verbracht?”, fragte er.
“Ja.”, sagte Myrie und nickte. Merlin sagte einen Moment zu lange nichts, und das machte Myrie sehr nervös.
“Ist Sarina immer noch da draußen?”, fragte er schließlich.
Myrie nickte wieder. Merlin schien ungewöhnlich ernst.
“Bleibt er den ganzen Rest das Tages dort?”, wollte er wissen.
“Und die kommende Nacht.”, ergänzte Myrie.
“Und morgen früh vor deinem Training holst du ihn ab?”, schloss er.
“Ich übernachte auch dort. Ich breche heute Abend auf und bringe was zu Essen mit.”, korrigierte Myrie.
Merlin sog die Luft geräuschvoll ein und atmete dann langsam wieder aus. “Glaubst du, dass das nötig ist?”, fragte er schließlich.
“Ich möchte gern in Zukunft die Nächte im Wald verbringen. Ich möchte mich bei Amon Krknschnock über die Gefahren informieren, und wenn es mir irgendwie vertretbar erscheint, würde ich gern die Schulregeln brechen und außerhalb schlafen. Ich fühle mich so eingesperrt hier drinnen.”, brach es aus ihr hervor.
Sie weinte fast, merkte sie. Merlin rückte etwas näher, sodass er auch nicht mehr an der Wand lehnte. Er saß im Schneidersitz ihr gegenüber, so nah, dass ihre Knie sich fast berührten, der Rücken etwas, aber nicht sehr gekrümmt. Er streckte die Hände nach ihren aus und nahm sie mit fragendem Blick vorsichtig in seine. Er griff sie auf eine Weise, dass sie sie ohne sich schlecht zu fühlen, einfach wieder hätte wegziehen können. Seine Hände waren warm und er strich mit seinen Daumen über ihre Daumen. So verharrten sie einen Moment ruhig und Myrie hatte Zeit, sich in die Situation hineinzufinden und sich zu überlegen, ob sie es mochte. Sie senkte den Kopf, schloss die Augen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihr Gefühl in den Daumen. Sie fühlte, wenn Merlins Daumen eines ihrer Daumengelenke passierten, und sie mochte besonders, wenn seine Daumen an der Stelle vorbeiwanderten, wo ihr Handgelenk ansetzte.
“Oh je, Myrie.”, seufzte er schließlich leise in die entstandene Stille hinein. “Zuerst dachte ich, wir müssten vielleicht für Sarinas Problem versuchen eine alternative Lösung zu finden, als die Schulregeln zu brechen, aber nun scheint mir dein Problem viel komplizierter, weil es quasi gar keine andere Möglichkeit bietet, als das zu tun. Wie kommt es, dass du es bis jetzt aushalten konntest?”
“Fällt dir für Sarina eine ein?”, fragte Myrie, ohne auf die Frage einzugehen. Sie speicherte sie im Hinterkopf, um später darauf zurückzukommen.
“Noch nicht. Wir könnten versuchen, die Einrichtungen in diesem Zimmer weniger elektromagnetisch zu gestalten. Ich meine, es gibt ja auch Betten, die keine EM-Feldbetten sind. Es gibt sogar Hochbetten. Aber ich würde damit rechnen, dass Sarina schon schalldichte, EM-Feld-freie Räume dieser Schule getestet hat und herausgefunden hat, dass die Dämpfung nicht ausreicht. Das sollten wir trotzdem erst einmal herausfinden.”, sagte er.
Myrie nickte. Auf diese Idee war sie tatsächlich noch nicht gekommen. Nicht so richtig. Sie war gedanklich eher in die Richtung gegangen, die EM-Felder auszuschließen und nicht Sarina zu isolieren.
“Würdest du Lehrkräfte fragen?”, fragte Myrie.
Merlin überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. “Höchstens indirekt und sehr vorsichtig. Das Risiko wäre mir zu hoch, dass sie Sarina hier nicht länger unterrichten würden.”, erklärte er und kam damit zu dem Schluss, zu dem Myrie auch bereits gekommen war.
“Wo wart ihr denn genau?”, fragte Merlin.
“Da, wo ich das letzte Mal auch geschlafen habe. Da war ja noch mein alter Schlafsack.”, sagte Myrie. “Aber ich denke, wir werden uns einen näheren Baum suchen. Der alte Schlafplatz ist zu weit weg.”
Merlin nickte. “Du kannst meinen haben. Dann bestelle ich mir einen neuen.”, sagte er, zögerte kurz und überlegte dann: “Es gilt, glaube ich, auch, je näher am Schulgelände, desto sicherer.”
Myrie zog ihre Hände aus seinen. Allmählich waren die Stellen, die er gestreichelt hatte, so sensibel, dass es beinahe brannte. Sie drehte sich nun doch mit dem Rücken zur Wand und lehnte sich an. Die Wand kühlte ihre Schulterblätter auf angenehme Weise.
“Ich bin schon in der Lage, es auszuhalten, mich immer nur in den Grenzen des Schulgeländes zu bewegen, aber es fühlt sich sehr beengend an und ich möchte einfach nicht mehr. Meine größte Angst ist, dabei von Hermen erwischt zu werden. Also eigentlich überhaupt erwischt zu werden, aber Hermen bereitet mir da am meisten Sorge.”, sagte sie.
Sie stellte fest, dass sie ganz schön müde war. Die vergangenen Tage hatten sie sehr angestrengt.
“Zurecht.”, sagte Merlin und schwieg.
Myrie zog die Knie an, legte ihre Arme darum, das Kinn in die Ritze zwischen den Knien und schloss die Augen. Das Zimmer war beheizt, aber noch nicht so, dass es ihr unangenehm war. Sie dachte daran im Zusammenhang mit Sarina, dass auch Heizmethoden meistens über EM-Felder funktionierten, und natürlich wegen der Eigenart von Wasser, lange Wärme zu halten, über Wasserleitungen. Und dabei kam ihr wieder der Gedanke, dass es immer kälter werden würde, weil der Winter nahte, und die Bäume ihnen zusammen mit den Schlafsäcken sicher noch eine Weile Schutz bieten würden, aber sie früher oder später wohl doch eine neue Lösung brauchen würden. Vielleicht kamen die Winterferien rechtzeitig und überbrückten die schlimmste Kälteperiode. Aber würde Sarina in der Zeit nach Hause fahren? Das wusste Myrie natürlich nicht. An den Wochenenden fuhr er jedenfalls nicht nach Hause.
“Sarina hat vorgeschlagen, wir sollten Hermen erzählen, dass wir das Zimmer gewechselt hätten und nun in einem anderen schlafen würden.”, sagte Myrie.
“Wir sollten uns noch etwas einfallen lassen, warum das ausgerechnet jetzt passiert ist, sonst kauft Hermen euch das vielleicht nicht ab.”, gab Merlin zu bedenken.
“Klingt sinnvoll.”, sagte Myrie, dachte einen Augenblick nach und öffnete die Augen wieder. “Ich bin nur sehr schlecht in so etwas.”
Merlin lächelte. “Das dachte ich mir. Ich schaue mal, ob mir etwas einfällt.”, sagte er und strich seine Hosenbeine glatt. “Außerdem sollte, wenn wir bei der Begründung bleiben, Sarinas Gepäck hier verschwinden.”
Myrie nickte. Es kam ihr nun nicht mehr nur aus Gründen der Ehrlichkeit nach einer guten Idee vor, Merlin eingeweiht zu haben.
“Ich denke, mein Rückzugsspielraum ist ein guter Ort zur Lagerung der Sachen.”, überlegte Myrie.
“Auf der einen Seite ja, weil niemand außer die Zutritt hat. Auf der anderen müsstest du dann Sarina dauerhaft Zutritt gewähren, und dann könnte es passieren, dass du ihn mal brauchst, aber durch Sarina gestört wirst.”, warnte Merlin. “Ich habe einen Aktenschrank im Raum mit dem Flügel gefunden, der, so verstaubt wie er und die Sachen darin waren, wohl in den letzten Jahren nicht geöffnet worden ist. Ich denke, dort sind sie gut untergebracht.”
Myrie nickte. “In Ordnung.”, sagte sie.
Merlin sprang auf und begann Sarinas Sachen in dessen Koffer zu packen. “Ich würde so etwas normalerweise nicht tun. An anderer Leute Kram gehen, meine ich. Aber besser es ist weg, bevor Hermen wiederkommt. Er hat anscheinend die Nacht mit einem Geschicklichkeitsspielwettbewerb verbracht und einfach durch gemacht. Der ist bestimmt bald vorbei.”, verteidigte Merlin seine Handlungen.
Myrie stand auf und sah auch noch einmal alle Schrank- und Regalfächer durch, ob sie irgendwo noch etwas von Sarina fand. Dann brachen sie zum Musikraum auf. Myrie trug den Koffer. Ihr war unwohl dabei, weil sie von vielen gesehen wurden. Aber viele von denen, die sie sahen, waren selbst damit beschäftigt, irgendetwas hin- oder herzutragen, sodass sie gar nicht weiter auffielen. Myrie befürchtete, dass der Musikraum gar nicht leer sein könnte, aber sie hatten Glück. Der Aktenschrank, den Merlin ihr zeigte, enthielt unter anderem weitere von den Büchern, die sie schon bei ihrem ersten Besuch in diesem Raum gesehen hatte. Merlin zeigte ihr, dass es alte Notenbücher waren. Andere Regalfächer standen voll mit Aktenordnern, von auf Papier gedruckten Noten. Und dann lag da etwas Modernes, das Myrie bekannt vor kam und sie deutete darauf, um Merlin zu fragen, was es war, doch er war schneller mit antworten, als sie mit dem Ausformulieren einer Frage.
“Das ist ein Teil meiner Musikanlage, quasi eine kleine Musikanlage. Die lagere ich nun eine zeitlang hier, weil ich damit den Flügel begleite und aufnehme.”, sagte er und grinste dabei.
Das untere Fach war größer als die anderen und leer. Hier fügte sich Sarinas Koffer mit Leichtigkeit ein. Sie schlossen den Schrank wieder und gingen zurück auf den Flur, wo sie verharrten.
“Was hast du jetzt vor? Willst du möglichst schnell wieder zurück?”, fragte Merlin.
“Ich wollte an sich noch wenigstens etwas beim Abbau helfen.”, widersprach Myrie.
Ihr spukte noch das ungelöste Problem im Kopf herum, was sie noch Hermen sagen würden. Merlin schlug vor, sie zu dem Ort mitzunehmen, wo er zuletzt Schrauben gelöst hatte, und Myrie überlegte, dass das wohl die beste Idee wäre.
Beim Abbau fühlte sie sich ähnlich unnütz wie beim Aufbau und noch dazu unkonzentriert. Auf der anderen Seite verkomplizierte sie Dinge wenigstens nicht, sondern stand lediglich in Merlins Nähe herum, in der Hoffnung, vielleicht doch irgendwann etwas beitragen zu können. Merlin summte vor sich hin, während er Schrauben löste und Dinge sortierte. Schließlich wurde es Myrie zu viel und sie verabschiedete sich. Merlin versprach, sich zu melden, wenn ihm eine Begründung für Hermen eingefallen wäre.
Myrie druckte einiges an gut transportablem, kompaktem Essen, dass sie in essbare Brotdosen tat und in zwei weniger volle ihrer Taschen steckte. Es war ihr etwas unangenehm, wie sehr diese dadurch ausbuchteten. Dann verließ sie das Gebäude. Sehr feine Tröpfchen hatten sich in der Luft gebildet, sodass man es gerade so nicht Nieselregen nennen konnte. Sie mochte die kühle Feuchte auf der Haut und freute sich, sie die ganze Nacht spüren zu können. Sie atmete tief ein und schloss die Augen, bevor sie sich hinter das Gewächshaus begab. Dort passte sie gut auf, dass sie niemand dabei sehen würde, und schwang sich dann wieder mit Anlauf in zwei Sätzen über das Gitter, kam leichtfüßig auf, und huschte durch die gleiche Stelle in den Wald, durch die sie ihn schon gestern betreten und heute verlassen hatte. Hinter dem Dickicht wurde sie rasch langsamer. Sie ging nicht den direkten Weg zurück, sondern machte hierhin und dorthin Schlenker um den Wald etwas näher zu erkunden. Es gab nahe des Schulgeländes noch einige weitere eingefallene Häuser wie das, in dem sie damals den Flederfluff gezeigt bekommen hatten. Myrie überlegte kurz, ob ein solches eine gute Unterkunft hergeben würde, aber sie befürchtete, dass sie regelmäßig nach Flederfluff-ähnlichen Wesen durchsucht würden, die dann im Unterricht gezeigt werden könnten. Sie wären dort nicht sicher vorm entdeckt werden.
Doch nur wenig tiefer im Wald wurde sie fündig. Hier gab es Stellen des Waldes, die bereits in Standhöhe durch Büsche und niedriges Geäst zugewuchert waren, oder durch verkümmerte, junge Bäume, denen umgefallene Bäume den Weg nach oben versperrt hatten. Hier würde niemand zufällig entlang spazieren, und würde man eine Route über einige Baumstämme ins Geäst nehmen, so gäbe es auch keine Spuren. Myrie suchte sich einen Ort am Ende eines umgefallenen Baums aus, über den sie fast gehen konnte, wie über eine Brücke. Genügend Äste waren seitlich am Baumstamm gewachsen, die nun nach oben ragten, an denen man sich gut festhalten könnte. Der Baum war lang und endete in einem von niedrigem Gestrüpp umwucherten Busch, dessen Astwerk einen Hohlraum in seinem Inneren bot. Myrie mochte diesen Ort, aber bevor sie ihn endgültig aussuchte, musste natürlich herausgefunden werden, ob Sarina hier die EM-Felder nicht mehr hörte.
Den übrigen Weg zu ihrem alten Versteck zurück, in dem Sarina warten würde, legte sie nun wieder laufend zurück. Ihr Magen knurrte dabei, aber es störte sie nicht. In Gedanken war sie noch bei ihrem gerade neu gefundenen Versteck. Sie überlegte, wie sie es einrichten könnte, sodass es vielleicht sogar im Winter genug Schutz vor Kälte bieten könnte.
Als sie ihren Baum erreichte, schlief Sarina. Myrie setzte sich an einen der dicken Äste gelehnt neben ihn und beobachtete ihn dabei. Sie lauschte auf die Geräusche des Waldes und spürte Feuchte auf der Haut, die sich darauf niederlegte, und den Wind, der sachte durch die Baumwipfel hin- und herstrich, und die akustische Variante von Flimmern oder Glitzern in den Blättern hervorrief. Sie packte eine der Brotdosen aus und begann, zu Abend zu essen. Sarina räkelte sich und öffnete die Augen.
“Hast du mir auch was mitgebracht?”, fragte er mit verschlafener Stimme, die etwas sehr Behagliches an sich hatte.
Myrie nickte und reichte ihm die zweite Dose.
“Ich bin eigentlich zu müde zum Essen. Aber ich habe Hunger.”, sagte er und nahm sie entgegen.
Er schälte sich bis zur Hüfte aus Myries Schlafsack, setzte sich aufrecht hin und öffnete die Dose. Doch bevor er anfing zu essen, blickte er noch einmal auf. “Danke. Danke für alles.”, sagte er ernst.
Myrie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also sagte sie nichts.
“Auch, dass ich deinen Schlafsack benutzen darf. Er ist wirklich gemütlich.”, sagte er und schob sich ein Stäbchen zwischen die Zähne. Es knackste leise, als er abbiss.
Er sagte nichts weiter. Sie aßen still, warfen sich immer wieder Blicke zu. Seine Augen wirkten lebendiger als sonst, und das, obwohl er so müde war. Das ergab unter den gegebenen Umständen Sinn, überlegte Myrie. Sein angestrengter Gesichtsausdruck gehörte also nicht einfach zu ihm, sondern war Ergebnis davon, dass er ständig unangenehme Geräusche gehört hatte.
“Merlin fragt, ob du schon ausprobiert habest, ob es schalldichte Räume in der Schule gäbe, in denen du nichts hörst.”, fiel Myrie ein.
“Habe ich ohne Erfolg ausprobiert. Was sagt er noch? Hält er dicht?”, fragte Sarina mit Unbehagen.
“Er meint, wir sollten uns für Hermen auch einen Anlass ausdenken, warum wir gerade jetzt in ein anderes Zimmer umgezogen wären. Er hat außerdem geholfen, deinen Koffer zu verstecken. Der befindet sich im Musikraum ganz oben im Trakt mit dem Haupteingang.”, sagte Myrie.
Sarina atmete erleichtert aus und dachte kurz nach. “Nun ja, wir sagen, es wäre ein Zweierzimmer frei geworden, weil zwei ältere Lernende die Schule verlassen hätten. Das wurde dir dann angeboten. Du hast doch ganz am Anfang nach einem Einzelzimmer gefragt, wenn ich mich recht erinnere und hast auch schon einen Rückzugsraum für dich. Das passt doch dazu, oder?”, schlug Sarina vor.
Myrie nickte langsam. Sie hatte eigentlich noch gar nicht darüber nachgedacht, ob sie die Idee gut fand. Stattdessen war sie überrumpelt davon, dass Sarina so viel über sie wusste. War, dass sie nach einem Einzelzimmer gefragt hatte, oder dass sie einen Rückzugsspielraum für sich hatte, ein allgemein bekannter Umstand, oder hatte lediglich Sarina sie genau beobachtet?
Dann dachte sie über den Vorschlag nach und beschloss, dass er tatsächlich gut war. Vor allem, wenn ersteres zutraf und die Umstände um Myries Möglichkeiten des Rückzugs tatsächlich verbreitetes Wissen waren.
Sie überlegte, ob sie Merlin anrufen sollte, aber dann würde sie wieder Omantra wecken müssen. Das musste sie auch dringend ändern. Der Umweg über Omantra zum Telefonieren war ja nicht notwendig.
Wenn Merlin anriefe, glaubte sie, würde nun nach den neuen Einstellungen Omantra nicht geweckt werden, zumindest nicht vollständig, aber sicher war sie sich nicht. Sie würde es einfach abwarten.
Merlin rief an, als es im Wald bereits dunkel war. Es mochte vielleicht ein oder zwei Stunden vor Mitternacht sein, und Sarina schlief längst wieder. Myrie hatte auf dem Rücken gelegen und dem Blattwerk bei seiner steten Bewegung in der Dunkelheit zugesehen. Sie hatte auch überlegt zu schlafen, aber war zu dem Schluss gekommen, lieber zunächst den Anruf abzuwarten. Wie sie es sich überlegt hatte, glitt sie so lautlos und rasch, wie möglich vom Baum und nutzte zur Abwechslung das Seil, weil sie so leiser sein konnte. Dann entfernte sie sich im Laufschritt leise vom Baum, den Weg zum Bach einschlagend, und unterhielt sich mit Merlin. Es herrschte eine viel weniger ernste Atmosphäre in ihrem Gespräch, als vorhin.
“Hermen ist immer noch nicht aufgetaucht, aber hat zwischendurch angerufen. Anscheinend geht deren Geschicklichkeitswettbewerb immer noch. Als er anrief, hatte er sich gerade zum Vorfinale qualifiziert.”, erzählte Merlin.
Myrie hatte noch nie erfolgreich an einem Wettbewerb teilgenommen. Sie hatte es ein paar Mal versucht in der Zeit, in der sie Lern-Virtualitäten ausprobiert hatte, doch selbst im Klettern war sie nicht erfolgreich gewesen. Das Klettern in diesen Wettbewerben war aber auch ganz anders als das Klettern, das sie normalerweise tat. Entweder es war um Geschwindigkeit gegangen, und Myrie mochte sich eigentlich lieber Zeit lassen. In der Realität lohnte das Eilen auch aus anderen Gründen nicht. Sie musste als einzelne Person für das Sichern mangels Haken viele Strecken doppelt zurück legen, um alte Ankerpunkte gegen neue einzutauschen.
Oder es ging darum, möglichst komplexe Kletterstrecken zu bewältigen. Kletterstrecken dieser Art mied sie aber in der Realität, weil sie selten überhaupt Sicherungsmöglichkeiten boten. In einer Virtualität war Klettern ohne Sicherung natürlich an der Tagesordnung, weil diese durch die Virtualität garantiert wurde, und auch das war Myrie überhaupt nicht gewöhnt. Es hatte sie damals zumindest sehr irritiert.
“Myrie”, sagte Merlin und Myries akustische Erinnerung an die kürzlich gehörten Geräusche, die sie nicht bewusst wahrgenommen hatte, ergab, dass er ihren Namen gerade schon häufiger gesprochen hatte.
“Ich war in Gedanken woanders.”, sagte sie entschuldigend.
“Wo denn?”, fragte er neugierig.
Sie erzählte es ihm, während sie sich an einen Baum am Bach lehnte und ihre Füße in das kalte, in der Dunkelheit dahinplätschernde Nass hielt. Sie erzählte ihm auch von Sarinas Vorschlag, was sie Hermen sagen würden, und Merlin stimmte ihm zu.
“An so etwas hatte ich auch in etwa gedacht.”, sagte er.
Sie telefonierten, bis Hermen endlich ins Zimmer zurückkam. Sie hatten zuvor schon ausgemacht, dass Merlin in diesem Fall behaupten würde, es wäre Fadja, mit der er gesprochen habe, weil es doch auffällig wäre, wenn Myrie und Merlin miteinander telefonierten statt sich zu treffen, während Myrie vermeintlich in der Schule war.