Der Schutz der Bäume
Von allen, die am Ehrenberg-Internat ausstiegen, war Myrie die letzte Person, die den Zug verließ. Sie blieb zunächst neben dem Zug stehen um sich zu orientieren. Sie hatte den Plan des Bahnhofs und der Umgebung im Kopf und beschloss zu warten, bis alle weg waren und sich dann selbst zu organisieren. Sie wollte für ein paar Augenblicke genießen, vorübergehend allein zu sein.
Außer ihr waren 7 weitere aus dem Zug ausgestiegen: Merlin und Hermen, die zwei älteren aus der ersten Kapsel und die drei anderen aus der dritten Kapsel. Myrie beobachtete, wie sich die Gruppe um die älteren zusammensammelte. Sie fragte sich kurz, ob das zufällig passierte, oder ob sie einfach alle gesellig waren, aber dann bemerkte sie, wie die beiden älteren entsprechende Gesten machten. Myrie fragte sich, ob sie sich da doch zugesellen musste, aber ihr fehlte im Moment wirklich die Kraft. Aus den Gesprächsfetzen, die bei ihr ankamen, bekam sie mit, wie die beiden älteren sich als Lehrkräfte vorstellten. Soweit Myrie es mitbekam sagten sie aber weiter nichts Wichtiges, sondern führten die anderen Kinder bloß in den Aufzug.
Myrie blieb, wo sie war, während der Zug sich allmählich wieder in Bewegung setzte und im Tunnel verschwand. Merlin winkte energisch, sie möge folgen, doch sie schüttelte den Kopf, und schließlich verabschiedete er sich von den anderen im Aufzug und stieg wieder aus. Auch der erwachsene Mensch folgte, bevor der Aufzug endlich die Türen schloss. Er wartete geduldig neben dem Aufzug, während Merlin zu Myrie zurückging.
“Was ist los?”, fragte er.
“Ich wollte eigentlich ein bisschen für mich sein und die Treppen nehmen.”, antwortete Myrie.
“Oh. Entschuldige. Ich wollte mich gar nicht aufdrängen, ich hatte mir nur Sorgen gemacht.”, erwiderte Merlin.
Myrie erinnerte sich daran, dass sie ja nicht abweisend wirken wollte, und dass sie gerade dabei war eine Person wegzuschicken, die die bisher besten Chancen hatte, ein Herzwesen zu werden.
“Ist schon in Ordnung.”, sagte sie. “Du kannst mitkommen. Nur wird das vermutlich mit dem Gepäck anstrengend.”
Sie warf einen Blick auf den Treppenhauseingang und wünschte sich, endlich das Treppenhaus zu betreten. Große Treppenhäuser hatten etwas Beruhigendes an sich, fand Myrie. Merlin folgte ihrem Blick.
“Überhaupt solltest du dir das überlegen, ob du die ganze Strecke Treppen steigen möchtest.”, mischte sich nun der Lehrer ein. “Wir sind hier unter den ersten Anhöhen eines hohen Berges, und der Zug ist nicht steil bergauf gefahren, während der Berg anstieg. Es sind 60 steile, lange Treppen. Aber wir können nach jeder zweiten Treppe natürlich den Aufzug rufen. Zwei Treppen entsprechen etwas mehr als einem durchschnittlichen, an Menschen orientierten Stockwerk”
“Wir? Würdest du denn mitkommen?”, fragte Myrie.
“Ich würde euch zwei Treppen Vorsprung geben, damit ihr euch unterhalten könnt ohne mich direkt dabei zu haben, sofern ihr denn überhaupt Puste dazu habt. Aber ich würde schon gern in der Nähe sein, falls etwas passiert. Bei Lernenden, die das erste Mal hier sind, ist mir dabei wohler.”, antwortete er.
Er wirkte freundlich, dachte Myrie. Blieb noch die Frage mit dem Gepäck. In diesem Augenblick kam der Aufzug zurück und ein Gestell fuhr eigenständig auf den Lehrer zu.
“Darauf kann dein Koffer nach oben fahren, wenn du laufen möchtest. Wenn du doch nicht möchtest, kannst du natürlich auch gleich mitfahren.”, erklärte der Lehrer.
Merlin überlegte kurz, dann sagte er: “Mir kann ja nichts passieren. Ich versuche auch mal die Treppe.”
Der Mann gab dem Gepäckfahrzeug nickend ein Zeichen, worauf es zu Merlins Koffer fuhr, ihn auflud und zurück in den Aufzug rollte.
Myrie schritt als erstes zur Tür und hielt sie den anderen zweien auf. Im Treppenhaus blieb sie einen Augenblick stehen, um die Atmosphäre des Treppenhauses in sich aufnehmen. Auch der Bahnhof in Byrglingen hatte ein Treppenhaus, aber dieses war völlig anders. Es war ein in den Fels gehauener Schacht, in den steile, schwarze Treppen eingelassen waren, die leicht glitzerten. Die Treppenstufen hatten eine raue Oberfläche, waren alle genau gleich und perfekt. Die Wände hingegen sahen an jeder Stelle anders aus. Es war grobes, zwergentypisches Handwerk, das erkannte Myrie. Sie würde den ganzen Weg herauf beobachten können, wie das Gestein des Berges sich veränderte.
Die Luft war kühl und feucht, und roch etwas salzig, aber nicht, wie das Meer salzig roch, dessen Geruch Myrie aus dem Olfaktorischen Emitter ihres Spielraums kannte. Es hatte eine Art blumigen Beigeruch, fand Myrie. Ihr gefiel dieses Treppenhaus. Der Lehrer, den Namen hatte sie schon wieder vergessen, und Merlin hatten geduldig gewartet, bis sie den Eindruck in sich aufgesogen hatte. Nun aber trat Myrie zwei Stufen auf einmal nehmend den Aufstieg an. Das tat gut. Ihre Muskeln brauchten nach dem langen Sitzen im Zug diese Bewegung.
Merlin folgte ihr, ebenfalls zwei Stufen auf einmal nehmend, doch schon nach drei Treppen schnaufte er heftig. Und nach wenigen weiteren machte er eine Pause, während er nach Luft rang.
“Myrie, ich muss langsamer steigen.”, rief er hoch, sobald er wieder konnte.
Myrie hielt nun ebenfalls inne, hin- und hergerissen dazwischen, Merlin nicht allein zu lassen, und ihren Körper zu fordern und endlich allein zu sein. Sie lief zurück und kam auf eine dritte Idee. Sie könnte auch jede Treppe dreimal benutzen, und auf diese Weise gleich auf bleiben, sich aber mehr bewegen. Das tat sie dann auch, ging aber bald über zu einer anderen Taktik, nicht jede Treppe dreimal zu benutzen, sondern jede Stufe mehrfach, indem sie wippte und hopste und dabei die Füße wechselte. Merlin wirkte beeindruckt und vielleicht auch verwirrt, aber er sagte nichts. So stiegen sie wortlos die vielen Treppen empor. Die Stille tat Myrie gut. Selbst Merlins Atem ging nun zwar immer noch sehr schnell, aber gleichmäßiger. Er würde womöglich morgen schlimmen Muskelkater haben, überlegte Myrie. Sie selbst hatte nur sehr selten Muskelkater. Zuletzt, als sie einen steilen Hang hinaufgeklettert war, dessen Höhe sie unterschätzt hatte, aber sie dennoch nicht zwischendurch hatte umkehren wollen.
Und dann, viel zu früh, waren sie oben. Das Treppenhaus mündete, wieder durch eine Tür getrennt, in einen breiten Tunnel, dessen Boden aus dem gleichen Stein war, wie die Treppen, und dessen Wände ebenfalls in den Fels gehauen waren. Allerdings waren hier die Kanten herausgearbeitet worden, sodass die Wände und Decke den Eindruck gefrorener Wellen aus Stein machten. Es war auch wesentlich trockener als das Treppenhaus und der angenehme Salzgeruch war einem anderen gewichen. Etwas Wald mischte sich da hinein, dachte Myrie, aber nicht der eines Nadelwaldes. Merlin hatte sich gegen die Wand gelehnt und atmete laut und schnell, während Myrie sich umsah.
“Schön, nicht?”, sagte der Lehrer, der nun auch durch die Tür getreten war, und Myries Blick folgte. “Und du warst sehr tapfer.”, sagte er zu Merlin gewandt. “Sie hat dich ganz schön getrieben. Herzlichen Glückwunsch ihr beiden.”
Myrie sah den Mann leicht verärgert an. Sie hatte doch nicht getrieben. Sie hatte doch extra Umwege eingebaut, damit sie nicht schneller war. Aber wenn sie es recht bedachte, war sie doch immer etwas vor Merlin gewesen, das könnte ihn gehetzt haben. Ihr Gesicht glättete sich und sie wandte sich an Merlin.
“Wenn ich das habe, tut es mir leid.”, sagte sie.
“Schon okay.”, schnaufte er.
Also hatte sie tatsächlich getrieben. Scham stieg in ihr auf und sie bekämpfte das Gefühl mühsam. Warum passierte ihr so etwas? Warum bemerkte sie so etwas nicht? Aber auf der anderen Seite, warum hatte er nichts gesagt?
“Nun, diese Richtung führt direkt in den Keller der Schule.”, unterbrach der Lehrer ihre Gedanken und zeigte in eine Richtung, dann in die andere und fügte hinzu: “Diese führt nach draußen und wir stünden vor der Schule. Möchtet ihr noch einen Abstecher nach draußen machen?”
Myrie war schon drauf und dran, sofort zuzustimmen, doch dann dachte sie, sie könnte mal Merlin den Vortritt lassen und schaute zu ihm hinüber. Doch er schaute sie bereits an und wartete seinerseits, was sie sagen würde. So schwiegen sie einen Moment.
“Ich würde gern einen Blick nach draußen werfen, aber ich passe mich auch gern an.”, sagte Merlin schließlich.
Myrie antwortete mit einem breiten Grinsen. Und so folgten sie dem Lehrer den Gang entlang zu einer schweren Doppelschiebetür, die sich auftat, als sie sich näherten, und nach ihnen wieder schloss. Sie wirkte wind- und wetterfest und rollte in einer Vertiefung in Boden und Decke. Myrie schritt den anderen beiden voran eine letzte Treppe hinauf aus dem Tunnel ins Freie. Auch die letzten Stufen waren aus jenem schwarzen, leicht glitzernden Material und mündeten auf einem gepflasterten Platz vor einem monströsem Gebäude das Myrie in Staunen versetzte. Sie hatte zwar die Karte des Gebäudes und dessen viele Stockwerke im Kopf, aber hatte die Größenordnung falsch eingeschätzt. Die einzelnen Stockwerke waren viel höher als sie es erwartet hätte, und auch die Räume mussten eine größere Grundfläche haben, als sie gemutmaßt hatte.
Selbst in Virtualitäten war ihr kein beeindruckenderes Gebäude untergekommen. Das mochte natürlich daran liegen, dass sie sich nicht so sehr für Virtualitäten mit Zivilisation interessierte.
Dieses Gebäude war riesig, aber das allein war nicht die Ursache dafür, dass es so beeindruckend war. Es bestand zu großen Teilen aus dem schwarzen Material, wie die Stufen, aber an anderen Stellen auch aus weißem Stein. Es hatte riesige Fensterfronten, aber auch Wände, die komplett aus Stein bestanden. Und es wirkte so, als wäre es nicht in einem Stück gebaut worden, sondern wäre über die Jahre hinweg erweitert worden. Zwar war das allem Anschein nach im gleichen Stil geschehen, dennoch sahen die verschiedenen Gebäudeteile etwas aneinander gewürfelt aus.
Der gepflasterte Platz vor der Schule bestand ebenso aus diesen beiden Steinsorten und war auch ziemlich groß, wenn auch bei weitem nicht so groß, wie dieses Gebäude an Grundfläche einnahm. Vom Platz zweigten einige Wege ab, die sich in einer großen Rasenfläche verloren, die sich in seichten Hügeln dahinwölbte. Hin und wieder standen ein paar vereinzelte Bäume und Büsche darauf oder ein Gewächshaus, sodass Myrie das Gitter nicht sehen konnte, das das Gelände umzäunte.
Vor ihnen ging der Platz in ein mächtiges Eingangsportal über, bei dem Myrie sicher war, dass es der Haupteingang war. Die gläsernen Schiebetüren waren mehrere Meter hoch. Der Lehrer hatte sie eine ganze Weile lang staunen lassen, – Merlin staunte nicht minder –, aber nun forderte er sie auf, ihm zu folgen. Die gläsernen Türen öffneten sich für sie und ließen eine Geräuschkulisse heraus, die Myrie augenblicklich abschreckte. Sie wandte ihren Blick nach rechts, wo die Eingangshalle in einen riesigen Saal voller Leute führte, die sich dort alle austauschten und teilweise aßen. Myrie sah schnell wieder weg und hoffte, dass sie nicht gleich dort hinmusste, sondern, dass sie sich vorher vielleicht ausruhen konnte.
Sie hatte Glück. Der Lehrer führte sie zu einem Empfangstresen, wo Hermen ungeduldig auf sie wartete.
“Da bist du ja endlich. Die will wissen, ob auch du mit mir in ein Zimmer willst.”, sagte er rasch. “Das willst du doch oder?”
“Klar!”, rief Merlin. Er ging zum Empfangstresen und unterhielt sich mit der Person dahinter. Über Zimmer hatte Myrie sich noch gar keine Gedanken gemacht. Sie stellte sich vor, wie sie mit anderen in ein Zimmer eingepfercht eine Woche überstehen sollte. Selbst, wenn es Merlin wäre, den sie bisher mochte, so fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, er würde die ganze Zeit über an ihrer Seite sein. Das war einfach zu viel. Selbst bei ihrer Familie war sie froh ein eigenes Zimmer zu haben. Selbst dort brauchte sie ab und zu Rückzug von allem. Und manchmal war ihr selbst das zu eng, und sie floh ins Gebirge. Das durfte sie hier nicht. Sie durfte ja nicht hinter den Zaun ohne Erlaubnis. Wieder stieg die Panik in ihr auf, und sie versuchte wenig erfolgreich, sie zu bekämpfen und zu unterdrücken, und so merkte sie erst, nachdem sie zwei Mal freundlich angesprochen worden war, dass sie an der Reihe war.
Sie trat an den Tresen, der sich auf Myries Größe anpassend nach unten fuhr, einschließlich der Frau, die dahinter saß. Sie hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt und schien nicht böse, dass Myrie sie so lange hatte warten lassen. All diese Freundlichkeit überraschte Myrie. Aber ihr fiel dann auch wieder ein, dass es bei Erwachsenen oft länger brauchte, bis sie genervt waren, und dass sie ansonsten nur Merlin kennen gelernt hatte, der nicht genervt von ihr war.
“Magst du mir deinen Namen verraten?”, bat die Frau.
Sie war ein Mensch, erkannte Myrie, und sie wirkte sehr weich. Sie hatte ein rundes Gesicht mit weichen Wangen und feines Haar, das in einem unnatürlich grellen Rot in runden, großen Locken auf ihre Schultern fiel. Sie waren gefärbt, mutmaßte Myrie. Sie hatte außerdem einen weichen, großen Busen und ebenso weich wirkende, mächtige Oberarme. Nur ihre Unterarme und Finger wirkten eher sehr kräftig als weich.
“Stimmt irgendwas mit mir nicht?”, fragte die Frau etwas argwöhnisch und betastete ihre Frisur.
“Weiß ich nicht. Sollte ich so etwas irgendwodran erkennen können?”, fragte Myrie verwirrt. Diese Frage wiederum schien die Frau zu verwirren, die ihre Hand wieder sinken ließ.
“Wie dem auch sei.”, sagte sie schließlich, und schüttelte den Kopf und damit die Verwirrtheit von sich ab. “Magst du mir deinen Namen verraten?”
“Myrie Zange. Und du?”, sagte Myrie.
Wieder schien die Frau irritiert und schüttelte es wieder von sich ab. “Ulka Brandenschmied. Frau Ulka Brandenschmied.”, antwortete sie. Sie sah kurz auf einen Bildschirm vor sich und nickte.
“Wir haben Vierer-, Sechser-, Achter- und Zehnerzimmer. Was bevorzugst du, und hast du spezielle Wünsche, mit wem du in ein Zimmer möchtest?”, fragte sie nun. Es war ein Tonfall, der zugleich freundlich und geschäftlich war.
“Gibt es auch Einzelzimmer?”, fragte Myrie, doch mit wenig Hoffnung.
Ulka Brandenschmied schaute erneut kurz auf ihren Bildschirm, der sich durch Myries Fragen zu updaten schien und erwiderte bedauernd:
“Es gibt für einige unserer Lernenden Einzelzimmer, aber leider bieten die Räumlichkeiten nicht die Kapazitäten, jeder Person ein Einzelzimmer zur Verfügung zu stellen. Die Einzelzimmer sind dieses Halbjahr leider schon alle belegt von Lernenden mit Besonderheiten, die auf solche angewiesen sind. Das tut mir leid.”
Myrie seufzte leise.
“Dann wohl in ein Viererzimmer.”, sagte sie.
“Und hast du spezielle Wünsche, mit wem? Oder kennst du bisher noch niemanden?”, fragte die Frau weiter.
Ihre Stimme war weich und sie versuchte wohl tröstend zu klingen, was ihr nicht ganz gelang. Dazu war sie noch viel zu sehr mit sich selbst und der Organisation beschäftigt, die sie hier tat. Myrie wunderte sich überhaupt, warum hier keine KI saß, die das genauso gut hätte machen können. Die Frau hatte bisher nichts getan, als Fragen gestellt. Den Rest hatte ja bereits eine KI übernommen.
“Hmm?”, sagte die Frau, damit Myries Aufmerksamkeit nicht schon wieder anderswohin abschweifte.
Myrie sah sich zu Merlin um, der auf sie wartete. Hatte er etwas dagegen, wenn sie mit ihm in einem Zimmer war? Myrie fühlte sich unsicher das zu entscheiden, aber Merlin zeigte mit dem Daumen nach oben.
“Scheint ein netter Mensch zu sein, dieser Merlin. Und er meinte auch, er würde mit dir in ein Zimmer mögen.”, sagte Ulka Brandenschmied und schloss so das Verfahren ab.
Sie bat Myrie um Erlaubnis, ihr oder ihrer Hauptlern-KI die Schlüssel für ihr Zimmer schicken zu dürfen, und Omantra klärte den Rest, ohne dass Myrie davon viel mitbekam. Sie würde mit Merlin und Hermen und einer noch unbekannten Person ein Zimmer in einem Erdgeschosstrakt teilen. Ulka Brandenschmied teilte Myrie noch einen Termin am selben Abend mit, an dem sie sich mit einigen anderen, mit denen sie zusammen lernen würde, und einer Lehrerin treffen sollte. Das Treffen sei natürlich nicht verpflichtend. Einige kamen ja erst morgen nach. Aber sie würde es Myrie sehr ans Herz legen. Ihnen würden einige organisatorische Dinge mitgeteilt und sie könnten sich so schon einmal außerhalb einer Unterrichtseinheit kennen lernen.
Myries Aufnahmefähigkeit war inzwischen sehr beschränkt und sie fragte sich, ob sie sich bis dahin erholt hätte. Solange würde sie mit Hermen und Merlin auf ihr Zimmer gehen. Hermen und Merlin würden dann wohl ihr Gepäck auspacken, während Myrie sich auf ihrem Bett ausruhen würde. Hermen wirkte etwas orientierungslos, doch auch Merlin schien sich, ähnlich wie Myrie, den Plan der Schule verinnerlicht zu haben.
Obwohl sie über das Erdgeschoss hereingekommen waren und auch ihr Zimmer im Erdgeschoss lag, mussten sie auf dem Weg dorthin eine Treppe herabsteigen. Eine Treppe mit einem längeren, geraden Abschnitt gefolgt von einer Stufe auf der einen Seite, und zwei kleinere Stufen für kleinere Personen auf der anderen. Ein Geländer grenzte sie von einer flachen Rampe ab.
Das Schulgelände war eben recht uneben.
Schließlich bogen sie in den richtigen Korridor ein, auf dessen beider Seiten Türen in die Zimmer führten. Auf den Gängen liefen vereinzelt andere Lernende herum, um ihren benachbarten Zimmern Besuche abzustatten, aber es war doch vergleichsweise ruhig. Die Zimmer schlossen wohl recht schalldicht ab. Das war doch immerhin etwas. Als sie ihre Tür erreichten, sprang diese einladend auf. Hermen und Merlin gingen zuerst hinein und Myrie folgte. Als erstes sah sie das Fenster, das groß und hoch an der gegenüberliegenden Wand aufragte und einen Blick auf die weite Wiese preisgab. Dann sah sie, dass Hermens und Merlins Gepäck bereits da war. Und dann erkannte sie, dass keine Betten in dem Zimmer waren, und das überraschte sie dann doch. Stattdessen schwebten schlichte weiße Bettbezüge in der Luft an vier Stellen, Umrisse von Matratzen nachzeichnend. Myrie ging zu der links neben dem Fenster und schaute hinaus. Von dieser Matratze, die vielleicht gar keine war, konnte sie gut hinausschauen.
“Die Matratzen sind durch ein EM-Feld erzeugt. Die Bettbezüge wiederum funktionieren wie EM-Anzüge. Sie umschließen die virtuellen Matratzen und infolge dessen können sie auch von Leuten ohne EM-Anzug berührt werden. Sie erzeugen das Gegenfeld, sodass die Matratzen jeweils Größe, Form und Weichheitsgrad nach Wunsch annehmen können.”, erklärte Omantra in ihrem Ohr.
Die KI hatte sich die ganze Zeit nicht gemeldet und nun beantwortete sie Myries Frage genau zur passenden Zeit. Wie gut sie Myrie doch kannte. Wie es sich eben für eine gute Lern-KI gehörte.
Myrie legte sich auf die Matratze, die auch so schon eine ganz gute Form und Größe hatte. An sich war sie unnötig groß, das würde Myrie wohl verändern im Laufe der Zeit, aber gerade wagte sie nicht zu sprechen. Hermen und Merlin diskutierten irgendetwas und waren so herrlich wenig aufmerksam auf sie.
Sie fragte sich auch, wie das mit Decken und Kopfkissen war. Sie konnte zwar auch ohne, doch mit war um so viel gemütlicher. Für den Augenblick ging es aber auch so. Myrie kringelte sich in Embryohaltung und sah aus dem Fenster.
Merlin weckte sie aus tiefstem Schlaf. Es war stockfinster draußen und das Licht im Zimmer strahlte zu grell in ihre Augen. Sie hatte doch eigentlich gar nicht einschlafen wollen. Aber sie hatte einfach die Kontrolle darüber verloren. Es war soweit der anstrengendste Tag ihres Lebens gewesen, befand Myrie. Sie richtete sich mühsam auf, gegen den sehnlichen Wunsch ankämpfend, einfach direkt weiterzuschlafen. Es hatte sich so wundervoll angefühlt.
“War das Treffen schon?”, nuschelte sie, beinahe hoffnungsvoll, wie sie feststellte.
“Nein, das fängt gleich an.”, sagte Merlin. “Sonst hätte ich dich nicht geweckt.”
Myrie stieg aus dem Bett. Inzwischen lag Bettwäsche auf einem Stuhl neben dem Eingang. Hermen gab ein grummeliges Geräusch von sich.
“Hatte eigentlich nicht vor, ein Zimmer mit so einem Baby zu teilen, um das man sich kümmern muss.”, nörgelte er.
Sie verließen das Zimmer. Myrie ließ sich nichts anmerken, aber innerlich griff sie Hermens Kommentar sehr an. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie eingeschlafen war. Und gleichzeitig fand sie Hermens ganze Art bisher abscheulich. Sie hätte sich nie über eine Person beschwert, die nach so einem anstrengenden Tag aus Versehen eingeschlafen wäre.
Sie ließ sich vor allem deshalb nichts anmerken, weil ihr dazu nichts anzumerken einfiel. Und auch das ärgerte sie. Sie lief ein Stück hinter den anderen beiden her die Gänge entlang. Als sie die Treppe erklommen, konnte Merlin ein Aufstöhnen nicht vollständig unterdrücken. Er war die ganze Zeit schon etwas steif gewesen. Muskelkater, wie sie befürchtet hatte.
“Wenn du möchtest, dann trage ich dich.”, bot sie an.
Der Vorschlag brachte ihr einen verwirrten Blick von Merlin ein, und Hermen tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Darauf wiederum warf Merlin Hermen einen kalten, sehr strengen Blick zu. Dann wandte er sich Myrie zu und wirkte von einem Moment auf den anderen wieder lustig und freundlich.
“Danke für das Angebot, aber ich denke ich probiere es selbst noch ein bisschen, sonst roste ich vielleicht noch ganz ein.”, lehnte Merlin ab, “Aber sollte ich mich irgendwann gar nicht mehr bewegen, darfst du mich gern in eine Werkstatt tragen, damit man mich dort ölen kann.”
Hermen grinste. Myrie brauchte eine Weile, bis sie begriff, wie das gemeint war, dann kicherte auch sie in sich hinein.
“Wer hätte gedacht, dass du ein Spätzünder bist.”, kommentierte Hermen.
Das Übliche, dachte Myrie. Diese Art Behandlung kannte sie so gut. Man könnte meinen, dass sie sich mal daran gewöhnen würde, aber es tat weh. Es brannte in ihr, in ihrem Hals. Ihr wurde leicht flau und sie brachte kein Wort heraus, bis sie oben waren.
Sie betraten einen Klassenraum im ersten Stock. Es standen schon einige andere Kinder im Raum verteilt, einige scheu, andere sich unterhaltend wie Merlin und Hermen, und eine Frau mit weißblonden Haaren ging zwischen ihnen hindurch, um sie einzeln zu begrüßen. Eines der Kinder stand etwas abseits und zog Myries Blick auf sich. Sie war wunderschön. Myrie stockte kurz der Atem. Sie war die schönste Person, die sie je gesehen hatte, überlegte Myrie. Sie war etwas mehr als einen Kopf größer als Myrie und hatte sehr dunkle, braune, glatte Haut. Die Augen waren ebenfalls sehr dunkel, vielleicht sogar schwarz, und selbst der hellere Glaskörper ihrer Augen war nicht weiß, sondern hellbraun. Ihr Gesicht war schmal und hatte keinerlei scharfe Kanten. Die Nase war schön, fand Myrie. Aber das wohl beeindruckendste an der feingliedrigen Person waren die Haare. Sie fielen in feinen Locken über ihre Schultern, an denen sie auseinandergefächert wurden, und ihr bis zum Hintern hinabfielen.
“Hey!”, rief jemand in ihrer Nähe.
Ob sie gemeint war? Wenn ja, würde sie wohl etwas warten müssen. Der Anblick dieser Haare hielt ihren Blick zu sehr gefangen um zu reagieren. Ein spitzes Ohr lugte aus dem Haar heraus. Das andere konnte sie nicht sehen, weil das Kind leicht gedreht zu ihr stand. Sie setzte sich in Bewegung, um um die Person herumzugehen.
“Hey!”, rief der jemand von eben, nun energischer und verärgert.
Myrie war sich nun etwas sicherer, dass sie gemeint war, aber diese Erkenntnis machte sich nur sehr weit hinten in ihrem Kopf breit. Ihr Bewusstsein war vollkommen davon eingenommen, wie sich das Haar der Person bewegte, als sie sich zu Myrie umdrehte und nun zurückstarrte. Das wunderschöne Gesicht wirkte nicht völlig entspannt, überlegte Myrie.
Eine kräftige Hand auf ihrer Schulter holte Myrie in die Gegenwart zurück. Jemand fasste sie ungefragt an, das war schlecht. Ohne zu denken, riss sie sich los, drehte sich um und boxte der Person, die sie angefasst hatte, ins Gesicht. Es war die weißblonde Frau, die schmerzerfüllt aufschrie, und nun entsetzt wirkte, aber schwieg. Einen Augenblick war die Situation wie gefroren, dann rann ihr allmählich Blut aus der Nase. Myrie sah nicht minder entsetzt zurück und spürte gleichzeitig, wie alle Blicke auf ihr ruhten. Was hatte sie getan? Sie zitterte nun am ganzen Körper, eine Welle von Abscheu gegen sich selbst durchflutete sie. Wie konnte das geschehen sein. Sie hatte jemanden geschlagen. Ihr war es ab und an passiert, dass sie sich vielleicht etwas ruppig aus Griffen von Leuten gewunden hatte, die nicht wussten, dass sie nicht angefasst werden durfte, wenn sie nicht ausdrücklich dafür bereit war. Aber sie hatte nie geschlagen. Und nun hatte sie das getan, noch dazu eine Lehrkraft. Myrie atmete hastig und ihr wurde schwindelig dadurch. Sie musste rennen. Und das tat sie dann auch. Sie rannte aus dem Klassenzimmer, durch eine Schiebetür, zunächst außer Sichtweite. Aber hier waren die Türen und Wände alle viel zu dicht und verwinkelt um effektiv schnell zu rennen. Sie rannte auf ein Fenster zu.
“Geht auf!”, rief sie den Fensterflügeln flehend zu.
Und die Fenster gehorchten. Myrie schwang sich über den Fenstersims, und außen daran hängend befahl sie den Fenstern sich wieder zu schließen. Auch das taten sie. Myrie warf einen Blick nach unten. In annehmbarer Distanz war die Oberkante des Fensters unter ihr, ein Erdgeschossfenster. Und noch ein gutes Stück darunter war die Rasenfläche, auf der das Schulgebäude stand. Myrie ließ sich fallen, bis ihre Fußballen auf die schmale Fenstereinfassung unter ihr trafen. Weich federte sie sich ab, machte eine halbe Schraube und ein halbes Salto rückwärts, sodass sie auf der Rasenfläche über ihre linke Schulter vom Schulgebäude weg abrollen konnte. Der Boden hatte die perfekte Konsistenz für dieses Manöver. Sie nutzte den Schwung des Falls und rannte fort, so schnell sie konnte, und der Schwindel ließ nach. Ihre Gedanken aber waren immer noch ein Gewusel und Geflecht aus Selbstvorwürfen und Gefühlen und Gedanken, die sie nicht überblicken konnte, und die sie unkontrolliert überfluteten.
Zwar standen auf dem Grundstück hin und wieder Hindernisse, jedoch so wenig dicht, dass sie sich ohne Mühen ihren Weg zwischen ihnen hindurch bahnen konnte. Und viel zu schnell kam das Gitter. Myrie war durchaus bewusst, dass ihr große Probleme bevorstanden, wenn sie es ignorierte, von Gefahren im Gelände dahinter bis hin zu Verwarnungen oder Verweisen von der Schule. Aber es war gerade nicht ihr dringendstes Problem. Ihr Gefühlszustand war einfach so unerträglich, dass sie alles andere ignorierte. Ihre Zehen zwischen den Längsstreben auf die Querstreben setzend war sie in zwei Sätzen über die Abgrenzung und davon.
Eine kurze Weile war der Boden gleichbleibend, wie das Schulgelände, das nun auf der anderen Seite des Gitters lag. Dann aber führte ein mächtiges, Myrie überragendes Brennnessel- und Rankenmeer in einen Wald hinein. Einige der Ranken schlangen sich so heftig um Myries Fußgelenke, dass es sie beinahe niederriss. Aber stattdessen gewann Myrie und entwurzelte die Gewächse dabei. Als sie unter dem Blätterdach der Bäume angelangt war, änderte sich beinahe schlagartig der Bewuchs. Moos bedeckte den Boden und hohe, helle Stiele in der Farbe von Getreide, die leicht unter Myries Füßen wegknickten. Morsches Gehölz und dünne Äste lagen verstreut und die ein oder andere lilafarbene Blume wuchs im Wurzelwerk der riesenhaften Bäume. Myrie konnte ohne große Mühen eine ganze Weile lang in den Wald hineinrennen, ohne dass ihr der Wald Widerstand leistete. Dann aber, Myrie wusste nicht, wie lange sie schon gerannt war, wurde er doch dichter. Ganze umgefallene Bäume versperrten ihr den Weg, zwischen deren Ästen sie sich hindurchschwang. Auf der einen Seite freute sie sich, dass nun auch ihre Arme belastet wurden, auf der anderen Seite musste sie sich Gedanken machen, wie sie die Hindernisse am besten bewältigte und das strengte sie an. Sie wollte am liebsten gar nicht denken. Und es störte sie auch, dass sie nun langsamer vorankam.
Aber vielleicht hatte es auch ein Gutes. Vielleicht hätte sie sonst nie aufgehört zu rennen. Vielleicht wäre ihr, als sie den Bach kreuzte, nicht der Gedanke gekommen, dass sie doch heftigen Durst verspürte. Sie nahm es gerade so wahr. Also hielt sie an und trank aus dem kleinen Bach, in der Hoffnung, dass das nicht ungesund war. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie sich zum ersten Mal genauer um. Die Bäume schienen uralt, fand sie. Und sie rochen wundervoll. Es war recht feucht und frisch in diesem Wald. Es war ja auch inzwischen Nacht. Aber Myrie fiel ein, dass der Wald, der die Schule begrenzte, Dämmerwald hieß und irgendwo in den Finsterwald überging. Und die Wälder hatten die Namen nicht ohne Grund. Im Finsterwald waren die Bäume so hoch und so dicht, dass selbst bei Tag kaum Licht auf den Boden drang. Myrie wusste nicht, ob sie sich noch im Dämmerwald oder schon im Finsterwald befand. Sie hoffte inständig ersteres. Der Finsterwald war berüchtigt für einige sehr gefährliche Tiere. Myrie überlegte kurz, ob sie zurückgehen sollte, um der Gefahr dieses Waldes zu entgehen, doch sie entschied sich vorläufig dagegen. Vielleicht war es unvernünftig, das wusste sie. Aber sie wollte gerade beim besten Willen nicht zurück.
In der Richtung, aus der sie gekommen war, sah sie vereinzelt Spuren ihrer Füße. Wenn ihr Personen folgten, die gut darin waren auf Details zu achten, würden sie sie mühelos finden. Der Gedanke gefiel Myrie nicht. Auf der anderen Seite war natürlich gut, dass sie so mühelos zurückfinden könnte, wenn sie wollte. Sie watete ein wenig durch den Bach und sah sich nach einem guten Baum für einen Schlafplatz um, während sie sich fragte, ob sie Omantra aus dem Suspend wecken sollte. Vielleicht konnte Omantra ihr einiges über die Gefahren sagen, die hier lauerten und wie sie sich schützen konnte. Oder ihr anderweitig einen guten Rat geben. Aber sie entschied sich auch dagegen. Es würde hier, selbst wenn es noch der Dämmerwald war, tagsüber vielleicht nicht genügend Licht geben, um Omantra aufzuladen. Sie würde sich den Strom gut einteilen müssen. Sie wusste noch nicht, wie lange sie sich hier im Wald zurückziehen würde.
Nachdem sie eine Weile durch den Bach gewatet war, sich umsah und zuversichtlich war, dass man ihren jüngsten Ortswechsel nicht so gut nachvollziehen konnte, suchte sie sich einen Baum aus. Er hatte keinerlei Äste bis zur Hauptverzweigungsstelle etwa zwei Meter über ihr. Dort brach der Hauptstamm in fünf ähnlich dicke Äste zur Seite hin auf, die an der Stelle eine gemütlich wirkende Mulde bildeten. Myrie klaubte sich einige leicht morsche Rinden vom Boden auf, die mit Moos bewachsen waren und verfrachtete mit Hilfe ihres Seils sich und das Gesammelte hinauf in die Astgabelung. Dort verteilte sie die Rinde, sodass es ein gut getarntes Versteck ergab. Myrie betrachtete es noch einmal von unten, dann kletterte sie endgültig hinauf, plusterte den Schlafsack auf, verkrümelte sich da hinein und deckte sich auch von oben mit Moos zu. Eine Eule schuhute über ihr. Wenn es nur weiter nichts war als eine Eule. Aber Myrie fühlte sich einigermaßen gut getarnt. Nun überwältigte sie die Müdigkeit außerdem abermals und hielt sie davon ab, sich weitere Gedanken über eventuelle Gefahren zu machen. Hier war es schön, dachte Myrie noch, bevor sie, den Geruch des Mooses in der Nase, einschlief.
Nur wenige Stunden später wachte sie von einem surrenden Geräusch auf. Ein riesiges Insekt, dachte sie zuerst. Das Geräusch kam näher und Myrie merkte, wie ihr das Blut vor Schreck in den Kopf schoss. Vage Vorstellungen davon, wie es sie stechen könnte, und sie an dem Gift sterben könnte, huschten ihr durchs Bewusstsein. Sie rührte sich nicht, gab kein Geräusch von sich abgesehen vom Atmen, das sie nicht vermeiden konnte. Das Surren entfernte sich wieder. Es schien auf- und abzufliegen. Allmählich überlegte sie, dass das Verhalten des Tonträgers nicht das typische Geräuschverhalten von Insekten aufwies. Es sirrte in einem gleichmäßigen Ton, ohne je hektisch zu klingen, viel zu emotionslos für ein Insekt, einfach auf und ab und machte dem Klang nach zu urteilen bloß ab und zu einen Schlenker um einem Baum auszuweichen.
Myrie hörte außerdem in einiger Entfernung ein Knacken von Zweigen und ein Rascheln. Natürlich raschelte der Wald permanent. Wind bewegte das Laub, und auch eine Reihe von eher kleineren Tieren schien unterwegs zu sein. Als sie sich eingerichtet hatte, hatte sie zum Beispiel ein aufgeschrecktes Kaninchen gesehen. Aber dieses Knacken schien von etwas Größerem herzurühren, was sich nicht allzu schnell einen Weg durch den Wald bahnte. Und nun hörte Myrie auch Stimmen. Zunächst konnte sie nicht verstehen, was sie sagten. Sie verstand nur einzelne Wörter, darunter Flüche. Sie vermutete, dass es sich um zwei Personen handelte, aber es konnten auch drei sein. Sie lauschte gebannt und schließlich konnte sie mehr ausmachen.
“Vielleicht hast du recht.”, war der erste Satz, den sie ganz verstand.
Die Stimme erkannte sie als die des Mannes, der sie die Treppen hinauf begleitet hatte. Der war ihr sympathisch vorgekommen. Das Sirren wurde wieder lauter. Sie fragte sich, ob sie die Leute warnen sollte. Doch es wäre eh zu spät. Nun entfernte sich das Sirren wieder und steuerte direkt auf die Personen zu.
“Ich hasse diesen Wald!”, fluchte eine andere Stimme und durchbrach die Gesprächspause, die bis gerade eingetreten war.
Diese erkannte sie als die der Person, die sie vorhin geschlagen hatte. Die Überlegungen, die in ihr gerade Gestalt angenommen hatten, dass sie sich dem Mann offenbaren könnte, fielen nun wieder in sich zusammen. Eine neue Welle von Scham durchflutete sie.
“Neulich sagtest du noch, du fändest ihn wunderschön.”, sagte nun der Mann, und Myrie konnte am Tonfall erkennen, dass er schmunzelte.
“Ja, schon.”, entgegnete die Frau hastig. “Das vergesse ich so leicht, wenn ich nachts da durchspazieren muss, und die Muhme nicht erreichbar ist.”
“Die gute Muhme.”, antwortete der andere seufzend. Wieder hörte Myrie eine Weile nur das näherkommende Knacksen und das auf und ab des Surrens. Sie fühlte sich sehr unbehaglich bei dem Gedanken, dass sie näher kamen.
“Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich kann nicht oft genug anmerken, dass die Muhme sich wirklich einen unpraktischen Zeitpunkt ausgewählt hat, um einen ihrer Ausflüge zu machen.”, sagte die Frau traurig.
“Oder das Kind zum Verschwinden. Aber du hast sicher recht. Sie hätte es sicher rasch gefunden.”, erwiderte der Lehrer.
Sie hielten inne und eine kurze Zeit war das Surren und das Rascheln der Bäume im Wind das einzige, was sie hörte. Hatten sie sie entdeckt und hielten deshalb an, fragte sie sich mit Unbehagen. Aber sie waren dafür eigentlich noch viel zu weit weg.
“Meinst du, hier kann sie lang sein? Diese Kletterpartien sind doch ganz schön riskant für so ein Kind.”, überlegte die Frau.
Myrie erinnerte sich, dass ein besonders verzweigter, dicker, umgestürzter Baum etwa dort lag, wo sie jetzt waren, der außerdem moosbewachsen und glitschig war.
“Sie könnte auch außen herum gegangen sein, aber ich erinnere daran: Sie ist allem Anschein nach aus dem ersten Stock gesprungen, ohne merklichen Schaden davon zu tragen.”, erwiderte der Lehrer.
Nun konnte Myrie andere Geräusche hören. Das Knarzen einiger Äste und das Schnaufen der Lehrkräfte, während sie wohl den umgefallenen Baum überwanden.
“Ein Wunder. Aber auch wenn die Zeichen das andeuten, muss es nicht so gewesen sein. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.”, erwiderte die Frau.
“Du meinst, sie könnte die Fenster sich öffnen und schließen lassen und sich dann für einen anderen Weg entschieden haben?”, fragte der Mann.
“Genau.”
“Hmm, und das plattgedrückte Gras unter den Fenstern?”
“Es könnte schon längere Zeit platt gedrückt gewesen sein, von einer Person, die mittags da beim Essen gesessen hat.”, überlegte die Frau.
“Hmm, ja, könnte sein.”
Sie machten wieder eine Gesprächspause, und nach einiger Zeit hörte Myrie wieder das Knacksen. Sie hatten den Baum wohl überwunden und würden nun bald bei ihr sein. Myrie bemühte sich entspannt und ruhig zu atmen, dass sie es gleich sehr leise hinbekommen würde.
“Ich hoffe nur, ihr ist nichts passiert und wir finden sie.”, seufzte die Frau.
Das überraschte Myrie dann doch. Die Frau, die sie geschlagen hatte, hoffte, dass man sie fände? Ging es vielleicht doch nicht um sie?
“Bestimmt.”, ermutigte sie der Lehrer.
“Es gab da ja mal einen Fall, in dem es nicht geklappt hat. Vor meiner Zeit irgendwann. Da ist wohl ein Kind weggerannt und wurde nie wieder gesehen.” Die Stimme der Frau war leiser gewesen als zuvor, und sehr besorgt.
“Hmm. Ich erinnere mich. Ich hatte gerade angefangen.”, überlegte der Lehrer langsam.
Sie waren erneut stehen geblieben. Das Surren veränderte sich abrupt. Es sirrte plötzlich viel höher, die Bewegung war rascher, direkt auf die beiden Lehrkräfte zu, und verstummte.
“Ich…”, sagte die Lehrerin, aber unterbrach sich selbst und verstummte ebenfalls.
Hatten sie Myrie gehört? Myrie wagte kaum zu atmen. Die Entfernung war nun gering genug, dass es realistisch war. Würde sie gleich gefunden werden? Myrie war sich nicht völlig sicher, ob das etwas Schlechtes wäre, aber sie wollte nicht. Sie war nicht vorbereitet darauf. Sie verhielt sich vollkommen ruhig.
“Heddra.”, sagte der Lehrer.
Myrie hätte beinahe laut eingeatmet. Redete er von ihrer Mutter?
“Ich habe mich, als ich sie kennen lernte, gefragt, an wen sie mich erinnert. Du hast mich darauf gebracht, danke. Sie hat gewisse charakterliche Ähnlichkeiten mit der Schülerin, die damals spurlos verschwand.”, fuhr er fort.
Das Sirren startete erneut. Und plötzlich wusste Myrie, was es war. Es war eine Drohne, die er steuerte, und die sie suchen sollte. Sie lag glücklicherweise unter einem Haufen Moos, dachte sie. Aber dennoch war sie nicht sicher, ob das von oben natürlich wirken würde.
“Du machst mir jetzt nicht gerade Mut.”, sagte die Frau unglücklich.
“Nein, sieh das so!”, erwiderte der Lehrer und wirkte dabei eigentlich zuversichtlich, fand Myrie. “Zum einen, selbst wenn sie sich ähnlich sind, so sind sie doch nicht gleich. Heddra ist damals nach einem halben Jahr verschwunden, als ihr der Mut verloren ging. Myrie hingegen wirkt zwar nicht ganz einfach, aber vorhin noch ziemlich mutig. Und zum anderen, habe ich die vage Hoffnung, dass Heddra ihre Mutter sein könnte. Das hieße, dass Heddra damals überlebt hätte.”
“Weißt du noch, wie Heddra weiter hieß?”, fragte die Frau. Sie klang nun nicht mehr ganz so unglücklich.
“Nein. Jedenfalls nicht Zange allerdings.”, antwortete der Mann.
Die Stimmen entfernten sich allmählich wieder und Myrie beruhigte sich innerlich, als hätte sie erleichtert aufgeatment. Natürlich schob sie es noch auf, dies wirklich zu tun.
“Was ich vorhin sagen wollte, ich bewundere, wie lässig du diese Minidrohne steuerst. Diese Präzision! Ich wäre bestimmt schon gegen mehrere Bäume geflogen damit.”, sagte die Frau bewundernd.
“Wärst du nicht. Ich kenne dich und dein Geschick. Du hast das lediglich noch nicht lang geübt und bist heute durch den Wind.”
“Du bist immer so aufbauend.”, sagte sie.
Sie wirkte nicht völlig überzeugt, aber doch zuversichtlicher, als zwischendurch. Myrie fürchtete sie auf der einen Seite, fürchtete sich vor der Reaktion, wenn sie wieder aufeinandertreffen würden, fragte sich, ob sie es nicht ganz vermeiden sollte. Auf der anderen Seite tat sie ihr auch leid. Dabei konnte sie nicht einmal wirklich nachvollziehen, warum sie so unglücklich war. War es wirklich ihretwegen? War es vielleicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hätte, wenn Myrie etwas passierte? Vielleicht fühlte sie sich ja verantwortlich. Vielleicht würde sie sogar von anderen verantwortlich gemacht. Etwa von ihrem Papa.
Es war das erste Mal, dass sie wirklich an ihren Papa dachte, seit sie in den Zug gestiegen war. Würden sie ihn informieren? Dann würde er sich fürchterliche Sorgen machen. Sie überlegte plötzlich, den beiden Lehrkräften nun doch hinterherzulaufen. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie dann sicher direkt Ärger bekommen würde, weil sie die Frau geschlagen hatte. Und während sie darüber nachdachte, hektisch und doch wenig effektiv, war das Knacksen verstummt. Auch das Sirren war verschwunden und Stimmen hörte sie schon lange nicht mehr. Sie war allein. Allein und sehr müde. Ihr Kopf war unsortiert und es brauchte dieses Mal lange bis sie einschlief. Sie war nicht einmal sicher, ob sie das wirklich wollte. Und auch war ihr Geist müder als ihr Körper. Doch irgendwann schlief sie doch ein. Vielleicht war es schon im Morgengrauen, das konnte man nicht so gut erkennen in diesem Wald.